Wie geht es den Arbeitenden in der Schweiz heute? 
Die Pandemie hat sicher einen Einfluss auf das Wohlbefinden der Arbeitnehmenden. Wir sollten für die Beantwortung dieser Frage eigentlich den Job- Stress-Index 2022 (JSI) abwarten, den Gesundheitsförderung Schweiz nach den Sommerferien publizieren wird. Ich bin sicher, einige Menschen haben durch vermehrtes Homeoffice und hybrides Arbeiten an Flexibilität gewonnen. Die Resultate des JSI 2020 von vor der Pandemie zeigen, dass die Ressourcen und Belastungen im Mittel zwar ausgeglichen sind. Wir stellen aber eine signifikante Verschlechterung zu den JSI-Erhebungen 2014 und 2016 fest. Drei von zehn Erwerbstätigen (29,6 Prozent) haben mehr Belastungen als Ressourcen in einem Ausmass, das nicht durch zufällige Schwankungen erklärbar ist. Dieser Anteil steigt erneut, wobei der Anteil Erwerbstätiger abnimmt, die über mehr Ressourcen als Belastungen berichten. Fast ein Drittel der Erwerbstätigen – 28,7 Prozent – ist emotional erschöpft. 

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Gibt es Hinweise auf die Kosten? 
Arbeitsbezogener Stress kostet Arbeitgebende in der Schweiz laut JSI 2020 rund 7,6 Milliarden Franken pro Jahr. Im Fokus des Monitorings 2022 steht das Thema «Arbeitsintensivierung». Darunter ver¬steht man eine Zunahme der bei der Arbeit geleisteten Anstrengungen über die Zeit. Es wird vermutet, dass diese durch die immer stärkere Digitalisierung auch in der Schweiz zunehmend zu einer Belastung wird. 
Welche Unterschiede sehen Sie zwischen den Unternehmensgrössen? 
Wir stellen fest, dass die Verbreitung des Betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM) in Betrieben in der Schweiz tendenziell zunimmt. Knapp 75 Prozent der Betriebe mit 50 oder mehr Mitarbeitenden setzen bereits BGM-Massnahmen um – 26 Prozent davon sogar systematisch, weitere 48 Prozent mehrheitlich. BGM wird umso systematischer umgesetzt, je grösser der Betrieb ist. Seit 2016 hat sich der Umsetzungsgrad von BGM aber in mittleren Unternehmen mit 100 bis 249 Mitarbeitenden signifikant er¬höht, während er bei kleinen Unternehmen mit 50 bis 99 Mitarbeitenden und grossen Unternehmen mit 250 oder mehr Mitarbeitenden etwa gleich geblieben ist. 
 

Welche Unterschiede gibt es zwischen Angestellten und Selbstständigen? 
Angestellte haben immer höhere Erwartungen gegenüber ihrem Arbeitgeber. Viele HR-Manager berichten uns, dass die Vor¬stellungsgespräche in eine neue Richtung gehen. Die Arbeitnehmenden möchten mehr über die Kultur der Firma erfahren. Ein Selbstständigerwerbender entwickelt und verantwortet seine eigene BGM-Strategie. Dies hat den Vorteil, dass er sie schneller umsetzen kann, aber auch die Kosten tragen muss. Aber wie bereits erwähnt, KMU gehen da weniger systematisch vor. 


Welche Unterschiede sehen Sie zwischen den Hierarchiestufen? 
Es muss ein Thema für alle sein und betrifft alle Hierarchiestufen. Aber ohne die Unterstützung der Geschäftsleitung (GL) ist es sehr schwierig, in BGM zu investie¬ren. Sobald die Firmenkultur und systematisch umgesetztes BGM betroffen ist, muss die GL zwingend dahinterstehen.

 
Welche Unterschiede sehen Sie zwischen den Altersgruppen? 
Jüngere Erwerbstätige erleben mehr Arbeitsintensivierung. Der Job-Stress-Index 2020 zeigt, dass junge Erwerbstätige zwischen 16 und 24 Jahren im Vergleich zu anderen Altersgruppen in der Schweiz mit 42 Prozent nicht nur den höchsten Anteil im kritischen Bereich aufweisen, sondern auch den höchsten Wert bei der Gesamtskala der Arbeitsintensivierung. Vor allem in Bezug auf zwei Dimensionen der Arbeitsintensivierung unterscheiden sie sich von den älteren Erwerbstätigen, also denen im Alter von 55 bis 65 Jahren, signifikant: Sie nehmen erstens eine stärkere Intensivierung des Arbeitstempos und zweitens steigende Anforderungen und Entscheidungen in Bezug auf die eigene Karriereplanung wahr. 
 

Welche Veränderungen beziehungs¬weise Sensibilisierungen hat die Covid-19-Pandemie gebracht? 
Die Aufmerksamkeit für BGM ist gestiegen. Wir sind von vielen Betrieben während und nach der Pandemie kontaktiert worden, weil sie mehr über das Label «Friendly Work Space» wissen wollten. Man hat uns auch berichtet, dass Betriebe mit einem implementierten BGM und entsprechenden Erfahrungen besser durch die Pandemie kommen. Ohne BGM-Prozesse und Strukturen war und ist es schwieriger, die Mitarbeiten¬den kurzfristig zu unterstützen. 
 

Wie hat sich der Stellenwert beziehungsweise das Bewusstsein für Gesundheit in Unternehmen verändert? 
Ich sehe vor allem ein steigendes Bewusstsein beim Management. Eine Kultur des Wohlbefindens ist wichtiger geworden. Neben der Zufriedenheit und dem Wohlbefinden der Mitarbeitenden ist die Attraktivität als Arbeitgeber, das Employer Branding, ein wichtiger Grund für Betriebe, sich für systematisch umgesetztes BGM zu engagieren. 
 

Welches sind Massnahmen, mit denen Unternehmen die Gesundheit ihrer Angestellten verbessern können? 
Eine erfolgreiche BGM-Strategie muss sich sowohl auf den Einzelnen als auch auf die ganze Organisation beziehen und drei Ebenen der Prävention umfassen: Erstens betrifft sie die Gestaltung der Organisation und der Arbeit selbst. Das heisst, welche Managementmassnahmen, welche Gestaltung des Arbeitsraums und der Arbeitszeit und welche Unternehmenskultur können psychosoziale Risiken reduzieren und das Wohlbefinden am Arbeitsplatz und damit die Produktivität verbessern? Zweitens geht es darum, Risiken zu erkennen, bevor ein Ungleichgewicht die Gesundheit beeinträchtigt. Also, wie kann man beispielsweise bei Kollegen erste Anzeichen eines Burn-outs erkennen? Drittens zielt sie darauf ab, Men¬schen, deren Gesundheit beeinträchtigt ist, zu betreuen und das Risiko eines Rückfalls zu verringern. 
 

Wie sieht die betriebliche Gesundheitsförderung in Zukunft aus? 
Systematisch umgesetztes BGM wird sich weiter etablieren. 55 Prozent der Betriebe wollen sich in den kommenden Jahren stärker für BGM engagieren. Dabei geht es primär um zufriedenere und gesündere Mitarbeitende sowie weniger Absenzen. Knapp die Hälfte der Betriebe gibt an, dass vermehrter Investitionsbedarf bei der Sensibilisierung bezüglich Stress und psychischer Gesundheit besteht.
 

Der Berater

David Grandjean ist bei der Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz für die Sensibilisierung und Verbreitung des betrieblichen Gesund¬heitsmanagements (BGM) zuständig. Zusammen mit dem BGM-Team ist er für die Verbreitung der verschiedenen BGM-Tools und des Labels «Friendly Work Space» verantwortlich. Grandjean war mehr als zwanzig Jahre in diversen Funktionen in den Bereichen Marketing, Business Development und Unternehmensstrategie tätig. Er hilft Unternehmen, sich das nötige BGM-Wissen anzueignen, um eine nachhaltige Kultur und Politik im Bereich des betrieblichen Gesundheitsmanagements zu etablieren.