Frau Roig, Sie setzen sich für das Thema Intersektionalität, also das Zusammenfallen mehrerer Unterdrückungsmechanismen, ein. Ein Thema, das Sie seit Ihrer Kindheit begleitet. Können Sie davon erzählen?

Geboren wurde ich in den Vororten von Paris als Tochter eines jüdisch-algerischen Vaters und einer Mutter aus Martinique. Als Kind erzählte ich bei Hänseleien jeweils, ich sei Métisse – nicht ganz so Schwarz, weil ich wusste, dass weisse Menschen besser angesehen werden. Ich war von klein auf sehr empfindlich bezüglich Ungleichheiten – das hatte starke emotionale Auswirkungen auf mein Leben.

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Und führte dazu, dass Sie heute den Kampf gegen die Intersektionalität aufgenommen haben?

Damals hatte ich nicht die Zeit und die Mittel, um zu verstehen, was Klasse, Geschlecht oder Nationalität ausmachen. Mit der Zeit lernte ich es. Und auch, dass man in diesem Bezug Privilegien haben kann oder eben nicht – das will ich ändern.

 

In Ihrem Buch «Why We Matter» geben Sie direkte Einblicke in Ihr Denken, Ihre Geschichte und Erfahrungen. Wer das Buch liest, bekommt Gänsehaut.

Das Buch ist eine Kurzfassung meines Denkens der letzten 15 Jahre. Ich zeige auf, wie sich die Unterdrückung in den verschiedenen Bereichen unseres Lebens materialisiert: zu Hause, in der Schule, im Krankenhaus, bei der Arbeit, im Justizsystem. Das Buch macht Unterdrückung für die Menschen zugänglich. Aber Unterdrückung ist für viele Menschen schwer zu begreifen – deshalb wollte ich die Leserinnen und Leser im Buch spüren lassen, was Unterdrückung bedeutet.

 

Wenn man keine Zeit hat für das ganze Buch, welches Kapitel muss man gelesen haben?

Am liebsten alle Kapitel, aber wenn ich aussuchen muss, dann wären es Kapitel drei, zu Hause, und Kapitel vier über das Wissen – was heisst Wissen und wie definieren wir Objektivität. Diese beiden Kapitel können als Grundlage dienen. 

 

Jetzt haben wir Krieg in Europa, die Energiekrise greift um sich, die Inflation steigt weiter. Stehen Diskriminierungsthemen noch im Fokus?

Unbedingt. Denn die Krise macht Diskriminierung deutlicher sichtbar. Die wirtschaftliche Rezession, die sich abzeichnet, führt dazu, dass es Menschen gibt, die mehr verlieren als andere. Die stärker betroffen sind und einen höheren Preis zahlen. Und das sind sowieso die Menschen, die bereits diskriminiert werden – nach «Rasse» oder Geschlecht. In der Krise wird Unterdrückung sichtbarer und brutaler.

 

Keine aufbauenden Worte. Inwiefern beeinflussen Social Media Diskriminierung? Helfen sie oder verbreitet sich primär Hass auf den Online-Medien?

Social Media sind ein Werkzeug: Wenn man einen Hammer hat und das Haus abreisst, dann ist er nützlich. Aber wenn man jemanden mit einem Hammer umbringen will, dann ist es ein schreckliches Werkzeug. Zum Glück gibt es überzeugende Beispiele von Social Media, beispielsweise #metoo, #fridaysforfuture, #blacklivesmatter. Sie haben uns schon weitergebracht.

 

Aber?

Aber weil leider auch Social-Media-Plattformen ein kapitalistisches System zugrunde liegt und sie von Profiten angetrieben werden, finden sich auf ihnen auch Menschen, die Fakten negieren oder wissenschaftliche Erkenntnisse leugnen. Durch das System und das generierte Interesse werden deren Beiträge geteilt und verbreitet. Es müsste im Internet so viel getan werden, um sicherzustellen, dass die Informationen auf diesen Plattformen der Öffentlichkeit dienen und kein Risiko darstellen.

Sie erwähnten ein kapitalistisches System – was könnte die Wirtschaft gegen Diskriminierung und Unterdrückung tun?

Sie könnte theoretisch etwas Revolutionäres tun. Unser globales Währungssystem basiert auf der Grundlage der Kolonialisierung. Die Tatsache, dass Europa reich ist, liegt nicht daran, dass Europa klüger ist; nein, es liegt daran, dass es jahrhundertelang den Rest der Welt ausbeutete (und es weiterhin tut) und davon profitierte. Unser internationaler Handel findet nicht auf Augenhöhe statt. 

 

Was also könnte die Wirtschaft, die europäische Wirtschaft, effektiv unternehmen?

Ich sehe drei Möglichkeiten: Erstens, das Geld sollte an die Länder zurückgegeben werden, denen es gehörte. Zweitens sollten die Steuern auf das Kapital, auf Reichtum, erhöht werden, anstatt dass man sich nur auf Einkommenssteuern fokussiert. Gerade die Einkommenssteuern sollten für die ärmere Bevölkerung und die Mittelschicht gesenkt werden. Ganz speziell wichtig ist mir hier der Aspekt der Vererbung – sie fördert die soziale Klassenungleichheit. Höhere Steuern auf Erbschaften hilft, Ungleichheiten zu mildern.

 

Erbschaften sind immer ein heikles Thema.

Die Leute sagen, dass sie für ihre Art von Reichtum hart gearbeitet haben – aber es ist nicht nur harte Arbeit. Ein grosser Teil des deutschen Erbes ist mit der kolonialen und genozidalen Geschichte verwoben. Wir können heute nicht wirklich zwischen Reichtum und historischen Entwicklungen unterscheiden.

 

Sie sprachen von drei Punkten?

Der dritte Punkt ist die soziale Sicherheit. Die muss gepflegt und bewahrt werden. Aber im Moment ist sie im Umbruch – seit einiger Zeit steigt die Anzahl Menschen ohne Wohnung. Die Märkte sind hier der Treiber und zwingen immer mehr Leute in die Armut. Hier sollte die Wirtschaft auch ansetzen.

 

Was also würden Sie als Erstes an der europäischen Agenda ändern, wenn Sie könnten?

Die Vorstellung aufgeben, dass Europa anderen Ländern überlegen ist.

Millennials im Brennpunkt

«Let Europe arise. Die nächste Generation übernimmt in herausfordernden Zeiten. Welches Europa wollen die Millennials jetzt?» lautet das diesjährige Hauptthema der Gesprächs- und Ideenplattform Europa Forum. Als Höhepunkt der Jahresaktivitäten findet am 23. und 24. November 2022 das Annual Meeting im KKL Luzern statt.

Zu den namhaften Speakerinnen und Speakern zählen Bundesrätin Simonetta Sommaruga, Deutschlands früherer Aussenminister Sigmar Gabriel, Bundespräsident a.D. Christian Wulff, Historiker und Publizist Timothy Garton Ash, Schriftstellerin Nora Bossong, Chefin Sicherheitspolitik des VBS Pälvi Pulli, Alena Buyx und Franca Lehfeldt. Sichern Sie sich jetzt Ihr  Ticket.

Tina Fischer
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