Wenn bei Sensirion in Stäfa Rohstoffe oder Komponenten eintreffen, ist Präzision Pflicht. Jeder Sensor, der später in medizinischen Geräten, Autos oder Industrieprozessen zum Einsatz kommt, muss exakt den Qualitätsvorgaben entsprechen. Der Beweis dafür steckt in einem unscheinbaren Dokument: dem Certificate of Conformance (CoC). Das Konformitätszertifikat ist eine Art Gütesiegel, das bestätigt, dass die gelieferten Materialien die geforderten Spezifikationen erfüllen.
Früher bedeutete dies für das Qualitätsmanagement viel Handarbeit: Zertifikate kamen per E-Mail oder als Ausdruck mit der Lieferung, mussten einzeln geöffnet, geprüft, mit der Bestellung in SAP abgeglichen und archiviert werden. «Da steckt erstaunlich viel manuelle Kontrolle drin», sagt Juraj Uhrin, Lead SAP Specialist bei Sensirion. «Man muss prüfen, ob es überhaupt das richtige Zertifikat ist, ob die Bestellnummer stimmt, ob die Charge passt, und das alles manuell in SAP dokumentieren.»
Das Zielbild: Fehlerquellen runter, Tempo rauf
Als 2023 der Aufruf zum SAP-Hackathon kam, zögerten Uhrin und sein Kollege David Nussböck, Lead SAP Software Engineer, nicht: Das CoC-Thema ist ein idealer Kandidat für eine intelligente Automatisierung. «Wir wollten einen echten Business-Use-Case bringen, nichts Theoretisches», so Uhrin. Gemeinsam mit dem Qualitätsmanagement definierte das Duo die Anforderungen: Der Prozess sollte automatisch erkennen, wenn ein CoC-Dokument eintrifft, die relevanten Informationen extrahieren, prüfen und im SAP-System verarbeiten, inklusive Archivierung und Verknüpfung mit Wareneingängen. Das Ziel: weniger manuelle Arbeit, weniger Fehlerquellen, mehr Zeit für anspruchsvollere Aufgaben.
Vier Tage, zwei Entwickler, ein funktionierender Prototyp
Was andere mit grossen Teams und Beraterunterstützung angehen, schafften Uhrin und Nussböck zu zweit in nur vier Tagen. Der «Trick» war die vorgängige Vorbereitung: Noch vor dem Start standen die eigene BTP-Subaccount-Landschaft, Serviceinstanzen für SAP Build Process Automation und Document AI Extraction bereit. Firewall-Freigaben, Security-Policies für das Edge-Browser-Plugin (Process Automation extension Edge) und ein virtueller Server für den Desktop-Agenten waren eingerichtet, Testbestellungen, Material- und Chargendaten lagen als Referenzfälle vor. So konnten die beiden bereits am Tag eins in die eigentliche Modellierung einsteigen. Am Tag zwei lief die End-to-End-Integration in der eigenen BTP-Umgebung.
Beim Hackathon selbst arbeiteten sie mit SAP Build Process Automation, dem Service für KI-gestützte Dokument-Extraktion (Document AI Extraction) und der SAP Business Technology Platform (BTP), die bidirektional über Schnittstellen mit dem S/4HANA-System von Sensirion verbunden ist. E-Mails wurden automatisch abgeholt, PDFs extrahiert, Schlüsselmerkmale erkannt, mit SAP-Stammdaten und Belegen abgeglichen und Ergebnisse zurückgeschrieben, inklusive Archivierung und automatischer Bewertung des Prüfloses.
«Wir waren die Einzigen, die den kompletten End-to-End-Prozess live zeigen konnten», erinnert sich Nussböck. «Vom E-Mail-Eingang über die Datenerkennung bis zur Buchung im SAP-System lief alles durch.» Der Coach habe sich gewundert, wie schnell das Team arbeitet. «Wir waren gut vorbereitet», sagt Uhrin schmunzelnd. «Und wenn man weiss, was man tut, ist es plötzlich ganz einfach.»
PDFs rein, Erkenntnisse raus: So funktioniert die Lösung
Heute werden eingehende Zertifikate in der grossen Mehrheit der Fälle automatisch erkannt. Das System liest die PDFs aus E-Mails aus, identifiziert Bestellnummern, Materialnummern und Chargen. Mithilfe von künstlicher Intelligenz analysiert der Document-AI-Extraction-Service den Text und erkennt, ob es sich tatsächlich um ein gültiges Konformitätszertifikat handelt.
Anschliessend gleicht die Lösung die Daten mit dem SAP-System ab. Wird eine passende Bestellung gefunden, wird das Dokument im SAP-Opentext-Archiv hinterlegt und dem Wareneingang zugeordnet. Das zugehörige Prüflos in der Qualitätsprüfung wird automatisch mit «CoC erhalten und ok» markiert. Nur wenn Abweichungen auftreten, erhält die Fachabteilung eine Benachrichtigung.
«Das Schwierigste war, die Erkennungslogik robust zu gestalten», erklärt Nussböck. «Zertifikate sind nie gleich formatiert. Manche sind mehrseitig, andere enthalten mehrere Bestellungen. Die KI musste lernen, diese Unterschiede zu verstehen.»
Low Code, High Impact
SAP Build Process Automation ist eine Low-Code-Plattform zur Automatisierung von Geschäftsprozessen, die Funktionen für Workflow-Management, robotergestützte Prozessautomatisierung (RPA) und KI-gestützte Dokumentenverarbeitung in einem Tool vereint. Sie ermöglicht es Nutzern ohne umfangreiche Programmierkenntnisse, wiederkehrende manuelle Aufgaben zu automatisieren und Prozesse zu digitalisieren.
Obwohl SAP Build Process Automation als Low-Code-Umgebung gilt, sei der Entwicklungsaufwand beachtlich gewesen. «Low Code ist kein Selbstläufer», sagt Uhrin. «Man braucht technisches Verständnis, sonst verliert man den Überblick. Aber für uns war es ideal: Wir konnten schnell Workflows modellieren und sie bei Bedarf mit eigenem Code erweitern.»
Das Resultat war eine voll funktionsfähige, produktionsnahe Lösung, die bereits nach dem Hackathon im Pilotbetrieb getestet wurde. Heute läuft sie stabil und wird laufend erweitert, etwa um zusätzliche Dokumenttypen und komplexere CoC-Formate.
Vom Mail-Eingang bis zur Buchung in einem Durchlauf
Wie viel Zeit und Aufwand die Automatisierung genau spart, wird aktuell noch evaluiert. Doch der Nutzen ist spürbar. «Die Kolleginnen und Kollegen im Qualitätsmanagement sind begeistert», berichtet Uhrin. «Sie müssen nicht mehr jedes E-Mail öffnen, sondern bekommen eine Info, wenn etwas nicht passt. Der Leiter des Qualitätsmanagements selbst betreibt das System mit. Das zeigt, wie gut es angenommen wird.»
Auch SAP zeigte sich beeindruckt. Der CoC-Use-Case war einer der Ersten, die Document AI Extraction und Process Automation Extension Edge für einen Produktionsprozess nutzten. «Wir haben später erfahren, dass wir zu diesem Zeitpunkt die Einzigen weltweit waren, die diese Kombination produktiv eingesetzt haben», erzählt Nussböck nicht ohne Stolz.
Blaupause für weitere Automatisierungen
Sensirion hat sich nicht nur mit seinen Sensoren einen Namen gemacht, sondern auch mit seiner digitalen Innovationskultur. Das Unternehmen führte bereits 2018 SAP S/4HANA ein, komplett intern, ohne externe Implementierungspartner. Dasselbe Selbstverständnis prägte auch das CoC-Projekt: pragmatisch, technisch versiert, nah am Geschäft. «Wir sind Entwickler», sagt Uhrin. «Wir brauchen kein grosses Management-Set-up, um Ideen umzusetzen. Wenn wir ein Problem sehen, entwickeln wir die Lösung.» Das Ergebnis: ein digitaler Prozess, der Routinearbeit reduziert, Datenqualität verbessert und den Weg für weitere Automatisierungen ebnet. Ein kleines Projekt mit grosser Signalwirkung nicht nur für Sensirion, sondern auch für andere Unternehmen, die sehen, wie sich mit überschaubarem Aufwand messbare Effizienzgewinne erzielen lassen.

