Mietrecht: Warum die Neumieten sinken, wenn der Referenzzins über 2 Prozent steigt

Das Urteil des Bundesgerichts von 2020 war eigentlich gut gemeint. Es wollte die bisherige Mietrechtspraxis korrigieren, weil sie aus ökonomischer Sicht kaum noch Sinn machte. Diese Praxis führte zu Mietzinsen, die so tief waren, dass eine Pensionskasse als Eigentümerin von Mietwohnungen die Renten ihrer Versicherten nicht mehr finanzieren konnte. Im konkreten Fall war es die BVK, die Pensionskasse der Zürcher Staatsangestellten. Und so machte das Bundesgericht das Unvermeidliche: Es korrigierte den Einzelfall – es ging um die Anfechtung des missbräuchlichen Anfangsmietzinses – und es ordnete an, dass die Nettorendite für Mietwohnungen bei tiefen Zinsen generell höher sein darf als bisher: Von 1,75 Prozent erhöhte es den Satz auf 3,25 Prozent. Im konkreten Fall einer Vierzimmerwohnung hiess dies: Statt der von den Mietern geforderten 900 Franken legte das Bundesgericht eine Anfangsmiete von 1390 Franken fest. Es gab sich im Urteil wortwörtlich «schockiert» über das Resultat der Urteils des Mietgerichts und der Vorinstanz. Solche Emotionen am höchsten Gericht eine Rarität. Eine Monatsmiete von 900 Franken für eine 101 Quadratmeter grosse Wohnung mit Baujahr 1998 sei «lächerlich tief», so das höchste Gericht. Die Pensionskasse errang einen Sieg und freut sich bis heute darüber, so ein BVK-Sprecher zur «Handelszeitung». Zwar war das Urteil gut gemeint, doch jetzt schafft es grosse Probleme. Die Frage, die die Vermieterseite und Mieterseite umtreibt: Was gilt, wenn die Zinsen wieder steigen? Wurden die Nettorenditen dauerhaft erhöht oder gelten dann wieder die alten Bestimmungen? Je nach politischer Warte fallen die Antworten sehr unterschiedlich aus: der Hauseigentümerverband und die Immobilieninvestoren vom Verband Svit wollen dauerhaft höhere Renditen, die Mieterverbände wollen die Schraube zurückdrehen. Unter Experten läuft jetzt ein grosser Streit darüber, was gelten soll, wenn die Zinsen steigen. Beide Seiten bringen sich mit parlamentarischen Vorstössen in Bern in Stellung. Und beide Seiten fordern vom Bundesgericht, die Streitfrage zu beurteilen. Renditendeckel ab 2,25 Prozent Knackpunkt ist eine Sicherung, die das Bundesgericht im Urteil eingebaut hat: Die höhere Nettorendite (und damit höhere Mietzinsen) gelte nur bis zu einem Schwellenwert von 2 Prozent bezogen auf den Referenzzinssatz des Bundes. Dieser Renditendeckel macht alles kompliziert. Doch schön der Reihe nach. Der Kontext: Das Gericht fällte das Urteil mitten in der Pandemie. Die Wirtschaft lag am Boden, der Negativzins der Nationalbank drückte die Renditen, und die Hypozinsen lagen im Keller. Niemand glaubte damals, dass die Inflation zurückkehren würde. Die fünfköpfige, rein bürgerlich besetzte Gerichtskammer rechtfertigte die Praxisänderung mit den «nachhaltig gesunkenen Zinssätzen für Hypotheken beziehungsweise des massgebenden Referenzzinssatzes.» 2022, zwei Jahre nach dem Urteil: Die Hypozinsen steigen, die Inflation liegt bei 3,5 Prozent und bald steigt auch der Referenzzinssatz des Bundes, der die Mieten regelt. Die UBS rechnet mit einer Anhebung des Satzes auf 1,5 Prozent im nächsten März. Was dann passiert, ist vorerst noch klassisch: Alle Mieten, die auf dem Referenzzinssatz von 1,25 Prozent basieren, dürfen um 3 Prozent erhöht werden. Diese Erhöhung ist vom Bund festgelegt (Überwälzungssatz). Eine Miete von beispielsweise 2000 Franken steigt um 60 Franken. 2023, 2024: Heikel wird es wohl bei einem weiteren Zinsschritt. Die UBS rechnet fest damit, dass der Miet-Referenzzins bis auf 2,25 Prozent ansteigt. Wann, dass weiss auch die UBS nicht genau. Doch in diesem Moment kommt der Renditedeckel des Bundesgerichts zum Zug. Wenn der Referenzzins die 2 Prozent-Marke übersteigt, ändert sich die Nettorendite-Berechnung gemäss Urteil. Von maximal 4 Prozent bei einem Referenzsatz von 2 Prozent fällt die maximale Rendite bei 2,25 Prozent wieder auf 2,75 Prozent. Grafisch ergibt dies einen merkwürdigen Hick in der Kurve der Nettorendite: Die konkreten Folgen: Die «Handelszeitung» hat vom Zürcher Mietrechtsexperten Daniel Decurtins einen Anfangsmietzins durchrechnen lassen, analog wie es ein Mietgericht macht. Die Ausgangswerte: Eine Wohnung für 1 Million Franken, mit Baujahr 2010, finanziert mit 40 Prozent Eigenkapital, die Inflation bleibt stabil, der Referenzzins liegt bei 1.25 Prozent. Die im März dieses Jahres beträgt die zulässige Miete 1457 Franken. Steigt der Referenzzins jetzt um 0,25 Prozentpunkte auf 1,5 Prozent, erhöht sich die Miete auf 1561 Franken. Steigt der Referenzzins nun auf 2 Prozent, erhöht sich die zulässige Anfangsmiete auf 1733 Franken. Der Renditedeckel des Bundesgerichts ist jetzt erreicht. Steigt der Referenzzins weiter auf 2,25 Prozent, wird der Schwellenwert überschritten und die zulässige Anfangsmiete fällt auf 1303 Franken. Der Abschlag beträgt fast einen Viertel der Miete. Diesen Effekt sah der Investorenverband Svit schon voraus, als das Urteil herauskam. Und kritisierte das Gericht heftig: «Hier urteilt das Bundesgericht praxisfremd und nur auf den gerade vorliegenden Fall bezogen». Kampf um eine dauerhaft höhere Nettorendite Den Renditedeckel und den resultierenden Knick im Verlauf der zulässigen Nettorendite bei steigenden Zinsen wollen die Vermieterkreise nicht hinnehmen. Sie lobbyieren in Bundesbern für eine Gesetzesrevision, die die höheren Nettorenditen auch bei Referenzzinsen von über 2 Prozent festschreiben. Sollte das Parlament nicht parieren, wollen sie das Bundesgericht dazu bringen, die Rechtsprechung nach oben anzupassen. «Handelt das Parlament nichts, muss in dieser Sache eine Nachbesserung des Bundesgerichts folgen, beispielsweise mit abgestuften oder gleitenden Aufschlägen», schreibt der SVIT. Die stellvertretende Direktorin des Hauseigentümerverbands Schweiz, Monika Sommer, schlägt höhere Renditenaufschläge bis weit hinauf vor, bis 7 Prozent Referenzzins. Mit anderen Worten: Die Vermieterseite will die zulässige Rendite dauerhaft erhöhen. Die Mieterverbände wollen dauerhafte Aufschläge verhindern. Dies zeigt ein Vorschlag der Mieteranwältin Sarah Brutschin in einem Kommentar. Sie ist Vizepräsidentin des Mieterinnen- und Mieterverbandes Deutschschweiz und will über dem Schwellenwert von 2 Prozent Referenzzins zur bisherigen Rechtspraxis zurückkehren. Der Zürcher Mietrechtsexperte des MV Zürich, Daniel Decurtins sagt: «Das Bundesgericht muss im Rahmen eines weiteren Einzelfalls die generelle Frage lösen, wie es bei höheren Referenzzinsen weitergeht.» Die Mieterseite hat ein wichtiges Argument auf ihrer Seite. Das Finanzielle: Miethaushalte bezahlten dauerhaft mehr Miete, als das Mietrecht zuliesse. Insbesondere fehle eine griffige Kontrolle der Anfangsmiete. Der «Beobachter» und «Blick» zitierten im Februar dieses Jahres eine Studie des Büros für arbeits- und sozialpolitische Studien (BASS). Sie kam zum Schluss, dass die 2,3 Millionen Miethaushalte zwischen 2006 bis 2021, also innert 16 Jahren, «78 Milliarden Franken mehr Miete bezahlt haben als gemäss theoretischer Miete» zulässig gewesen wäre. Das machte 200 Franken pro Haushalt und Monat aus. Im Jahr 2021 allein betrug die Summe der überhöhten Mieten 10,4 Milliarden Franken gemäss Studie. In Bundesbern ist die Sache verfahren. Vermieter- und Mieter-Verbände reden nicht miteinander. Dem Bund sind die Hände gebunden. Wirtschaftsminister Guy Parmelin will die Frage nicht alleine lösen. Ein Schlichtungsvorschlag des Bundes ist im Juli dieses Jahres gescheitert. Die Vertreter der Mieterseite haben den runden Tisch verlassen, der eine Mietrechtsrevision hätte ausloten wollen. Dem Vernehmen nach war die Nettorendite-Frage für die Mieterseite dabei das Hauptärgernis. Beide Seiten warten bis zum grossen Chlapf, bis es zur grossen Mietzinserhöhungsrunde kommt – der ersten seit 15 Jahren.Der Fall: Die Zürcher BVK steckt dahinter Die neue Rechtsprechung erzwang die Pensionskasse des Kantons Zürich, BVK, was erst jetzt bekannt wurde. «Die BVK trat tatsächlich als Klägerin auf», sagt ein BVK-Sprecher. Sie habe den Entscheid «mit Genugtuung zur Kenntnis genommen». Vor Gericht argumentierte sie, als Pensionskasse müsse sie mindestens so hohe Mieteinnahmen erzielen, dass sie damit das Alterskapital der Versicherten kaufmännisch verzinsen könne. Mieter können unter gewissen Voraussetzungen die Höhe des Anfangsmietzinses für Wohn- und Geschäftsräume als missbräuchlich anfechten und dessen Herabsetzung verlangen. Ob ein Mietzins missbräuchlich ist, bestimmt sich entweder danach, ob damit ein übersetzter Ertrag aus der Mietsache erzielt wird (Nettorendite) oder ob sich der Mietzins im Rahmen des Orts- oder Quartierüblichen bewegt. Bei weniger als dreissig Jahre alten Liegenschaften ist prioritär auf die Nettorendite abzustellen. Im konkreten Fall betrug der monatliche Anfangsmietzins für eine 4,5-Zimmer-Wohnung im Kanton Waadt 2190 Franken (exklusive Nebenkosten) und für die zwei Einstellhallenplätze je 130 Franken. Das Mietgericht senkte die Wohnungsmiete auf Klage der Neumieter aufgrund einer Berechnung der Nettorendite auf 900 Franken pro Monat, die Miete für die beiden Parkplätze auf je 50 Franken pro Monat. Das Waadtländer Kantonsgericht bestätigte diesen Entscheid. Das Bundesgericht kippte die Urteile der Vorinstanzen und hiess die Beschwerde der Vermieterin, der BVK, teilweise gut. Es legte den zulässigen monatlichen Mietzins für die Wohnung auf 1390 Franken fest und für die Parkplätze auf je 73 Franken. Bei seinem Entscheid änderte das Bundesgericht seine langjährige bisherige Rechtsprechung zur Berechnung der Nettorendite. Die Rechtsprechung zu den beiden nunmehr geänderten Parametern datiert von 1994 beziehungsweise 1986 (BGE 120 II 100 und 112 II 149). Massgebend für die Praxisänderung sind die seither eingetretenen Veränderungen, insbesondere die nachhaltig gesunkenen Zinssätze für Hypotheken beziehungsweise des massgebenden Referenzzinssatzes. Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass gemäss bisheriger Berechnungsmethode mittlerweile sehr niedrige Mieterträge resultieren. Diese stehen in keinem angemessenen Verhältnis zur Nutzung betreffender Wohnungen. Sie sind namentlich für Pensionskassen, die Renten an ihre Versicherten zahlen und dementsprechend einen hinreichenden Ertrag aus ihren eingeschränkten Anlagemöglichkeiten erwirtschaften müssen, nicht ausreichend. Das gilt aber auch für die übrigen Immobilieneigentümer, die ebenfalls Risiken eingehen, darunter Mietzinsverluste und das Leerstandsrisiko.

Mietrecht: Warum die Neumieten sinken, wenn der Referenzzins über 2 Prozent steigt

Darum sinkt die Nettorendite, obwohl die Zinsen steigen