Das Europa Forum wählt gemeinsam mit Ringier Axel Springer Schweiz jährlich 25 Impulsgeberinnen und Impulsgeber aus den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Gesellschaft und Generation Zukunft. Es werden damit Menschen gewürdigt, die mit ihren Leistungen, Visionen und Ideen im Zusammenhang mit dem Jahresthema des Europa Forums wertvolle Spuren hinterlassen, einen relevanten Beitrag leisten und letztlich auf ihre Art prägend sind. Nachfolgend fünf Porträts aus dem Bereich Wissenschaft.

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Yascha Mounk, 39: Verfechter der Demokratie

Russland hat die Ukraine angegriffen. Ein autoritär regierter Staat führt Krieg gegen ein demokratisches Land in Europa. Es ist eine Situation, die viele Menschen im Westen für undenkbar hielten. Yascha Mounk war schon lange klar, welche Gefahr von Autokraten wie Wladimir Putin ausgeht. Der deutsch-amerikanische Politikwissenschafter warnte in den letzten Jahren immer wieder vor der Bedrohung von offenen Demokratien durch Autokratie und Populismus; er schrieb sogar ein Buch darüber (dt. «Der Zerfall der Demokratie»). Der Westen hat geeint auf die russische Attacke reagiert. Das stimme ihn optimistisch, sagt Mounk. «Der Westen hat beschlossen, etwas für die Verteidigung seiner Werte zu unternehmen.» Entscheidend sei aber, wie sich die Situation nach einigen Jahren präsentiere, nicht nach einigen Wochen und Monaten. «Für die ältere Generation in Europa war der Schrecken der Alternative zu Demokratie immer lebendig. Die jüngere hat der Demokratie zu wenig Bedeutung beigemessen.» Zu dieser jüngeren Generation zählt sich der 39-Jährige selber. Auch Yascha Mounk ist in einer Zeit aufgewachsen, in der ein Krieg in Europa kaum denkbar schien – er nennt diese Zeit den «Urlaub von der Geschichte». In München geboren, führte ihn das Studium zuerst nach Cambridge in England und anschliessend in die USA an die Harvard University. Heute lehrt und forscht der Politikwissenschafter an der Johns Hopkins University über das Spannungsfeld zwischen Demokratie und Populismus. In seinem neuesten Buch (dt. «Das grosse Experiment») richtet er den Blick auf ethnisch und religiös vielfältig zusammengesetzte Demokratien und geht der Frage nach, wie sie den grossen Herausforderungen unserer Zeit begegnen können. Yascha Mounk hofft, dass die künftigen Generationen von Europäern und Europäerinnen die «Fragilität der Demokratie» besser erkennen. Der Russland-Ukraine-Krieg habe Europa die Dringlichkeit der Lage wieder klargemacht. Marc Bürgi

5 Fragen an Yascha Mounk

Ihr Wunsch für Europa?
Dass wir die Bedrohung durch Autokraten endlich ernst nehmen und mit Mut sowie Intelligenz gegen sie ankämpfen.

Ihre grösste Sorge?
Dass wir weiter so tun, als könnten wir auf immer einen Urlaub von der Geschichte geniessen.

Worauf sind Sie stolz?
Dass ich sage, was ich denke, auch wenn ich weiss, dass es unpopulär ist.

Ihre erste Amtshandlung, wenn Sie EU-Vorsitzender wären?
Gerade weil ich ein überzeugter Europäer bin: die Idee einer immer engeren Union für beendet erklären.

Was wollen Sie in zehn Jahren erreicht haben?
Die Welt besser verstehen.

Thomas Crowther, 36: Der Ökopreneur

Als Kind träumte Thomas Crowther, Assistenzprofessor am Departement für Umweltsystemwissenschaften der ETH Zürich und Vorsitzender der UN-Dekade zur Wiederherstellung von Ökosystemen, Nacht für Nacht von Schlangen und verbrachte Stunden damit, die Natur zu beobachten. In seiner beruflichen Laufbahn hat er sich vor allem mit der Analyse von Pilzen und Insekten und ihren Wechselwirkungen mit komplexen Bodenökosystemen befasst. Seine Arbeit führte ihn von Wales an die US-Eliteuniversität Yale, dann in die Niederlande und schliesslich nach Zürich.

Spätestens 2019 wurde die breite Öffentlichkeit auf den Waliser aufmerksam. Zusammen mit dem ETH-Forscher Jean-François Bastin veröffentlichte Crowther ein Paper, das sogar auf dem Schreibtisch des ehemaligen US-Vizepräsidenten Al Gore landete. Die Kernaussage: Ausserhalb der städtischen und landwirtschaftlichen Gebiete gibt es 0,9 Milliarden Hektar Land, auf denen eine Billion Bäume natürlich wachsen können. Diese Bäume könnten einen wichtigen Beitrag zur Eindämmung der globalen Erwärmung leisten, indem sie Kohlendioxid aus der Atmosphäre absorbieren und im Boden speichern. Das Papier löste eine globale Debatte aus. Marc Benioff, der milliardenschwere Mitbegründer des Softwareunternehmens Salesforce, wurde auf Crowther aufmerksam und bezeichnete ihn als den Steve Jobs der Umweltwissenschaft. Crowther sei ein Ökopreneur, sagte Benioff. Seine Forschung habe das Potenzial der Natur zur Eindämmung des Klimawandels und des Verlusts der Artenvielfalt aufgezeigt. Ein Ritterschlag.

Dr. Thomas Crowther, Professor für Globale Systemökologie, UN-Wissenschaftsberater und Gründer des Crowther Lab an der ETH Zürich.

Thomas Crowther

Quelle: Daniel Auf der Mauer / 13 Photo

Crowthers Arbeit mündete schliesslich in das Trillion Trees Project des Weltwirtschaftsforums (WEF). Crowther ist Mitglied des Beirats. Und er hat immer betont, dass es dabei um den sozial und ökologisch verantwortlichen Schutz der Natur gehen muss. Crowther hat Restor ins Leben gerufen – eine digitale Plattform, die Millionen von lokalen Renaturierungsinitiativen auf der ganzen Welt miteinander verbindet und fördert. Sie wurde als Finalistin für den Earthshot-Preis von Prinz William ausgewählt. Die Initiative unterstützt das Ziel der Vereinten Nationen, in den kommenden Jahren das Bewusstsein der Gesellschaft für Umweltfragen zu schärfen. Marc Iseli

Isabel Martínez, 36: Ressourcen im Blick

Bereits als Kind diskutierte Isabel Martínez Fragen zu Politik und Gesellschaft mit ihren Eltern am Mittagstisch. Diese Erfahrung prägte die Bernerin nachhaltig: «Ich interessiere mich für die Verteilung von Einkommen und Vermögen und dafür, wie diese zustande kommen. Wir Menschen leben immer in Gesellschaft, sind Teil eines Gemeinwesens.» Beim Zusammenleben würden sich aber unweigerlich Fragen stellen, die das Gemeinwesen stark beeinflussen: Wie verteilen wir begrenzte Ressourcen? Nicht nur monetäre Ressourcen, auch Arbeitskraft, Zeit und Pflichten. Wer übernimmt was und weshalb?

Um Antworten auf die Fragen zu erhalten, studierte Martínez Volkswirtschaftslehre an der Universität Bern und promovierte an der Universität St. Gallen. Ihr Fachwissen bringt sie heute bei verschiedenen Gremien ein und erklärt die abstrakte Zahlenwelt mit greifbaren Beispielen: Vermögen sei klebrig wie Caramel, während Einkommen eher einem Fluss gleiche.

Isabel Martinez auf der High Line, Manhattan. New York, USA, 20.10.2021 Engl.: Isabel Martinez, Swiss economist, conducts research on inequality in particular and is one of the most influential economists in Switzerland, Europe, portrait on 20 October 2021, female, woman, science, scientist

Isabel Martínez

Quelle: Stefan Falke/laif

Seit April 2020 arbeitet die Ökonomin bei der Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH. Daneben schreibt Martínez regelmässig Kolumnen für die «Handelszeitung», ist Mitglied der Schweizer Wettbewerbskommission (Weko) und unterstützt den Ökonomen Thomas Piketty bei der Erstellung der World Inequality Database. Spannend ist, dass Isabel Martínez’ Themen nicht an Aktualität verlieren: So untersuchte sie, wie sich das erste Pandemiejahr auf die Ungleichheit ausgewirkt hat. Auch die Thematik der Chancengleichheit in Bezug auf intergenerationelle Mobilität ist ein Standbein ihrer Forschung, das aufgrund des demografischen Wandels den Nerv der Zeit trifft. Die Fragen, die Martínez bereits seit Kindesbeinen beschäftigen, sind also nicht einfach zu beantworten, und die Antworten verändern sich über die Zeit. Das Interesse und ihre steile Karriere sind jedoch der beste Beweis dafür, dass ihre Forschung einen unverzichtbaren Beitrag für die Gemeinschaft darstellt. Tina Fischer

Franziska Mathis-Ullrich, 35: Herrin der Roboter

Dass Chirurginnen dereinst mit Unterstützung von Robotern am Menschen operieren werden, davon hätte man noch vor hundert Jahren nicht zu träumen gewagt. Damit dies in greifbare Nähe rückt – dafür forscht Franziska Mathis-Ullrich. Die Juniorprofessorin für Medizinrobotik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und ihre Teamkollegen untersuchen im Rahmen des Projekts «Koala – Kognitive Assistenz für die Laparoskopie», wie man Robotern beibringen kann, chirurgische Aufgaben autonom zu unterstützen. «Dazu nutzen wir Methoden des maschinellen Lernens, um zunächst die robotische Perzeption zu verbessern sowie gezielt und kontextabhängig Bewegungen autonom durchzuführen», erklärt Mathis-Ullrich.

Bereits als Kind von Technik begeistert, studierte Mathis-Ullrich Maschinenbau und Robotertechnik an der ETH Zürich. Als Post-Doktorandin gründete sie das Startup Ophthorobotics zur Entwicklung des weltweit ersten Systems, das automatisiert Medikamente ins Auge injiziert. «Dass durch das Hintereinanderschalten von mehreren relativ einfachen Mechaniken menschliche Bewegung kopiert werden kann, fasziniert mich», erklärt die Wissenschafterin. Noch faszinierender sei, dass neben den aus der Industrie bekannten Roboterarmen auch kleinste Mikroroboter existieren, die durch den Körper schwimmen können, oder sogenannte weiche Kontinuumsroboter, welche sich wie eine flexible Schlange bewegen lassen. «Somit erweitern Roboter das menschliche Bewegungsvermögen, und das mit höchster Präzision.»

Franziska Mathis-Ullrich

Franziska Mathis-Ullrich

Quelle: Kit

Um zu gewährleisten, dass die von ihr entwickelten Systeme tatsächlich einen klinischen Nutzen in der Realität bringen, amtet Mathis-Ullrich als Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Computer- und Roboterassistierte Chirurgie (Curac), in der sie eng mit Chirurgen und Chirurginnen zusammenarbeitet. Für ihre Arbeit erhielt Franziska Mathis-Ullrich bereits mehrere Auszeichnungen, unter anderem den Neo-Innovationspreis 2019 der Technologieregion Karlsruhe. Jasmine Alig

Bastien Nançoz, 31: Europhiler Historiker

Er ist ein Vertreter der Erasmus-Generation: Bastien Nançoz verband sein Geschichtsstudium mit einem einjährigen Aufenthalt in Berlin. Bekannt wurde er jedoch durch seine Forschung über die Freundschaft, die der französische Präsident François Mitterrand der Schweiz entgegenbrachte. Für sein Buch wurde er mit zwei europäischen Preisen ausgezeichnet.

Dreissig Jahre nach einer Abstimmung über den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), die die Europhilen in der Schweiz traumatisiert hat, muss man sich kneifen, um zu glauben, dass man nicht träumt. Einer der mächtigsten Staatsmänner Europas, François Mitterrand, liebte die Schweiz so sehr, dass er sie achtmal besuchte und sie in ihrer Fähigkeit, «die Identität eines jeden zu bewahren, ohne der nationalen Identität zu schaden», als «Kunstwerk» bezeichnete. Das hielt die Schweizerinnen und Schweizer jedoch nicht davon ab, den EWR abzulehnen. Fast drei Jahrzehnte später begrub der Bundesrat am 26. Mai 2021 das Rahmenabkommen mit der EU, das es ihm ermöglicht hätte, den bilateralen Weg nach dem Scheitern von 1992 wieder zu beleben. «Ein weiteres verpasstes Rendezvous mit der Geschichte», bedauert Bastien Nançoz. Die Schweiz ziehe sich in ihre Reduit-Mentalität zurück. «Sie wird nun in die Enge getrieben und muss sich zwischen Isolation und EU-Beitritt entscheiden.» Der 31-jährige Historiker hat seine Wahl getroffen: Er ist ein Befürworter des Beitritts.

Portrait de Bastien Nançoz, politologue. Fribourg, avril 2022. ©Stéphanie Borcard et Nicolas Métraux pour Le Temps

Bastien Nançoz

Quelle: Stéphanie Borcard und Nicolas Métraux für «Le Temps»

Bastien Nançoz bedauert sehr, dass der Bundesrat das Rahmenabkommen nicht dem Volk vorgelegt hat. «In der Schweiz pflegen wir eine Art Schizophrenie: Kulturell und wirtschaftlich sind wir Europäerinnen und Europäer, aber politisch ist unsere Integration in die Europäische Union ein Tabu.» Für ihn besteht kein Zweifel daran, dass der bilaterale Weg, den die EU nicht mehr will, zu einem langsamen Tod verurteilt ist. Der Ausbruch des Krieges in der Ukraine hat es der Schweiz ermöglicht, sich bei den Sanktionen gegen Russland und bei der Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge solidarisch zu zeigen. Aber die Beziehung zwischen Bern und Brüssel ist für lange Zeit getrübt. Nançoz: «Mit der Pandemie und dann dem Krieg hat die EU Wichtigeres zu tun, als sich um ihre Beziehung zur Schweiz zu kümmern.» Michel Guillaume 

Millennials im Brennpunkt

«Let Europe arise. Die nächste Generation übernimmt in herausfordernden Zeiten. Welches Europa wollen die Millennials jetzt?» lautet das diesjährige Hauptthema der Gesprächs- und Ideenplattform Europa Forum. Als Höhepunkt der Jahresaktivitäten findet am 23. und 24. November 2022 das Annual Meeting im KKL Luzern statt.

Zu den namhaften Speakerinnen und Speakern zählen Bundesrätin Simonetta Sommaruga, Deutschlands früherer Aussenminister Sigmar Gabriel, Bundespräsident a.D. Christian Wulff, Historiker und Publizist Timothy Garton Ash, Schriftstellerin Nora Bossong, Chefin Sicherheitspolitik des VBS Pälvi Pulli, Alena Buyx und Franca Lehfeldt. Sichern Sie sich jetzt Ihr  Ticket.