Putins Ölstopp-Drohung ist eine erneute Fehleinschätzung

Es klingt wie eine Drohung, doch es zeugt von einer weiteren Fehleinschätzung der russischen Regierung: Der Kreml hat angekündigt, kein Öl mehr an Länder zu liefern, die sich an den Preisdeckel der EU halten. Hintergrund ist die Preisobergrenze auf russische Erdölexporte in Drittstaaten, die die EU gemeinsam mit den G7-Ländern und Australien Anfang Dezember beschlossen hat, mit dem Ziel, die russischen Einnahmen aus dem Ölexport zu dezimieren. Britische und EU-Unternehmen dürfen Dienstleistungen wie Versicherungen für den Transport oder die Finanzierung nur dann anbieten, wenn der Preis des transportierten russischen Öls unter 60 Dollar liegt. Derzeit ist die Bedingung erfüllt. Gemäss Daten des Erdölkonzerns Neste kostet ein Fass der massgeblichen russischen Öl-Sorte aus dem Ural und der Wolgaregion 52 Dollar, 30 Dollar weniger als Brent. Russland könnte also ungehindert Öl an Länder ausserhalb der EU und der G7 verschiffen. Russland braucht dringend Käufer Der Gegenschlag irritiert aber aus einem anderen Grund. Er zeigt, dass der Kreml den zentralen Punkt in diesem Konflikt nicht wahrhaben will: Russland braucht die Einnahmen aus dem Öl- und Gasexport mehr als der Rest der Welt russisches Öl und Gas. Gewiss, Europa hat sich in den vergangenen Dekaden von russischem Öl abhängig gemacht. Zu den Spitzenzeiten importierten die EU und das Vereinigte Königreich jährlich Öl und Gas im Wert von bis zu 180 Milliarden Dollar. Etwas mehr als ein Viertel der EU-Ölimporte stammte vor den Sanktionen aus Russland, und fast die Hälfte des Erdgases. Aber die Abhängigkeit ist umgekehrt noch viel grösser. 70 Prozent der russischen Einnahmen aus dem Export von Öl und Gas kamen vor dem Krieg aus der EU und dem Vereinigten Königreich. Und während Europa im Eiltempo auf andere Herkunftsländer und alternative Energiequellen umstellt, bleibt Russland nur noch der Ausweg, möglichst viel Öl und Gas an China und Indien zu verkaufen. Aber die Kapazitäten der bestehenden Pipelines sind beschränkt, und bis neue Projekte wie die Gaspipeline Siberia 2 realisiert sind, dauert es noch Jahre. Rund 70 Prozent der russischen Erdölexporte gehen unterdessen in Länder, die nicht zur EU oder den G7 gehören. Wenn Russland diese Exporte einstellt, schneidet es sich ins eigene Fleisch. Putin agiert aber immer noch so, als sässe er am längeren Hebel. Bizarrer Verweis auf freie Märkte Völlig deplatziert ist auch die Klage, der Preisdeckel würde gegen den freien Markt verstossen. Obwohl Putin selbst den Krieg angefangen hat, will er nicht begreifen, dass längst andere Regeln gelten als zu Friedenszeiten, als man sich diplomatisch über WTO-Regeln und freie Märkte unterhielt. Apropos Markt: Dieser ist überhaupt nicht beeindruckt von Putins Drohgebärden und auch nicht von der Ankündigung seines Energieministers Alexander Nowak, die Ölförderung nächstes Jahr 5 bis 7 Prozent zu senken. Der Brent-Rohölpreis notiert praktisch unverändert bei 83 Dollar pro Fass. In den USA ist der Preis für die Standardsorte WTI wieder unter 80 Dollar gefallen.