Das Parlament in Moskau billigt ein Gesetz, das Gewalt in Familien nicht mehr als Straftat behandelt, sondern lediglich als Ordnungswidrigkeit abtut. Warum?

Eine Handvoll Menschen steht vor dem Parlamentsgebäude im Zentrum von Moskau. Bei bitterer Kälte demonstrieren sie eingemummt in Mützen und dicken Jacken gegen eine Gesetzesinitiave gegen häusliche Gewalt. Auf Plakaten prangern sie an, was am Freitagmorgen in der mächtigen Duma durchgewunken wird. «Ich bin gegen die Schläge», heisst es auf einem Schild. «Das schützt niemanden», steht auf einem anderen Plakat.

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Gewalt muss mehrmals im Jahr vorkommen

Es ist ein einsamer Kampf der Aktivisten – und sie sind machtlos. Denn eine überwältigende Mehrheit der Duma-Abgeordneten billigt in drei Lesungen ein Gesetz, das Strafen bei häuslicher Gewalt in bestimmten Fällen lockert.

Wer in Russland seine Frau, Kinder oder andere Angehörige verprügelt, wurde bislang mit Haft von bis zu zwei Jahren bestraft. Nun soll sich das ändern: Gewalt wird nicht mehr als Straftat behandelt, sondern lediglich als Ordnungswidrigkeit gewertet. Eine härtere Strafe soll nur dann verhängt werden, wenn die Schläge mehr als einmal im Jahr vorkommen, Blutergüsse sichtbar sind oder Knochen brechen. Für die Opfer wird es daher schwierig, Beweise vorzulegen. Und es dürfte schwerer werden, die Täter zu bestrafen.

Schläge als äquates Mittel zur Erziehung

Die konservative Abgeordnete und Vorsitzende des Familienausschusses, Jelena Misulina, hatte das Gesetz initiiert. Ihr Argument: Ein Gefängnisaufenthalt wegen eines simplen «Klapses« verschlechtert lediglich das Familienklima. «Das ist ein familienfeindlicher Zustand«, argumentierte sie im Parlament. Denn: Schläge seien ein adäquates Mittel zur Erziehung - und entsprächen der russischen Familientradition. «Wir wollen nicht, dass man zwei Jahre im Gefängnis sitzt, nur weil es einmal einen Klaps gegeben hat.»

Ihrer Ansicht nach hätten zum Beispiel Eltern in vielen Fällen gar keine andere Wahl als die Kinder mit Gewalt auf den richtigen Weg zu bringen. «In Russland basieren die Familienwerte auf der Autorität der Eltern», sagt Misulina. Das neue Gesetz solle diese Tradition schützen. Auch die russisch-orthodoxe Kirche unterstützt das Gesetz. Körperliche Züchtigung sei «ein wichtiges Recht, das den Eltern von Gott gegeben worden ist», liess die Kirche bereits im vergangenen Jahr verlautbaren.

Tabuthema in Russland

Über das Martyrium in der Öffentlichkeit zu sprechen, ist ein Tabu in Russland – auch wenn tagtäglich zahlreiche Frauen und Kinder unter den Misshandlungen leiden. Nach Angaben der russischen Regierung aus dem Jahr 2013 geschehen rund 40 Prozent der Körperverletzungen innerhalb der eigenen vier Wände.

Etwa 36'000 Frauen leiden in Russland jeden Tag unter den Schlägen ihrer Männer, 26'000 Kinder werden täglich von ihren Eltern misshandelt. Knapp alle 40 Minuten kommt eine Frau durch häusliche Gewalt ums Leben, insgesamt sterben deswegen pro Jahr in Russland etwa 12'000 Frauen an den Folgen der Gewalt. Viele Fälle werden nicht bekannt, denn Opfer wollen nicht darüber sprechen.

Im Sommer vergangenen Jahres hatte Misulina, die eine der treibenden Kräfte hinter dem Gesetz gegen sogenannte Homosexuellen-Propaganda war, den Vorschlag der Duma vorgelegt. Auch in der dritten Lesung wurde das Gesetz von 380 der 383 anwesenden Abgeordneten angenommen. Nun muss es nur noch vom Föderationsrat genehmigt werden. Bevor das Gesetz in Kraft tritt, muss es routinemässige von Präsident Wladimir Putin abgesegnet werden. Doch dies ist nur ein formaler Akt. Der Kreml hatte bereits angekündigt, dass er Misulinas Entwurf unterstütze.

«Bewahrt die Familie»

Die Kreml-Partei Geeintes Russland votierte einstimmig für das Projekt. Gewalt in der Familie sei ein vollkommen anderes Vergehen als Gewalt auf der Strasse und müsse daher auch anders bewertet werden, sagte der Abgeordnete Andrej Issaew. Auch Wladimir Schirinowski von der rechtspopulistischen LDPR betonte, dass das Gesetz «die Familie bewahrt, nicht auseinanderreisst».

Viele russische Beobachter finden jedoch, dass das Gesetz eindeutig zu weit geht. Nach Meinung der Moskauer Hilfsorganisation «Schwestern» würde das Gesetz die Hemmschwelle für Opfer nur noch weiter anheben, in der Öffentlichkeit über die Misshandlungen zu sprechen. «Viele Frauen akzeptieren jetzt schon die häusliche Gewalt und schweigen über ihr Schicksal. Das neue Gesetz wird das nur noch schlimmer machen», sagt die Leiterin Olga Jurkowa der regierungskritischen Zeitung «Nowaja Gaseta».

(sda/me)