Sie haben das Europa Forum Luzern neu erfunden. Es heisst nun Lucerne Dialogue. Weshalb?

Dominik Isler (DI): Das Europa Forum wurde im Anschluss an das EWR-Nein 1992 gegründet, mit dem Ziel, über das künftige Verhältnis der Schweiz zur EU nachzudenken. In der sich herausbildenden Welt kann man nicht überall Nein sagen und profitieren, man muss auch etwas geben. Wir möchten also aus der Schweiz heraus einen Beitrag leisten zur Stärkung von Europa als plural-liberalen Wirtschafts- und Lebensraum.

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Europa statt nur die EU mit 27 Staaten?

DI: Richtig. Uns leitet die Frage: Wie können wir diesen vielfältigen und wunderbaren Kontinent stärken, lebenswert erhalten – und wo sehen wir Schwächen, die es auszumerzen gilt. Was müssen wir der Wirtschaft bieten, dass sie florieren kann, der Jugend, dass sie mit diesem Kontinent und seinen Werten verbunden bleibt. Und gerade in den Aspekten wie Innovationskraft, Demokratie oder Partizipation hat die Schweiz, bei aller Bescheidenheit, gewisse Trümpfe vorzuweisen.

Haben Sie ein Vorbild?

DI: Vielleicht das internationale Musikfestival Lucerne Festival. Da stehen keine Amateure auf der Bühne, sondern die Besten ihres Fachs. Gemeinsam schaffen sie etwas Neues.

Das heisst?

DI: Ich will in diesem Annual Meeting die hellsten Köpfe aus Europa und der Schweiz in unseren Foren haben. Und dann hoffe ich natürlich, dass wir in zehn Jahren bei einer wirklich europäischen Ausstrahlung sind.

Und Luzern und die Schweiz bieten die Kulisse?

DI: Auch, aber noch viel mehr. Die Schweiz muss aktiv beitragen zu einem leistungsfähigen Europa. Wir wollen die Plattform bieten, um mit Europäerinnen und Europäern zu debattieren und nach zukunftsfähigen Lösungen suchen. Dabei ist vor allem die jüngere Generation gefordert, die zentral ist für die Kreation eines neuen Europas – vor allem seit wieder Krieg herrscht in Europa, was neue Fragen aufwirft. Die Hälfte unserer Teilnehmenden ist darum unter 45.

Frau Büttner, Sie haben in St. Gallen, Stockholm und Stanford studiert und arbeiten in Deutschland. Kann Europa die Welt vorantreiben?

Nicole Büttner (NB): Europa muss. Ich rede gerne von der Wertegemeinschaft Europa, die mich geprägt hat, obwohl ich viel unterwegs war. Ich bin beruflich stark in der Technologiewelt engagiert und sehe, dass Europa enorm viel bietet.

Zum Beispiel?

NB: Ich wünsche mir, dass Europa nicht nur ein spannender Absatzmarkt ist, sondern mitwirkt und mitbestimmt. Bei Persönlichkeitsrechten, Eigentumsrechten, Cybersicherheit, Nachhaltigkeit. Ich glaube, wir müssen uns in vielen Bereichen neu organisieren, gemeinsame Positionen aufbauen, sonst gehen wir im Konzert der grossen Blöcke unter. Europa muss sich durchsetzen können und Relevanz erarbeiten, sonst werden wir zu Befehlsempfängern. Und es ist ja nicht so, dass die Welt auf uns wartet. In Europa leben gerade mal 5 Prozent der Weltbevölkerung. Wir müssen uns einbringen, Gehör verschaffen. Wir haben einiges zu verteidigen, das ist besonders für meine Generation wichtig.

DI: Wir müssen das Prinzip «Walk the talk» durchsetzen. Wir können nicht nur reden und hoffen, dass uns jemand hört. Wir müssen Impulse geben, damit Europa sicherer, leistungsfähiger und lebenswerter wird. Mit Engagement und Ideen schaffen wir uns Glaubwürdigkeit. Und da haben wir einiges nachzuholen.

Aber eine kontroverse Debatte soll es schon sein.

DI: Auf jeden Fall, aber es muss nicht knallen. Lieber kontroverse Themen mit neuen Ideen und Ansätzen aufmischen als einander die alten Argumente an den Kopf hauen. So müssen wir beispielsweise, wie Nicole sagt, die Regulierung von KI thematisieren und prägen. Da darf es keine Zurückhaltung geben, die Risiken sind zu gross.

NB: Absolut, ich bin ja viel in den USA, und da sehe ich Tendenzen, die mich erschüttern. Da schlagen sich die beiden Lager bloss noch die alten Standpunkte um die Ohren, zum Beispiel bei der Abtreibungsfrage. Eine ernsthafte Debatte, die nach einem Ringen in eine gute Lösung mündet, sehe ich nicht. Das ist gefährlich – und führt zu Politverdrossenheit oder gar Gewalt auf der Strasse.

Dominik Isler, Lucerne Dialogue
Quelle: Valeriano Di Domenico

Dominik Isler

Der Unternehmer ist seit 2021 Co-Direktor von Lucerne Dialogue. Davor wirkte er als COO der KKL Luzern Management AG, als Direktor der Kaufleuten Restaurants AG und zuletzt bis 2019 als CEO des Swiss Economic Forums (SEF).

Lucerne Dialogue soll auch jünger, unternehmerischer werden. Und: Tech wird ein wichtiges Thema?

DI: Wir haben vergangenes Jahr beim Europa Forum das Thema Millennials aufgenommen, das hat eingeschlagen. Aus dem Mix von erfahrenen, erprobten Leuten und den jungen Wilden entstanden fruchtbare Diskussionen für beide Seiten – und wertvolle Insights für gestandene Leader. Diese Auseinandersetzung wollen wir verstärken, deshalb die Verjüngung, deshalb der Dialog.

«Aus dem Mix von erfahrenen, erprobten Leuten und jungen Wilden entstehen fruchtbare Diskussionen.» Dominik Isler

 

Konkret?

DI: Wir organisieren beispielsweise Blind Dates.

Blind Dates?

DI: Ja, ältere und jüngere Entscheidungsträger sollen aufeinandertreffen und über ein Thema debattieren, zum Beispiel über ihre Auffassung von «Erfolg»: Die Diskussion einer jungen Künstlerin mit einem gestandenen Unternehmer kann da erfrischend und bereichernd sein.

Sie besuchen seit Jahren viele Anlässe und Gipfeltreffen. Was machen Sie anders?

DI: Man wird nicht klüger, wenn man mehr von dem liest, was man eh schon kennt. Mich stört, dass man oft auf dieselben Keynote-Speaker und Gäste trifft und mehrheitlich zuhört. Ich schätze es, wenn ich mit neuen Leuten zusammensitzen und Ideen wälzen kann – etwa zur Kreislaufwirtschaft – oder wenn ich mich mit Schweizer Startups zu AI austauschen kann. Das sind Orte der Inspiration und des Lernens, das soll auch Luzerne Dialogue werden, generationenübergreifend. «45 unter 45»: Ich verrate Ihnen nicht zu viel – unser Scout-Team hat im Sommer monatelang Fragestellungen definiert und die hellsten Köpfe ausgesucht, die uns weiterbringen. Anders als übliche Businesskonferenzen bietet das Annual Meeting einen aktiven Austausch zwischen Generationen, Nationen und Disziplinen. Mit anderen Worten erhalten die Teilnehmenden die Gelegenheit, sich ausserhalb ihrer Echokammern zu bewegen. Das ist die Basis für Innovation und persönliches Wachstum, finde ich.

Und welche Rolle soll das Lucerne Dialogue einnehmen?

DI: SIMBA ist meine Formel: Soziale Interaktion fördern mit Leuten, die nicht aus derselben Bubble sind. Diese Offenheit, diese gegenseitige Inspiration ist der Zugpunkt, der viele Menschen aus Europa in die Schweiz zieht.

Nicole Büttner, wo lassen Sie sich inspirieren?

NB: Ich liebe es, wenn ich in Kreisen bin, die mit meinem Beruf nicht unmittelbar zu tun haben. Ich bin schwergewichtig in der Technologie unterwegs, aber finde es sehr bereichernd, wenn ich mich mit Politik oder mit Kultur auseinandersetzen kann. Wir müssen aus der eigenen Bubble raus und Inspiration aufschnappen, das sehe ich auch beim Aufbau des Unternehmens. Das eigene Ecosystem genügt mir nicht, ich brauche Orte, wo ich Szenarien entwickeln oder wo ich mich politisch austauschen kann. Dazu gehören Foren, auch das Lucerne Festival. Ich sehe da durchaus Parallelen zur Bewältigung der Corona-Pandemie.

«Wir müssen aus der eigenen Bubble raus und Inspiration aufschnappen.» Nicole Büttner

 

Inwiefern?

NB: Da haben grosse und kleine Forschungsinstitute weltweit zusammengefunden, sich ausgetauscht und innerhalb kurzer Zeit einen Impfstoff entwickelt. Und ich bin schon der Meinung, dass wir mehr Tempo brauchen bei der Entscheidungsfindung. Künstliche Intelligenz müssen wir jetzt verstehen und daraus Handlungsanleitungen ableiten; wir können da nicht drei Jahre warten, denn die Entwicklung geht derart schnell vor sich.

Nicole Büttner, Lucerne Dialogue
Quelle: Valeriano Di Domenico

Nicole Büttner

Die Unternehmerin, Wirtschaftswissenschaftlerin und Tech-Optimistin ist Mitgründerin und CEO von Merantix Labs, einem führenden Unternehmen für KI-Lösungen. Zudem ist sie seit 2023 Co-Präsidentin im Advisory Board des Lucerne Dialogue.

Physisch oder Video?

NB: Für mich ist der persönliche und unkomplizierte Kontakt wichtig. Wenn ich in einem Workshop im KKL bin oder auf einem Schiff auf dem Vierwaldstättersee, kann ich jemanden ansprechen und innert zwei, drei Minuten Kontakt aufbauen. Gerade mit internationalen Expertinnen und Experten, die vielfach sehr gefragt sind, ist das viel einfacher. Das ist auch einer der Mehrwerte des WEF in Davos.

DI: Wir machen Früherkennung, aber richtig. Für Manager und Unternehmerinnen ist das enorm wichtig. Sie wollen die Mitarbeitenden und Kundinnen von morgen besser verstehen. Und es geht auch um Chancen, die sich eröffnen. Ich sehe Nachhaltigkeit nicht als Kostentreiber, sondern als eine unglaubliche Chance für Europa. Da ist es wichtig, frühzeitig die eigenen Möglichkeiten auszuloten und innezuhalten. Oder Leadership: Mich fragen viele ältere Managerinnen und Manager, wie man eine junge Generation führe. Ist das nur eine Spassgesellschaft, die sich selbst optimiert? Wie kann ich sie motivieren, an mich binden? Deshalb machen wir auch ein Leadership-Programm, in dem Junge aktiv sind.

Wie geht das?

DI: Da können Firmen ihre Talente in ein Programm delegieren. Diese Leute begleiten unser Annual Meeting etwa unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit oder des Generationenwandels – und berichten in ihren Firmen, wohin sich diese Themen entwickeln und was zu tun ist.

Auch KI ist eine Chance, aber auch ein Risiko. Die Unsicherheit ist gross. Sie dagegen bezeichnen sich als «Tech Optimist».

NB: Klar gibt es viele Pessimisten, aber KI ist und wird bei vielen Fragen ein Teil der Lösung sein, etwa in der personalisierten Medizin, in der Nachhaltigkeit, beim Sparen von Ressourcen, in der Energieversorgung, in der Weiterbildung, in der Erhaltung und Steigerung der Konkurrenzfähigkeit. Ja, ich bin optimistisch.

Und bleiben es?

NB: Absolut. Oft wird nicht erkannt, wie viel KI bereits heute unser Leben erleichtert – etwa beim iPhone und bei der Gesichtserkennung oder im Auto beim Programmieren des Fahrziels. Aber klar braucht es staatliche Regulierung, daran wird jetzt gearbeitet, deshalb müssen wir uns hier und jetzt einschalten und mitreden.

Die EU hat mit der General Data Protection Regulation (GDPR) vorgelegt und den «Cyber Resiliance Act» lanciert. China und die USA halten sich zurück. Keine einfache Ausgangslage.

NB: Das zeigt, dass man früh und kompetent mitreden muss. Die EU ist nicht die grosse Weltmacht, aber ihr GDPR strahlt in andere Länder und Regionen aus, weil man früh einen vernünftigen Rahmen gesetzt hat. Aus der Schnelligkeit erwächst eine Regulierungsmacht. Das gilt auch für Unternehmen, die Märkte beeinflussen, besonders die US-Techfirmen. Leider haben wir in Europa keine Firmen, die diese Marktmacht haben, um Standards zu setzen. Und es geht weiter: Google hat sich Health Care auf die Fahne geschrieben. Es würde mich nicht überraschen, wenn Tech-Firmen bald massgeblich im Gesundheitswesen mitreden. Das müssen auch wir, am besten im Rahmen von Lucerne Dialogue.

Geht es neben Früherkennung auch darum, ein Lucerne-Manifest mit Forderungen an die Regierungen zu formulieren?

DI: Ich bin glücklich, wenn die Teilnehmenden inspiriert und verändert nach Hause gehen und erkennen, was auf sie zukommt. Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat sind viel zerbrechlicher, als wir häufig annehmen. Das Magazin «Harvard Business Review» appellierte 2021 an die Verantwortung der Wirtschaft: «Business must step up. Our democracy needs us.» Ich hoffe darum, dass wir unübliche Allianzen bilden – und wenn ein Manifest daraus entsteht, dann ist das ein zusätzlicher Gewinn. Es würde mich aber stolz machen, wenn aus Luzern ein paar Projekte kommen, die diesen Kontinent wirklich weiterbringen.

 

Dieses Interview erschien am 12. Oktober 2023 im Lucerne Dialogue Magazine, der Zeitschrift der Dialogplattform Lucerne Dialogue. Deren Jahresanlass, das Annual Meeting, fand am 22. und 23. November 2023 im KKL statt.