Sotschi ist das «Nizza Russlands». Auch wenn die Stadt dieses Jahr Austragungsort der Olympischen Winterspiele ist – eigentlich ist sie ein nobler Kurort am Schwarzen Meer. Die verdienten Arbeiter der Sowjetunion tankten hier einst Energie für neue Taten. Hier erholten sich Generationen von Kindern der Jugendorganisationen der Kommunistischen Partei in Ferienlagern. Nun werden dort Medaillen ausgefochten, wie früher in Lillehammer, Vancouver oder Sapporo.

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Denn Sotschi ist heute ein Symbol für die Ambitionen Wladimir Putins. Historisch aber ist Sotschi auch ein Symbol für eine dunkle Seite der Sowjetunion. Sotschi  ist auch ein Symbol für Diebstahl am Volk, für Willkür. Was in Sotschi jahrelang Realität war, das ist seit dem Zerfall der Sowjetunion 1992 offiziell bekannt.

Eine Verschwörung von Staatsdienern

Die Zustände zeigte der Journalist Arkadi Waksberg in seinem 1992 erschienen Buch «Die sowjetische Mafia»* auf. Er stützte sich bei seiner Arbeit auf Gerichtsprotokolle, persönliche Gespräche, Recherchen. Im Buch wird nicht nur beschrieben, wie es «damals» war. Waksberg zeichnet die Folgen bis ins Russland Putins auf.

Sotschi war der Ort der ersten Mafia-Untersuchung in der Sowjetunion. Offiziell gab es sowas nicht, im Arbeiter- und Bauernstaat. Doch die normalen Bewohner Sotschis wussten schon lange: Das Gegenteil ist der Fall. In Sotschi fand eine Verschwörung von Staatsdienern, von kleinsten Nummern bis zu regional höchsten Chargen, statt - lange geduldet in Moskau, von Staatschef Breschnew und seinen Lakaien.

Aufstieg unter Breschnew

Sotschi war nicht einfach eine Stadt wie jede andere. In Sotschi wurde gebaut, trotz Mangel allenthalben. Es wurde antichambriert, gehätschelt und gedealt. Sotschi war speziell, ein Russland der Träume. Einer der örtlichen Funktionäre war Bürgermeister Wjatscheslaw Woronkow. Jeden Monat kam er mit dem Herrscher der Region, Sergej Medunow, zusammen, dem ungekrönten Zaren das Gebiets, das fast so gross ist wie Spanien. Auch Medunow hatte seine Karriere einst in Sotschi begonnen.

Als Breschnew zum Generalsekretär des ZK der KPdSU wurde und er Medunow zum Alleinherrscher von Krasnodar (und damit Sotschi) gemacht hatte, schickte sich dieser schnell an, alle ihm unliebsamen Personen zu entfernen und sie durch seine eigene Mannschaft zu ersetzen. Er schaffte es, durch Bestechung, Günstlingswirtschaft und leibliche Gefälligkeiten, sich eine unanfechtbare Position anzueignen, die jeder Beschreibung spottet.

Ein singender Springbrunnen

Mit Medunow an der Spitze fühlten sich alle Teilhaber des Systems von Sotschi völlig sicher. Er und seine Spiessgesellen machten kein Geheimnis um ihre Vorlieben. Ohne einen Rubel seines eigenen Geldes auszugeben, baute sich Bürgermeister Woronkow in Sotschi ein Haus, das alles Übliche sprengte: In der Eingangshalle baute er sich einen singenden Springbrunnen: Wenn der Strahl am höchsten war, liess er sich als Tenor vernehmen. Jeder in der Stadt wusste von dem Springbrunnen.

Die Angehörigen der Sotschi-Mafia trugen ihren Reichtum offen zur Schau. Macht und Geld zu haben, ohne beides zu zeigen, wäre eine Selbstbeschränkung gewesen, die ihrer Eitelkeit im Wege stand. Die öffentliche Protzerei wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht jedes Führungsmitglied dieses mächtigen Mafia-Clans über einen hunderprozentigen Schutz verfügt hätte.

Verschwinden auf Nimmerwiedersehen

Hinter den Kurortbossen stand Medunow, aber er genügte den erfahrenen Apparatschiks noch nicht als Garant ihrer Unangreifbarkeit. Sie wussten sehr gut, dass viele andere wichtige Posten in der Stadt wie der Region von Rivalen bekleidet wurden. Die Mafiosi wussten auch genau, dass Tausende von Protestbriefen nach Moskau geschickt wurden und einer vielleicht irgendwann durchs Netz schlüpfen konnte. Zu Beginn funktionierte dies auch: Hunderte, wenn nicht Tausende verloren ihren Job - weil sie sich dem Willen des Medunow-Clans nicht beugten. Wenn sie Pech hatten, landeten sie im Gefängnis für fingierte Verbrechen, wurden psychiatrisiert oder verschwanden auf Nimmerwiedersehen.

Trotz alledem nahmen die Mafiosi weiterhin Millionen von Bestechungsgeldern ein und stahlen alles, was ihnen in die Finger kam: Lebensmittel, Baumaterialien, Kleidung, Schuhe, Video- und Stereogeräte, Wein und Obst. Sie handelten mit Wohnungen, Autos, Reisen in Sanatorien und Erholungsheime, mit Hotelzimmern, Flugzeugtickets und Eisenbahnbilleten. Sie stahlen und handelten, ohne irgend jemanden zu fürchten. Wie war das möglich? Sie waren sicher, dass hinter Medunow noch ein mächtigerer Beschützer stand.

Ein PR-Coup auf sowjetisch

Für diese Situation mussten zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Medunow musste persönlich an der Sicherheit jedes einzelnen seiner Geschäftspartner interessiert sein. Und Breschnew musste persönlich an Medunows Sicherheit interessiert sein. Als Paterfamilias wusste der Staatschef ganz genau, welche Rolle Medunow spielte.

Trotzdem: Irgendwann, und vor allem in dieser Unverfrorenheit, war das Mass voll - Medudow wusste das. Dann hatte er einen letzten Trumpf im Ärmel: PR - Public Relations in der Sowjetunion. Und das ging so: Die Region Krasnodar erklärte auf persönliche Anweisung Medunows dem Rauchen den Krieg, dessen erste Etappe unter der Devise «Sotschi: die Stadt ohne Nikotin» stand.  Der Verkauf von Zigaretten wurde massiv eingeschränkt und wer am Arbeitsplatz oder öffentlich rauchte, mit Geldstrafen gebüsst. Und die Einwohner und Besucher der Stadt wurden dazu aufgerufen, alle «zu entlarven und an den Pranger zu stellen», die  sich dieser scheusslichen Angewohnheit in ihrer Behausung, hinter verschlossenen Türen, hingaben.

Die Zeitungen waren voll des Lobes

Natürlich wuchsen die Spekulationen und der illegale Handel mit Zigaretten schlagartig an, genau wie die Bestechungssummen, mit denen Raucher versuchten, sich von den Polizisten freizukaufen. Aber die wichtigste Folge, derentwegen die ganze Sache ersonnen wurde, bestand in etwas ganz anderem: der Schaffung eines Tarnschleiers. Denn die Zeitungen überschlugen sich geradezu vor Entzücken, priesen die Initiative der Bürger von Sotschi und der Region Krasnodar und feierten Medunow und Sotschis Bürgermeister Woronkow, die ein Interview nach dem anderen gaben.

Trotzdem wurde die Lage für die Medunow-Mafia langsam ungemütlich. Medunow, Bürgermeister Woronkow und die anderen Mitglieder des Clans ahnten, dass ein Angriff auf sie vorbereitet wurde. Der erfolgte von oben und unten. Der Fehler der Mafia war, dass sie während all der Zeit keine Kontakte zu den führenden Angehörigen der örtlichen Miliz (Polizei) und der Staatsanwaltschaft geknüpft hatte. Die Medunow-Leute waren zu sehr von der Protektion durch ihren Boss überzeugt - die höchste Riege um Staatsoberhaupt Breschnew. Sie dachten nicht daran, dass die Ära Breschnew irgendwann zu Ende gehen könnte.

Die Mafia wurde entlarvt

Das war ein Fehler. Nun, als im Machtzentrum Breschnews Nachfolger Andropow immer mehr darauf hinarbeitete, seinen Rivalen zu beerben, zogen nicht nur der Staatsanwalt der Region Sotschi sondern auch die örtlichen Leiter des KGB und des MWD (Ministerium für Innere Angelegenheiten) gegen sie in den Krieg - nicht wegen Überzeugung, sondern weil es politisch plötzlich angezeigt war.

Es ging daher nicht mehr lange, da wurden dem ungekrönten Zaren von Krasnodar Medunow und seinen Helfeshelfern um Woronkow in Sotschi der Prozess gemacht. Die Mafia wurde entlarvt. Der Sowjetpresse war dies einige Zeilen wert. Mehr nicht. Denn eine Mafia hatte es ja nie gegeben. Doch die Wahrheit steckte in knapp 60 Bänden der Gerichtsprotokolle, die Journalist Arkadi Waksberg durch couragierte Helfer einsehen konnte - und nach dem Zerfall der Sowjetunion 1992 der Weltöffentlichkeit in seinem Buch zugänglich machte.

* Die sowjetische Mafia, Arkadi Waksberg, Verlag Piper, 1992