Der Mindestlohn ist die Allzweckwaffe der Gewerkschaften. Er «schafft mehr Kaufkraft» und «neue Arbeitsplätze». Er hilft gegen «gierige Chefs» und die Lohndiskriminierung der Frauen. Er spült «rund 300 Millionen Franken» in die Kassen der Sozialversicherungen und führt zu Einsparungen in der Sozialhilfe von «rund 100 Millionen Franken». Das sehen die Arbeitgeber naturgemäss anders. Der Mindestlohn koste Arbeitsplätze und schade dem Standort, behaupten sie.

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Sind das Märchen der Initianten oder Angstmache der Gegner? Am 18. Mai stimmen die Schweizerinnen und Schweizer über die Initiative der Gewerkschaften ab. Sie fordert einen gesetzlichen Mindestlohn von 22 Franken pro Stunde. Das entspricht rund 4000 Franken im Monat. Hier sind die wichtigsten Argumente:

Wie viele Beschäftigte arbeiten zu Tieflöhnen in der Schweiz?

Im internationalen Vergleich weist die Schweiz einen geringen Anteil an Tieflohnstellen aus. Nur Belgien, Finnland und Portugal haben weniger Tieflohnbezüger, gemäss OECD. Rund 9 Prozent der Arbeitnehmer verdienten 2010 weniger als 22 Franken pro Stunde, was etwa 329 000 Voll- und Teilzeitstellen entspricht.

Wer verdient weniger als 22 Franken pro Stunde oder 4000 pro Monat?

Die Tieflohnbezüger finden sich vor allem in den Branchen Detailhandel, Gastronomie, Gebäudereinigung, Gartenbau, Hauswirtschaft, Landwirtschaft und in Betrieben der persönlichen Dienstleistungen wie Coiffeur- und Kosmetiksalons oder Wäschereien. Betroffen sind besonders ertragsschwache Branchen mit auf allen Stufen tieferem Lohnniveau. Die Erklärung mit «gierigen Chefs» und «Ausbeutern» greift offensichtlich zu kurz. Es ist vielleicht kein Zufall, dass die Gewerkschaft Unia rechtzeitig vor der Auseinandersetzung um die Mindestlohn-Initiative entschieden hat, sich von eigenen Hotels zu trennen.

Weit überdurchschnittlich ist der Anteil der Tieflohnbezüger in Kleinfirmen, im Tessin und in touristischen Gemeinden, ebenso unter Frauen, Ausländern und Teilzeitern. Ein Drittel aller Stellen mit weniger als 22 Franken Stundenlohn sind Teilzeitstellen mit einem Beschäftigungsgrad von weniger als 50 Prozent. Entscheidende Faktoren für tiefe Löhne sind Qualifikation, Alter und Betriebszugehörigkeit. So ist der Anteil der Tieflohnbezüger besonders hoch bei den Arbeitnehmenden ohne Berufsausbildung und bei Jugendlichen unter 25 Jahren. Ein Viertel aller Arbeitnehmer, die unter 22 Franken verdienen, sind weniger als ein Jahr, 55 Prozent höchstens zwei Jahre im selben Betrieb tätig. Tieflöhne sind somit vor allem ein Einstiegsphänomen für Schlechtqualifizierte.

Kostet ein flächendeckender Mindestlohn Arbeitsplätze?

Wenn der Preis steigt, sinkt die Nachfrage. Gesetzlich verordnete Lohnerhöhungen hätten demnach negative Beschäftigungswirkungen. Doch so einfach ist es nicht. 1994 untersuchten US-Ökonomen die Wirkung einer Mindestlohnerhöhung auf Fast-Food-Angestellte im Bundesstaat New Jersey. Sie fanden keine Verringerung der Beschäftigung. Seither tobt der Streit unter Ökonomen. Den Stand des Wissens könnte man so zusammenfassen: Es kommt drauf an. In Frankreich oder Portugal wirkten sie sich negativer aus als in den USA. Stärker negativ betroffen waren schlecht qualifizierte und junge Arbeitskräfte.

Die Auswirkungen von Mindestlöhnen sind schwierig zu analysieren. Denn unternehmerische Entscheide hängen von vielen Faktoren ab, Mindestlöhne sind dabei nicht die wichtigsten. Der Unternehmer kann auf unterschiedliche Weise auf Kostensteigerungen reagieren. So kann er automatisieren, rationalisieren oder die Produktion verlagern. Er kann die Preise erhöhen, seine Gewinnmarge senken, die Arbeitsstunden reduzieren, bei Nichtlohnbestandteilen sparen, die Arbeitseffizienz erhöhen oder Lohnerhöhungen für die übrigen Mitarbeiter verzögern. Höhere Mindestlöhne können auch den Output der Mitarbeiter steigern und Fluktuationskosten senken.

«Offensichtlich führen steigende Mindestlöhne nicht zu mehr Arbeitslosigkeit. Das zeigen auch unzählige Studien», behaupten die Gewerkschaften deshalb in ihrem Argumentarium zur Initiative. Das ist sicher überzogen. Die wenigen Studien, die keine negativen Beschäftigungswirkungen fanden, untersuchten nur bescheidene Erhöhungen von Mindestlöhnen und lassen sich nicht auf Schweizer Verhältnisse übertragen. David Card, der Autor der berühmten Studie von 1994, warnt selber vor falschen Schlüssen. «Unsere Resultate bedeuten nicht, dass Mindestlöhne in anderen Volkswirtschaften keine Beschäftigungswirkungen haben können», und «wir nicht massive Probleme kriegten, wenn wir den Mindestlohn auf 20 Dollar pro Stunde erhöhen würden».

Wie viel sind 22 Franken im internationalen Vergleich?

Die von der Initiative geforderten 22 Franken pro Stunde würden Weltrekord bedeuten. Der Mindestlohn wäre doppelt so hoch wie in Frankreich, drei Mal so hoch wie in Grossbritannien und vier Mal so hoch wie in den USA. Selbst bereinigt um die höhere Kaufkraft in der Schweiz bleibt der Abstand gross (siehe Grafik links). Ebenfalls rekordhoch wäre der Schweizer Mindestlohn gemessen am Medianlohn. 22 Franken entsprechen 64 Prozent des Medians (dieser teilt die Erwerbsbevölkerung in der Mitte, eine Hälfte verdient weniger, die andere mehr, siehe Grafik rechts).

Ein so hoher Mindestlohn dürfte die Beschäftigung sehr wohl beeinträchtigen. Arbeitskräfte, deren Produktivität unter dem Mindestlohn liegt, würden aus dem Markt gedrängt – also vor allem schlecht qualifizierte Arbeitnehmer. Diese kommen schon durch den normalen Stukturwandel unter Druck, die Arbeitslosigkeit ist bereits hoch. Der Mindestlohn bedroht die Stellen der Schwächsten im Arbeitsmarkt, denen er eigentlich helfen sollte. Damit werden auch die Rechnungen der Gewerkschaften zur Makulatur, die mit mutigen Annahmen steigende Einnahmen für die Sozialversicherungen und Einsparungen bei der Sozialhilfe versprechen.

Fördert der Mindestlohn die Zuwanderung?

Der viel höhere Mindestlohn in der Schweiz steigert den Anreiz, in der Schweiz zu arbeiten. Aber die Zuwanderung ist vor allem von der Nachfrage der Unternehmen getrieben. Weil der Mindestlohn die schlecht qualifizierten Arbeitskräfte verteuert, wird die Nachfrage nach ihnen eher sinken. Die Auswirkungen des Mindestlohns auf die Zuwanderung bleiben insgesamt ungewiss.

Hilft der Mindestlohn im Kampf gegen die Armut?

Der beste Schutz gegen Armut ist eine Arbeit. Doch selbst wenn der Mindestlohn die Beschäftigung nicht senken würde, wäre er zur Bekämpfung der Armut ungeeignet, weil er die familiären Verhältnisse nicht berücksichtigt. Ob jemand arm ist, hängt vom verfügbaren Haushaltseinkommen ab. Gemäss Bundesamt für Statistik sind aber 87 Prozent der Tieflohbezüger nicht von Armut betroffen. Es sind Zweitverdiener, Studenten, junge Alleinstehende und Ausländer mit Kurzaufenthaltsbewilligung.

Muss jedermann von seinem Lohn leben können?

Der Lohn ist zuerst ein Preis, der Knappheit und Überfluss signalisiert und so Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt zusammenführt. Ihn staatlich festzulegen, macht ihn nicht unbedingt gerechter, behindert ihn aber in seiner zentralen Funktion.

Die meistgehörte Parole zum Mindestlohn klingt auf Anhieb plausibel: «Ein Mensch muss von seiner Arbeit leben können.» Aber sie geht an der Wirklichkeit vorbei. 4000 Franken sind für einen Alleinstehenden, der noch bei seinen Eltern wohnt, viel Geld, für einen Familienvater wenig. Eine durchschnittliche Drei-Zimmer-Wohnung kostet in La Chaux-de-Fonds 870 und in Grenchen 950 Franken im Monat, aber in Zürich glatt das Doppelte. Da erscheint das heutige System mit regionalen Branchenverträgen gerechter als ein flächendeckender Mindestlohn.

Wenn es eine Pflicht gibt, Löhne zu zahlen, die zum Leben reichen, stellt sich ausserdem eine grundsätzliche Frage: Warum sollten die Kosten für diese Löhne alleine von Kleinunternehmen in ertragsschwachen Branchen getragen werden, die den schlecht qualifizierten Arbeitnehmern immerhin eine Beschäftigung bieten? Müssten gerechterweise dann nicht auch alle anderen Unternehmen gezwungen werden, Leute zu beschäftigen, deren Produktivität unter dem Mindestlohn liegt?