Über die Automobilindustrie hat John Ellis vom Beratungsunternehmen Codethink eine klare Meinung: «Die Veränderungen kommen aus allen Richtungen», sagte er an der Consumer Electronics Show (CES) in Las Vegas über die Zukunft der Autobranche. Ellis gilt als einer der besten Prognostiker der Entwicklungen in der Automobilbranche in den USA. Etliche Prognosen, die er vor einigen Jahren formuliert hatte, sind seither eingetroffen. Und was sagt er jetzt voraus?

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Weniger Modelle, längere Nutzung

Zu den Herausforderungen, die man im Geschäft mit der Zukunft haben muss, gehören laut Ellis «etwas Paranoia», wie das typisch ist für viele Innovatoren und Disruptoren. Und dann dürfe man die Macht exponentieller Entwicklungen nicht unterschätzen. Wichtige Veränderungen erfolgten nicht linear. Aber oft werde, so Ellis, weiterhin linear gedacht, wodurch die Macht der exponentiellen Entwicklungen unterschätzt werde. Was sich heute erst in vergleichsweise kleinen Stückzahlen und vermeintlich niedrigen Marktanteilen manifestiere, entfalte seine Wirkung erst in einigen Jahren – dann  aber umso mächtiger.

Und Ellis Prognosen für die Zeit nach 2030: Zunächst werde es keine Modelljahre mehr geben. Die Hersteller würden ihre Modellpalette auf wenige Grundmodelle reduzieren und die Anpassungen über die Software laufend einspielen. Die Software wird bereits jetzt täglich angepasst – und die Vorbildrolle, die Tesla heute noch einnimmt, wird dann branchenweiter Standard sein.

Eine reduzierte Modellpalette, Elektrofahrzeuge mit weniger Verschleissteilen und kaum optische Neuerungen werden zudem zu einer Verlängerung der Nutzungsdauer von Autos führen. Die liegt heute in den USA bei elf Jahren. Für die Zeit nach 2030 erwartet Ellis einen Anstieg der Nutzungsdauer auf über zwanzig Jahre.

Auf die Hersteller kommen grosse Veränderungen zu. «Es wird Software-only-Hersteller geben», erwartet Ellis. «Und es wird White-Label-Hersteller vor allem in China geben.» Die Hersteller werden sich künftig auf das konzentrieren, was den Unterschied zwischen den einzelnen Fahrzeugen ausmacht. Und das ist je länger je mehr nicht mehr die Hardware, sondern die Software. Diese muss gemäss neu eingeführter Regulierung von den Herstellern bis zu zwanzig Jahre nach dem letzten verkauften Fahrzeug jeweils noch aktualisiert werden. Eine entsprechende Regelung wird in Europa im Juli 2024 wirksam werden. «Das allein wird die Modellpaletten künftig drastisch reduzieren und Druck auf eine Ausdifferenzierung der Autoindustrie ausüben», sagt Ellis. Anstelle der heutigen Hersteller, welche die Autohardware und die Software unter einem Dach entwickeln, werden in Zukunft Hardwarehersteller und getrennte Softwarehersteller treten.

«Es ist der beste Weg, die Zukunft selbst zu erschaffen, als sie zu prognostizieren.» John Ellis, Autoexperte

 

Wie das künftig funktionieren könnte, zeigt sich bereits in China. Dort sind die Handygiganten Huawei und Xiaomi ins Automobilgeschäft eingestiegen. Da sie die digitalen Ökosysteme beherrschen, die für Automobile immer wichtiger werden, übertragen sie ihr Know-how und ihre Systeme auf die Fahrzeuge. Die Userinnen und User sind an digitale Ökosysteme, die sie von der Heimelektronik oder vom Handy her kennen, gewöhnt und fühlen sich in den neuen Fahrzeugen gleich wie zu Hause. Xiaomi baut gerade seine Telefongeschäft um, damit dort auch Fahrzeuge präsentiert werden können.

Deutlich teurer werden künftig Reparaturen werden, weil die Autos anders gebaut werden und deshalb bei gröberen Schäden grössere Komponentengruppen als Ganzes ersetzt werden müssen. Die Reparaturzeiten werden sich auch verlängern – und die Versicherungsprämien werden massiv steigen. Grund ist laut Ellis «ein neues Verhältnis zwischen den Autonutzenden und den schwächeren weiteren Beteiligten im Strassenverkehr». Bei den kommenden autonomen Fahrzeugen wird man im Zuge der Einführung dieser Autopiloten sehr genau auf die Risiken und Haftungsfragen schauen – mit allen damit einhergehenden möglichen Kostenfolgen.

Schlampereien bei der Einführung neuer Produkte, wie das in einigen Bereichen der Softwareentwicklung üblich ist, weil man diese erst zusammen mit den Usern weiter verbessert, kann man sich in der Autoindustrie nicht leisten. Ellis erwartet deshalb nach 2030 die Einführung von Sicherheitsstandards bei der Autoindustrie, wie man sie heute von der Flugzeugbranche her kennt. Diese Standards würden dann alle Entwicklungsphasen abdecken, von den ersten Prototypen, die an Supercomputerbildschirmen entstehen, über die Entwicklung bis hin zur Wartung.

 

Besser die Zukunft selbst erschaffen

Und was passiert mit den vielen sich noch im Betrieb befindlichen Verbrennerfahrzeugen? Das Ende dieser Fahrzeuge erwartet Ellis im Zeitraum nach 2035, wenn sie in der EU nicht mehr verkauft werden dürfen, sowie 2060 in den USA. Bereits vorher werde die Entwicklung neuer Verbrennermotoren reduziert und dann eingestellt werden. Denn auch das bisher gewohnte Modell der Industrie – ein bis drei Jahre Entwicklungszeit, drei bis fünf Jahre Produktion und dann Nutzungszeiträume von bis zu 15 Jahren – würde künftig nicht mehr funktionieren und dann auch nicht auf die immer spärlicher neu in Betrieb gesetzten Verbrennerfahrzeuge übertragen werden.

Und auch für die Hersteller hat Ellis einen Tipp parat: «Es ist der beste Weg, die Zukunft selbst zu erschaffen, als sie zu prognostizieren.» Ellis’ Tipps werden gehört, umgesetzt – und dann stellen sich seine Prognosen auch zuverlässig ein.