Das Parlament hat im März dieses Jahres einem Gesetzesartikel zur Bekämpfung von Versicherungsmissbrauch deutlich zugestimmt. Diese Bestimmung findet sich im Bundesgesetz über den allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG). Die neue Norm regelt die Überwachung von Versicherten im Sozialversicherungsbereich ATSG. Dagegen wurde das Referendum ergriffen, weswegen nun der Souverän am 25. November über die Vorlage abstimmen wird. Der Schweizerische Versicherungsverband (SVV) setzt sich für eine konsequente Bekämpfung des Versicherungsmissbrauchs ein und unterstützt deshalb die Gesetzesvorlage, die Observationen im Sozialversicherungsbereich analog der bisherigen Praxis wieder ermöglicht.

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Missbrauch der Sozialwerke ist kein Kavaliersdelikt. Die Meinung, der Sozialmissbrauch gehe lediglich zu Lasten einer anonymen Organisation, ist schlichtweg falsch. Geschädigte des Missbrauchs sind vielmehr wir alle, als Prämien- und Steuerzahlerinnen und -zahler. Und dieser Schaden ist immens: er beträgt über 80 Millionen Franken pro Jahr. Zudem unterwandern jene, die missbräuchlich Sozialversicherungsleistungen beziehen, das Vertrauen in unser Sozialsystem und dessen bewährte Institutionen. Dieses Fehlverhalten gilt es zu bekämpfen: Wer Prämien zahlt, soll sich darauf verlassen können, dass die Gelder den Versicherten zu Gute kommen, die einen berechtigten Anspruch haben.

 

Gesetzliche Grundlage für bewährtes Mittel

Das ATSG schreibt vor, dass die Leistungsansprüche einer versicherten Person von Amtes wegen detailliert abzuklären sind. Dazu gehören neben ärztlichen Untersuchungen und medizinischen Gutachten auch die Sachverhaltsabklärung mittels Observation, sollte ein Anfangsverdacht bestehen. Über viele Jahrzehnte setzten die IV-Stellen, die Suva und die Privatversicherer das Mittel der Observation für ihre Abklärungen ein und hielten sich dabei an die Rechts- praxis, die ihnen das Bundesgericht vorgab. Urteile unseres obersten Gerichts belegen sowohl die Rechtmässigkeit wie auch die Wirksamkeit dieser Observationspraxis und illustrieren gleichzeitig, dass Missbräuche leider keine Seltenheit sind. Als Beispiel sei der Fall eines Versicherten erwähnt, der behauptete, auf den Rollstuhl angewiesen zu sein. Mittels Observation des Leistungsempfängers konnte belegt werden, dass dieser die komplette Gehbehinderung nur vortäuschte und stattdessen mit einem benzinbetriebenen Rasenmäher den Rasen mähte und auf einer Leiter Aprikosen pflückte (BGE 9C_852/2014). Mit medizinischen Untersuchungen und der Befragung des Versicherten wäre der Sozialversicherer diesem Missbrauch kaum auf die Schliche gekommen und die Allgemeinheit hätte die Zeche dieses unlauteren Verhaltens eines Einzelnen zu zahlen gehabt.

Gegenwärtig können die Sozialversicherer das Mittel der Observation aufgrund eines Urteils des europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nicht nutzen. Mit diesem Entscheid aus dem Jahr 2016 wurde die Observation als Mittel zur Bekämpfung von Sozialmissbrauch als solches nicht in Frage gestellt. Der EGMR hielt jedoch fest, dass im UVG die gesetzliche Grundlage für solche Observationen fehle. In der Folge hat auch das Bundesgericht auf die fehlenden rechtlichen Grundlagen hingewiesen. Diesen richterlichen Rügen hat der Bundesgesetzgeber umgehend Rechnung getragen und mit der am 25. November zur Abstimmung gelangenden Gesetzesvorlage die rechtliche Grundlage für die Fortführung der bewährten Observierungspraxis geschaffen.

 

Gestützt durch das Bundesgericht

Seit jeher setzen die Sozialversicherer das Mittel der Observation zurückhaltend und nur als ultima ratio ein; so sind es bei den Privatversicherern nur rund 100 Fälle pro Jahr. Die Missbrauchsbekämpfung der Versicherer setzt zuerst auf andere Informationsquellen. Um den versicherungsrechtlich massgebenden Sachverhalt abklären zu können, stützen sich die Durchführungsstellen zuerst auf Unterlagen wie etwa Berichte von Arbeitgebern oder behandelnden Ärzten, auf medizinische Gutachten oder auf öffentlich zugängliche Quellen in den sozialen Medien.

Dennoch ist manchmal die Observation als letztes Mittel notwendig und zweckdienlich. Das Bundesgericht stützte dabei die Praxis der Sozialstellen in seinen Urteilen immer wieder. Ausschlaggebend ist dabei die gesetzliche Vorgabe, wonach ein Leistungsanspruch von Amtes wegen abgeklärt werden muss und der Versicherte dabei zur Mitwirkung verpflichtet ist. Ergibt diese Abklärung mit den gängigen Mitteln keine schlüssigen Resultate oder verweigert derjenige, der Sozialleistungen verlangt, seine Unterstützung im Verfahren, bleibt nur noch die Observation, um die nötigen Fakten für den Leistungsentscheid zu erbringen und damit den gesetzlichen Abklärungsauftrag zu erfüllen.

Es ginge zu weit, an dieser Stelle im Detail auf die bisherige bundesgerichtliche Praxis einzugehen. Es sei lediglich erwähnt, dass das Bundesgericht wiederholt die Rechtmässigkeit einer Observation bestätigte, wenn der Anfangsverdacht missbräuchlichen Verhaltens hinreichend war. Überdies anerkannte es das öffentliche Interesse, keine nicht geschuldeten Leistungen zu erbringen, da ansonsten die Gemeinschaft der Versicherten geschädigt würde. Eine Einschränkung des Schutzes der Privatsphäre sei dadurch gerechtfertigt.

 

Effiziente Abwicklung notwendig

Auf dieser langjährigen Bundesgerichtspraxis basiert der vorliegende Gesetzesvorschlag. Was das Bundesgericht bisher mit seinen Urteilen regelte, findet sich nun in ein paar wenigen Gesetzesartikeln: Eine Observation kann angeordnet werden bei einem begründeten Anfangsverdacht, der nicht mit anderen Mitteln geklärt werden kann. Ausserdem kann die Observation nur durch eine Person mit Direktionsrang bei einem Sozialversicherer angeordnet werden. Um Sozialmissbrauch wirkungsvoll bekämpfen zu können, braucht es diesen effizienten Entscheidungsweg. In vielen Fällen bietet sich nur während einer kurzen Zeit die Möglichkeit, mit einer Observation zusätzliche und aussagekräftige Informationen zu erhalten, um einen bestehenden Verdacht zu erhärten. Entsprechend regelt der vorliegende Gesetzesentwurf klar, in welchen Fällen eine Observation überhaupt erlaubt ist. Folglich erhöht die neue Rechtsgrundlage auch die Rechtssicherheit und die Transparenz – und zwar für die Sozialversicherer wie für die Versicherten, die einen Leistungsanspruch geltend machen.

Richtig ist es, dass das Gesetz für den Einsatz von GPS-Trackern höhere Anforderungen stellt. Analog zum Strafrecht dürfen diese technischen Instrumente nur mit richterlicher Bewilligung verwendet werden. Diese Massnahme wird selten eingesetzt, weil sie erheblich in die Privatsphäre der Betroffenen eingreift, was bei Bild- und Tonaufzeichnungen vom öffentlichen Raum her nicht der Fall ist.

 

Beobachten im öffentlichen Raum

Bereits in der bisherigen Praxis war die Observation in der Privatsphäre tabu – und das soll auch so bleiben. Wer jedoch Versicherungsleistungen beansprucht und sich dem öffentlichen Raum präsentiert oder sich darin bewegt, muss in begründeten Verdachtsfällen damit rechnen, observiert zu werden. Solche Beobachtungen im oder aus dem öffentlichen Raum können per se von jedermann gemacht werden. Im Fokus der Observation stehen somit Aktivitäten im öffentlichen Raum, die von jedermann jederzeit eingesehen werden können wie beispielsweise Gehen, Treppensteigen, Autofahren, Tragen von Lasten oder Ausüben sportlicher Aktivitäten. Der neue Gesetzesartikel regelt die Frage abschliessend, wo sich eine überwachte Person aufhalten muss, damit sie observiert werden darf. Sie muss sich an einem allgemein zugänglichen Ort befinden oder an einem Ort, der von einem allgemein zugänglichen Ort aus frei einsehbar ist. Bundesparlament und Bundesrat haben klipp und klar gesagt, dass damit zwar ein frei einsehbarer Garten, nicht aber ein ebenso einsehbares Wohnzimmer gemeint ist. Dies wird in der Öffentlichkeit oft falsch dargestellt. Damit ändert sich nichts zur bisherigen Praxis des Bundesgerichts.

Bei der Dauer einer Observation setzt der zur Abstimmung stehende Gesetzesartikel klare Grenzen: höchstens an 30 Tagen innerhalb von sechs Monaten. Eine Verlängerung um höchstens sechs Monate ist möglich. Dabei ist anzumerken, dass eine Observation über längere ununterbrochene Zeitabschnitte weder technisch realistisch noch sinnvoll ist. Die Erfahrung zeigt, dass sie dann am ehesten Wirkung zeigt, wenn sie zielgerichtet und nur an einzelnen Tagen oder Stunden erfolgt.

 

Versicherte haben Informationsrechte

Ein wesentlicher Unterschied zur bisherigen Praxis betrifft Beobachtungen, die kein Ergebnis zutage fördern. Hier sieht das Gesetz vor, dass ein Versicherer die überwachte Person in jedem Fall informieren muss. Dazu legt eine nunmehr in der Vernehmlassung befindliche bundesrätliche Verordnung weitere Leitplanken fest; zum Beispiel die Ausbildungspflicht für die Spezialistinnen und Spezialisten, die eine Observation durchführen dürfen oder die Frage, wie das Observationsmaterial aufbewahrt und vernichtet werden soll.

Auch wenn die Vorlage zum Teil von der bisherigen Praxis abweicht oder diese verschärft, gibt es keinen Grund zur Annahme, dass sich die Zahl der Observationen merklich verändern würde. Versicherer setzen Observationen nur sehr gezielt und selten ein. Zum einen begrenzen die gesetzlichen Vorgaben die Fälle, in welchen eine Observation überhaupt möglich ist. Zum anderen muss diese Massnahme auch wirtschaftlich für die Versicherungen Sinn machen. Entsprechend lassen sich die Arten der Fälle eingrenzen, in denen Observationen sinnvoll sind.

Es ist zwar korrekt, dass auch Krankenversicherer unter das neue Gesetz fallen. Sie könnten theoretisch Observationen anordnen. Der grösste Teil des Geschäfts der Krankenversicherer betrifft jedoch den Heilungskostenbereich und damit das Verhältnis Krankenversicherer-Versicherungsnehmer. Hier ergeben Observationen keinen Sinn, denn hier hat der Versicherungsnehmer wenig bis gar keinen Einfluss auf die Leistungen, welche in der Regel auch keine Kapitalleistungen sind. Observationen lohnen sich nämlich nur, wenn ein Verdacht auf unberechtigten Bezug hoher Versicherungsleistungen besteht. Darum ist die Massnahme, die die Gesetzesvorlage regelt, vor allem für die IV- und UV-Versicherer von Relevanz, nicht jedoch für die Krankenversicherer.

 

Präventive Wirkung

Für die Sozialversicherer war es wichtig, dass das Parlament nach dem Urteil des europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zeitnah die geforderte gesetzliche Grundlage geschaffen hat. Aufgrund der Erfahrungen in den Jahren zuvor ist davon auszugehen, dass alleine die Privatversicherer – solange Überwachungen nicht möglich sind – rund 24 Millionen Franken pro Jahr an ungerechtfertigten Leistungen auszahlen und damit die Allgemeinheit der Prämienzahlerinnen und -zahler massiv geschädigt wird.

Mit der neuen rechtlichen Grundlage können einerseits diese fehlgeleiteten Prämiengelder minimiert und anderseits der konsequente Kampf gegen den Sozialversicherungsmissbrauch fortgesetzt werden. Denn neben den effektiv eingesparten Summen hat eine konsequente Haltung präventiven Charakter. Davon profitieren die Prämienzahlerinnen und Prämienzahler, IV-Stellen und die weiteren Sozialversicherer, wenn die ungerechtfertigten Auszahlungen erst gar nicht anfallen. Das Vertrauen in das für unser Land so wichtige und bewährte Sozialsystem und in ihre Institutionen muss weiter geschützt werden. Sozialmissbrauch ist unfair und geht zulasten des Kollektivs. Deswegen steht der SVV unmissverständlich hinter dieser Gesetzesvorlage.

 

THOMAS HELBLING ist Direktor des Schweizerischen Versicherungsverbands SVV.