Am 1. Januar 1985 wurde die berufliche Vorsorge in der Schweiz auf ein öffentlich-rechtliches Fundament gestellt. Das «Bundesgesetz über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge», kurz BVG, verpflichtete Arbeitnehmende und Arbeitgebende, sich paritätisch und eigenverantwortlich um die Altersvorsorge zu kümmern. Das neue Paradigma war bemerkenswert: Während die AHV – bis dahin die einzige Garantin für einen geruhsamen Lebensabend – der reinen Existenzsicherung im Alter diente, war das BVG zur «Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung» gedacht.
Aufgrund der Erdölkrise mit Verzögerung gestartet, wurde die berufliche Vorsorge schnell zum Erfolg. Grund dafür war das austarierte System, denn 1. und 2. Säule sollten sich auch bezüglich ihrer Funktionsweise ergänzen: Hier die AHV, die mittels Umlageverfahren in erster Linie auf der Solidarität zwischen den Generationen basierte, da das BVG, das die Solidarität zwischen den Sozialpartnern zum allgemeingültigen Prinzip erhob und sich dafür des Kapitaldeckungsverfahrens bediente.
Wer zum Zeitpunkt der BVG-Einführung 25 Jahre alt und somit beitragspflichtig war, gehört heute, 40 Jahre später, zu den Ersten, die mit dem Ersparten eines ganzen Berufslebens in Rente gehen. Was ist in diesen 40 Jahren nicht alles passiert? Egal, ob in Wissenschaft, Technologie, Politik oder Kultur, überall haben sich die Zeiten radikal gewandelt. Erstaunlich wenig hat sich dagegen an den Grundzügen des BVG verändert. Das ist sicher als Zeichen der Stärke zu werten: Das schweizerische Drei-Säulen-System der Vorsorge, mit der freiwilligen 3. Säule als steuerlich attraktiver Zusatzabsicherung, funktioniert nach wie vor, und das BVG ist eine solide Säule für einen sicheren Lebensabend.
Im Laufe der vier Jahrzehnte waren natürlich dann und wann Korrekturen am System notwendig, im BVG lassen sich diese jedoch an einer Hand abzählen: Die Einführung des Freizügigkeitsprinzips im Jahr 1993 erlaubte grösstmögliche berufliche Mobilität, 1995 wurde die Wohneigentumsförderung aus Mitteln der 2. Säule eingeführt, und seit der Revision des Zivilgesetzbuches im Jahr 2000 wird bei einer Scheidung das Guthaben der beruflichen Vorsorge geteilt. Demgegenüber wurden Vorschläge zur Senkung des Mindestumwandlungssatzes – der die Höhe der Rente bei Rentenantritt im Verhältnis zum gesamten Vorsorgeguthaben bestimmt – vom Stimmvolk in den Jahren 2010, 2017 und 2024 abgeschmettert. Letztmals wurde 2005 über eine Anpassung des Umwandlungssatzes entschieden; er liegt heute bei 6,8 Prozent (im Vergleich zu 7,2 Prozent im Jahr 1985).
Weshalb ist eine grundlegende Überarbeitung des BVG notwendig? Allein der Umstand, dass die durchschnittliche Lebenserwartung stark gestiegen ist, macht deutlich, dass die Rechnung zunehmend schwieriger zu begleichen ist: Hatte eine 65-jährige Frau im Jahr 1985 statistisch noch 19, ein gleichaltriger Mann noch 14,9 Lebensjahre vor sich, liegt die Lebenserwartung bei Rentenantritt heute bei 22,8 Jahren für Frauen und 20,3 Jahren für Männer.
Patricio Scotoni leitet seit November 2022 den Bereich Berufliche Vorsorge bei der Groupe Mutuel.
Die gestiegene Lebenserwartung ist für sich genommen schon eine gewaltige Herausforderung; sie ist aber nicht die einzige. Genauso ins Gewicht fallen die veränderten Erwerbsbiografien: Lineare Karriereverläufe sind nicht länger die unhinterfragte Norm, vielmehr streuen viele Menschen Phasen mit reduziertem Arbeitspensum ein. Teilzeitarbeit, ein neues Arbeits- und Rollenverständnis, aber auch ökonomische Zwänge führen dazu, dass viele Menschen keine klassischen lebenslangen Anstellungen im 100%-Pensum mehr aufweisen.
Wer mehrere Jobs hat oder lange Pausen einlegt, läuft indes Gefahr, ganz ohne BVG dazustehen oder mit grossen Beitragslücken klarkommen zu müssen. Aktuell liegt die Eintrittsschwelle für Beiträge an die 2. Säule bei einem Jahresverdienst von 22 680 Franken.
Dazu kommt, dass die Kapitalrenditen, welche die Pensionskassen mit den ihnen anvertrauten Geldern erwirtschaften, heute in einem ungleich schwierigeren Umfeld erzielt werden müssen, als dies in den Anfängen des BVG der Fall war. Diese Renditen, die nicht zufällig immer wieder als «dritter Beitragszahler» betitelt werden, sind im aktuellen Investitionsklima schwer zu generieren – von den «boomenden» 80ern sind wir gerade in diesem Punkt weit entfernt.
Mehr denn je braucht es also neue Ideen, und auch unkonventionelle Ansätze aus dem In- und manchmal auch aus dem Ausland sind es wert, in Betracht gezogen zu werden.
BVG-Blockade: Zeit für neue Perspektiven
Donnerstag, den 28. August 2025, im Kunsthaus Zürich
In Zusammenarbeit mit der Groupe Mutuel widmet sich der nächste HZ Focus Day der Zukunft der beruflichen Vorsorge in der Schweiz nach der gescheiterten BVG-Reform. Welche Lehren können wir aus gesellschaftlichen Entwicklungen und internationalen Modellen ziehen? Unter der Moderation von Dr. Hugo Bigi diskutieren hochkarätige ExpertInnen diese zentralen Fragen.