Die Digitalisierung schreitet schnell voran, Innovationen prägen den Alltag. Wird heute gleich über Innovation nachgedacht wie vor Jahrzehnten?

Es gibt immer wieder Zyklen, in denen sich die Menschheit stark mit der Zukunft beschäftigt. Das Ende des 19. Jahrhunderts und die Nachkriegszeit waren solche Zeiten. Im Unterschied zu heute wurde die Zukunft aber als Chance wahrgenommen. Heute fehlt die Lust, um die Dinge radikal infrage zu stellen und neu zu erfinden. Wir tun so, als befänden wir uns am Ende, statt zu denken, jetzt fängt es erst richtig an.

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Warum wird heute weniger positiv über die Zukunft nachgedacht?

Im Rückblick wissen wir: Einige Fortschritte im 20. Jahrhundert wurden zu Katastrophen, die Atombombe, die Chemieunfälle. Rohstoff-, Energie- und Platzknappheiten verstärken den Pessimismus. Und natürlich kann man den Klimawandel als Megakrise nicht mehr ignorieren – ebenfalls eine direkte Folge der Zukünfte der Vergangenheit.

Wie kehren wir zu einem positiven Bild von Innovation zurück?

Es ist zum Beispiel eine Frage der Kultur, gerade auch der Popkultur. Wie verhandeln Medien, Autorinnen, Politikerinnen und Influencer die mittelfristige Zukunft? Dominieren Visionen oder Gefahren? Vielleicht ändern sich die Dinge auch, wenn mehr Managerinnen und Managern dämmert, wie global und gross beispielsweise die Märkte der Solarenergie, des Wassermanagements oder der veganen Revolution sein werden.

Unser Bild der Zukunft zeichnet sich stets sehr linear. Heute träumen wir immer noch von fliegenden Autos. Sind wir in der Linearität gefangen?

Jede lineare Entwicklung hört irgendwann auf und es kommt zu Trendbrüchen. Nehmen wir das Auto. Jede und jeder besitzt ein Auto – eine schöne Zukunftsvorstellung der Vergangenheit. Aber das Auto für alle, auch das elektrifizierte, werden wir hoffentlich bald überwinden. Es braucht zu viel Energie und zu viel Platz, für Strassen, Parkplätze. Den Platz brauchen wir, um Wohnungen zu bauen, Lebensmittel zu pflanzen, damit das Wasser versickern kann, um die Biodiversität zu retten und um Freiräume für geselliges Miteinander zu haben.

«Jede Innovation wird irgendwann zum Problem.»

Joël Luc Cachelin

Lernen wir genügend von der Vergangenheit oder wiederholen wir die Fehler?

Da sich Geschichte nie wiederholt, machen wir auch nicht die gleichen Fehler. Jedoch sind wir zurzeit in veralteten Zukünften gefangen, dem Auto, dem billigen Fleisch, dem Einfamilienhaus. Umgekehrt halte ich die Vergangenheit für einen unterschätzten Innovationstresor. Es lohnt sich, zu prüfen, welche Zukünfte der 1950er Jahre sich durchsetzen konnten und welche nicht.

Welche vergangene Zukunftsvorstellung konnte sich nicht durchsetzen?

Zum Beispiel beschäftigte man sich schon damals mit der Frage, wie man in Zukunft den Planeten ernähren will. Dabei stiess man auf die proteinreiche Chlorella-Alge, die jetzt wieder als Lösung diskutiert wird. Als Gegenkultur ist die Lebensreform interessant, die ein natürliches, nacktes und gesundes Leben wollte. Natürlich stand sie ganz im Gegensatz zum Atomzeitalter, das man damals ausgerufen hatte. Alles sollte mit und durch das Atom neu gedacht werden – Landwirtschaft, Medizin, Energie. Möglicherweise ist die Digitalisierung von heute das Atomzeitalter von damals. Wir meinen, alles müsse digital sein. Jede Branche setzt auf Digitalisierung und übersieht so andere Innovationen.

Was spricht denn dafür, dass die heutige Digitalisierung das Atomzeitalter von damals ist?

Ich glaube, wir haben alle zu einfach über die Zukunft nachgedacht, ich inklusive. In den letzten zehn Jahren hörte ich oft: Wir brauchen mehr Digitalisierung! Häufig blieb jedoch die Antwort aus, warum etwas digitalisiert werden soll. Welches Problem der Kundschaft und der Gesellschaft wird damit gelöst? Und welche sozialen, ökologischen Nebenwirkungen nimmt man in Kauf? Nüchtern betrachtet ist der Hype um die Metaversen überzogen.

Warum ergibt das Metaverse keinen Sinn?

Weil es zurzeit noch rechnerisch illusorisch ist. Das Internet ist zu langsam, die Datenmenge zu gross. Ökologisch tun wir uns keinen Gefallen, mit all der Energie und den Gerätschaften, die für die Metaversen nötig sind. Die Pandemie zeigte, wie sehr wir noch analog funktionieren. Anwendungen der Augmented Reality finde ich sehr spannend, aber was passiert, wenn gewisse Menschen die Virtualität nicht mehr verlassen? Vor allem aber, und das ist mein zentrales Argument, hat die Menschheit gerade viel dringlichere Probleme zu lösen. Zum Beispiel Antibiotikaresistenzen. Das Szenario, dass in zwanzig Jahren Antibiotika nicht mehr wirken und jeder Katzenbiss potenziell tödlich wird, ist realistischer als das Metaverse.

Der Forscher

Name: Joël Luc Cachelin

Funktion: Futurist

Geboren: 12. November 1981

Wohnort: Dulliken SO

Zivilstand: ledig

Ausbildung: Dr. oec. HSG, M. A. Geschichte, Universität Luzern

Das Unternehmen: Die Wissensfabrik widmet sich seit 2009 den grossen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungsprozessen unserer Zeit. Die Wissensfabrik ist eine One-Man-Show, die sich aber als Netzwerk versteht. Sie bietet Auftragsstudien, Keynotes und Content-Produktion an. Cachelin berät und arbeitet in Innovationsprojekten und Beiräten mit. Er verbindet die Perspektiven von Zukunftsforschung, Geschichtswissenschaften und Changemanagement.

Früher hofften wir auf eine Demokratisierung durch das Internet. Was spricht dafür, dass sie gescheitert ist?

Die Demokratisierung ist insofern gescheitert, als sehr viel Internetzeit heute passiver Konsum ist. Auf Instagram sind heute jedes vierte Foto und jede vierte Story bezahlte Werbung. Meine Sorge gilt auch der Vermündlichung unserer Kultur. Was passiert, wenn immer weniger Menschen weder schreiben noch längere Texte lesen können?

Was spricht dafür, dass die Demokratisierung erfolgreich war?

Leute können auf den Plattformen aktiv etwas dazu beitragen, andere zum Nachdenken bringen. Sie vernetzen sich, erweitern ihr Wissen und reichern ihren Ideenreichtum an. Unsere Zukunft hängt davon ab, wie sinnvoll wir die Plattformen und allgemein den digitalen Raum nutzen. Das hängt mit digitaler Kompetenz zusammen, aber auch damit, Macht über die eigene Zeit zu haben. Es gibt ja zum Glück keine Instanz, die uns vorschreiben würde, was wir an einem Sonntag oder an einem freien Abend tun sollen.

Sie sprechen von grüner, pinker und silbriger Transformation. Wie funktioniert diese Farbenlehre?

Sie ist ein einfaches Modell, mit dem ich zeigen möchte, dass es mehr als eine Zukunft gibt. Die pinke Zukunft beschreibt die technologische Zukunft. Maschinen integrieren sich zunehmend in unser Leben, und die kreativen und emotionalen Fähigkeiten der Menschen werden wichtiger. Bei der grünen Zukunft geht es um das Verhältnis zu Pflanzen, Pilzen, Tieren und damit um Nachhaltigkeit. Die silbrige Zukunft dreht sich um die Demografie – die wachsende Bevölkerung, die Verstädterung und die alternde Gesellschaft.

Können diese drei Zukünfte denn koexistieren?

Natürlich, die Zukunft und die Megainnovationen von morgen bilden sich in den Schnittmengen. Es gibt aber Zielkonflikte. Blicken wir auf die Metaversen. Aus einer grünen Zukunftsperspektive greifen sie zu kurz. Die Lösung: eine ökologisch nachhaltige Digitalisierung. Wir müssen beides gleichzeitig betrachten. Um in der Farbenlehre zu bleiben: Im Moment getrauen wir uns noch viel zu wenig, die drei Farben zu mischen.

In welchen Bereichen der grünen Transformation braucht es dringend ein Umdenken?

Zwei Mega-Cluster müssen komplett neu gedacht werden: das Bauen und die Ernährung. Es ist offensichtlich, dass man – aufgrund von Ressourcenknappheit, Treibhausgasemissionen, Umweltschäden und einem erwarteten globalem Bevölkerungswachstum von 2 Milliarden oder 25 Prozent bis Ende Jahrtausend – diese Lebensbereiche neu denken wird.

«Ich plädiere für Chief Question Officers.»

Joël Luc Cachelin

Wie sieht die Zukunft der Ernährung aus?

Je früher wir uns von den tierischen Proteinen lösen, desto besser. Die Zukunft wird eine Mischung aus vier Ansätzen sein. Erstens und am wichtigsten: pflanzliche Ernährung. Zweitens neue Proteine durch Fermentierung und Biotechnologie, sprich Laborfleisch. Drittens eine Art Downgrading auf Insekten, Quallen und Muscheln, auf Tiere ohne zentrales Nervensystem. Viertens eine Landwirtschaft mit Tieren, die sich komplett am Prinzip des Kreislaufs orientiert und den Tieren so viele Rechte und Freiheiten wie möglich zugesteht. In Anbetracht des riesigen Potenzials erstaunt mich, dass der Diskurs über das künftige Ernährungssystem so düster ausfällt und wir über unsere Steuergelder Milliarden in ein völlig veraltetes Landwirtschafts- und Ernährungssystem leiten.

Liegt es daran, dass die heutigen Entscheider aus einer älteren Generation stammen und deshalb in einer gewissen Denkweise gefangen sind?

Auch. Es ist eine Generation, die von den Zukünften der Nachkriegszeit geprägt ist. Das war eine Epoche mit sehr starkem Wachstum, Stichwort «Trente Glorieuses», also die dreissig glorreichen Jahre, mit grenzenlosen und billigen Ressourcen, einem bipolaren Konflikt zwischen Ost und West und mit einem von Physikern dominierten Weltbild. Aber die Zeiten haben sich geändert – und bisher ist es nicht gelungen, Denkmodelle und Management in ein neues Zeitalter zu überführen.

Braucht es dafür Räume und Zeit für die Entscheidungsträger, damit diese sich zurückziehen und über solche Fragen nachdenken können?

Zeit und Raum, um sich in der Vergangenheit und Zukunft umzuschauen, sind das eine. Damit etwa Verwaltungsrätinnen und -räte sich diese Zeit nehmen, könnte es Sinn machen, die Anzahl der erlaubten Mandate zu beschränken. Das andere ist aber die Diversität und damit die Vertretung der Frauen, der Jugend, der Nachhaltigkeit und der Innovationsethik. Diversität heisst, mehr Chancen und mehr Risiken zu erkennen. Das ist wichtig, denn jede Innovation wird irgendwann zum Problem und muss überholt werden.

Braucht es einen Chief Ethic Officer?

Man könnte schon argumentieren, dass in jedem Verwaltungsrat jemand die Innovationsethik abdecken sollte. Das Fragen und Hinterfragen sollte aber die ganze Kultur eines Unternehmens durchdringen. Es braucht Denk- und Lernzeit für alle Mitarbeitenden, nicht nur für die Spitze. Deshalb plädiere ich für Chief Question Officers. Für die nächsten Jahre brauchen wir schliesslich mehr Trennungskompetenz – als Individuum ebenso wie als Unternehmen. Um uns von den Zukünften der Vergangenheit zu lösen, vielleicht auch von unrealistischen digitalen Träumen. «Kill Your Darlings», sagen die Design-Thinking-Profis …