Wir alle spüren das exponentielle Wachstum der Veränderungsgeschwindigkeit. Was erwartet uns bereits kurzfristig im Marketing. Drei Entwicklungen stechen hervor.
Unser Dialog mit Kundinnen und Kunden wird sich in den nächsten 12 Monaten drastisch verändern. Unternehmens Chatbots werden einen Quantensprung machen. Die Entscheidungsbäume sind Geschichte, die AI Agents übernehmen. Jeder Anrufende wird den Eindruck haben, dass er mit einem guten Bekannten spricht. Wer seine Airline anruft, wird nicht mehr 20 Minuten warten, sondern sofort mit seinem persönlichen Berater verbunden, mit seinem Namen und vielleicht gleich einer Frage begrüsst «Sie wollten ja beim letzten Gespräch die Kosten für ein Upgrade wissen. Haben Sie sich schon entschieden?» – Wir kommen zu einer echten one-to-one Beziehung. Einer Million Kundeinnen und Kunden werden eine Million virtuelle Mitarbeitende gegenüberstehen. Und wenn es kompliziert wird, übergeben sie an einen realen Menschen.
Der Gastautor
Dominique von Matt ist ein Schweizer Unternehmer und Marketingexperte. Er ist Mitgründer der Werbeagentur Jung von Matt und doziert an der Universität St- Gallen und war Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Marketing (gfm). Heute ist er Inhaber der Beratungsfirma von Matt/second opinion.
Auch die Chatbots in der Bürgerinnen- und Bürger Kommunikation kommen sprichwörtlich auf ein next level: Edi Rama, der Präsident von Albanien hat einen Chatbot – mit Namen Diella - zum Teil seines 17-köpfigen Regierungs-Kabinetts gemacht – und symbolisch vereidigt. Diella ist die erste Ministerin, die vollständig auf künstlicher Intelligenz basiert. Sie soll Transparenz ins Beschaffungswesen bringen und helfen Korruption aufzudecken. Ihr Vorteil ist die absolute Neutralität: Sie hat weder Familie noch Freunde noch monetäre Interessen.
Direkter menschlicher Kontakt als Luxusgut
Mit dem Erfolg der Chatbots wird der direkte menschliche Kontakt zum begehrten Luxusgut, das sich auch monetarisieren lässt. Früher haben uns die Repräsentanten von Unternehmen ihre Zeit geschenkt. In Zukunft müssen wir dafür bezahlen.
Nicht nur die Interaktion mit Chatbots macht einen grossen Schritt: Nestlé hat in Seoul ein neues Shopkonzept für Gesundheitsprodukte eröffnet. Sie setzen dort einen «Magic Mirror» ein, der mit Hilfe von KI den Blutfluss im Gesicht mit einem 30 Sekunden Scan analysiert und einen Bericht über Vitalität und Krankheitsrisiken abgibt. Mit Hilfe weiterer digitalen Technologien werden so Produktempfehlungen für im Laden natürlich direkt erhältlich Nahrungsergänzungsmittel abgegeben.
Gerade in diesem Kontext gewinnt ein weiteres Thema an Gewicht: Die Daten-Ethik. Wer verwendet AI ethisch für die Verbesserung des Kundennutzen und missbraucht sie nicht für die Manipulation? Wer stellt sicher, dass die Informationen vertraulich bleiben und nicht weitergegeben werden? Wer informiert transparent, was er durch AI generiert hat? Digital Trust wird zu einem wichtigen Wettbewerbsvorteil für Unternehmen.
Social Media kommt an einen Tipping Point. Auf den ersten Blick bleibt die Kraft von Social Media ungebrochen. Immerhin hat das Abschalten von Social Media in Nepal einen Aufstand der Generation Z provoziert, der mit einem Regierungswechsel endete. Gibt es einen besseren Beweis für die Bedeutung von Social Media in unserem Leben?
Minenfeld Social Media
Trotzdem tauchen plötzlich Wolken auf: Social Media ist neu zu einem Minenfeld geworden: Ein falscher Schritt kann eine Explosion auslösen. Jedes Statement kann plötzlich zu Repression führen.
Doxing wird für jeden, der sich kritisch in Social Media äussert, zum Risiko. Niemand ist mehr sicher, dass seine Statements nicht aggregiert und angereichert mit persönlichen Daten im Netz erscheinen.
Der Mord an Charlie Kirk hat klar gezeigt, dass nicht nur in China sondern auch in den USA repressive Massnahmen die Folge sein können. Nicht nur Menschen die nach kritischen Statements ihren Job verlieren, sondern auch Touristen, deren Social Media Accounts mit Software von Palantir auf kritische Statements analysiert werden und dann an der Einreise gehindert werden.
Ein weiteres Phänomen ist, dass sich plötzlich eine gewisse Social Media Fatigue abzeichnet. Die Nutzungszeit von Youtube, Instagramm, Whatsapp und TikTok hat im deutschsprachigen Raum 2024 erstmals abgenommen. Um 2,1 Stunden auf 18,7 Stunden pro Woche. Die Zahl der Nutzenden ging von 84 Prozent auf 80 Prozent zurück.
Die Einstellung zu Social Media ist gerade bei Jugendlichen immer mehr ambivalent. Daraus resultiert immer häufiger eine bewusste Reduktion der Nutzung. Zudem wird diese bei Jugendlichen immer mehr eingeschränkt. In Australien werden mehrere Social Media-Plattformen für unter 16-Jährige ab Dezember verboten.
Die Welt schmilzt und brennt
Wir werden die Geopolitik im Marketing immer intensiver verfolgen müssen. Sie hat nicht nur einen Impact auf alle Wirtschaftszweige, sondern auch massiv auf die Einstellungen und das Verhalten der Konsumentinnen und Konsumenten. Das Mindset unserer Zielgruppen verändert sich. Die Welt schmilzt und brennt. Seit der Pandemie leben wir in einer Ära, in der das Undenkbare zur Normalität wird. In der Schweiz geht die CS zu Grunde und international erleben wir einen beispiellosen Zollkrieg. Von den aktuellen geopolitischen Verwerfungen ganz zu schweigen.
Die Demokratie ist unter Druck, der Populismus gewinnt an Fahrt. Welche Allianzen zählen heute noch? Das Einzige, was sicher ist, dass De Gaule mit seinem Zitat recht hatte. «Nationen haben keine Freunde, nur Interessen.» Das führt auch dazu, dass wir nicht nur eine Deglobalisierung in den Lieferketten erleben, sondern auch eine Deglobalisierung in den Köpfen der Menschen. Im besten Fall ein Revival der Heimatliebe im schlechtesten ein Aufkeimen des Nationalismus.
Ein Resultat all dieser Veränderung: Die Verunsicherung in der Bevölkerung ist riesig und führt zu einer Rückkehr zum Vertrauten und zum Aufblühen der Nostalgie.
Noch nie war es so wichtig die Übersicht zu behalten, einzuordnen und Orientierung zu schaffen. Simon Evenett, Professor für Geopolitik am IMD bringt die aktuelle Situation auf den Punkt: «The real challenge lies in filtering out which parts of the chaos can be ignored – and which cannot.».

