Um grosse Sprüche war Europa nie verlegen. Schon Bundeskanzler Gerhard Schröder träumte vom Alleingang, politisch wie wirtschaftlich, auch der französische Präsident Emmanuel Macron hält es für unerträglich, ein «Vasall der USA» zu sein. Und die Linke Europas tut sich nicht erst seit Donald Trump, sondern schon seit dem Vietnamkrieg mit dem Hegemon im Westen schwer.
Bloss hat es Europa nie geschafft, zu einem Hort des Wachstums zu werden und zu einem Machtfaktor in der Geopolitik. Diese Schwäche hat sich Europa selber zuzuschreiben. Wo grosse Würfe gefragt wären, werden nationale Gesetze bemüht. Banken sehen sich im kleinteiligen Europa mit dreissig Regulatoren konfrontiert, die erst noch nationale Interessen vertreten. Dass in dieser Enge keine wettbewerbsfähigen Champions entstehen, überrascht nicht. In Europa werden schlicht keine ambitionierten Wachstumspläne ausgeheckt, weder in Deutschland oder Frankreich noch in Grossbritannien. Dafür sind andere zuständig: die USA, China oder Südkorea. Mit fehlenden Ambitionen aber schwinden die Opportunitäten für die nächsten Generationen. Sieben Gründe, weshalb sich Europa nicht von den USA emanzipieren kann:
Grund 1: Energieunabhängig (Crude Oil)
Der Unterschied könnte nicht grösser sein: Europa sucht nach Energiequellen, um den Eigenbedarf zu decken, und kommt so mit zweifelhaften Partnern ins Geschäft – mit Nigeria (Grossbritannien, Schweden) oder mit Libyen und Kasachstan, wie die Schweiz. Einfacher haben es die USA, die seit zwanzig Jahren das Fracking befördern. Ab 2018, unter Donald Trump, haben die USA Saudi-Arabien als grössten Erdölproduzenten abgelöst. Die Amerikaner produzieren laut Bloomberg pro Tag knapp 13 Millionen Fass Crude Oil, die Saudis knapp 9 Millionen. So sind die Amerikaner autarker und weniger erpressbar. Derweilen sind in Europa diverse Staaten von russischem Erdöl abhängig, die Slowakei zur Hälfte, Ungarn zu einem Drittel. Die komplexen Abhängigkeiten schwächen die eigene Macht.
Grund 2: Wer Werte schafft
Der Club der Börsenbillionäre ist exklusiv und amerikanisch. Unter den zehn wertvollsten Firmen mit Börsenwert über 1 Billion Dollar rangieren neun Amerikaner, darunter Microsoft, Apple, Nvidia, Alphabet – und dazu die Chipfirma TSMC aus Taiwan. Also alles Tech-Firmen. Wie sich die Welt der Firmenwerte verschoben hat, zeigt der Vergleich zu 1997. Da führte General Electric aus Boston die Liste an, vor Royal Dutch Shell mit Doppelsitz in London und Amsterdam. Unter den Top Ten rangierten immerhin vier Nicht-US-Firmen, darunter zwei aus Japan (Toyota, Nippon Telegraph and Telephone) und Novartis.
Grund 3: Die Lohnlücke
Die Wirtschaftsdynamik in den USA fördert nicht nur das BIP pro Kopf, sondern auch die Löhne, die ab 2008 – Finanzkrise, ausgelöst in den USA – stetig wuchsen, im Gegensatz zu jenen Europa. Der Medianlohn in den USA lag damals auf der Höhe von Frankreich, heute liegt er bei 77 500 Dollar, in Frankreich bloss bei 52 800 Dollar. Das heisst, Krisen treffen zwar auch die USA, die aber stecken Rückschläge (Finanzkrise, Covid-Krise, Ukraine-Krieg) viel schneller weg und schalten rascher wieder in den Wachstumsmodus. Abzulesen ist das auch an der Finanzkrise, die in den USA vergessen ist, derweilen hält der Staat noch immer 16 Prozent an der Commerzbank und das britische Finanzministerium 18 Prozent an der Royal Bank of Scotland. Der Ausstieg ist auch 16 Jahre nach der Bankrettung noch nicht vollzogen.
Grund 4: Capex-Weltmeister: Wo wird investiert?
Amerika ist das Land mit dem Glauben an Morgen. Entsprechend wird heute gesät, um morgen zu ernten. Das lässt sich an der Entwicklung des Capex (Investitionen in langfristige Anlagen) zeigen, wo sich eine Schere öffnet: Zwischen 2021 und 2024 steigerten die USA ihre Capex-Ausgaben um 14 Prozent, Japan um 0,5 Prozent, und in Deutschland sind sie rückläufig, weil sie in der Covid-Pandemie einbrachen. Ein Grossteil der Investitionen floss in die Digitalisierung und künstliche Intelligenz, wie sich an den märchenhaften Bewertungen von Nvidia oder Juniper ablesen lässt. Weil die Investitionsraten in den USA alles übertreffen, ziehen Investoren US-Kapitalanlagen vor, wie Samy Chaar, Chefökonom bei der Schweizer Privatbank Lombard Odier, sagt.
Grund 5: Der Dollar ist und bleibt die Weltwährung
Ab 2002 klimperten die ersten Euro-Münzen. Ihr Anspruch war, die Dominanz des Dollars anzugreifen. Die De-Dollarisierung will auch Brasiliens Präsident Lula da Silva im Verbund mit
den Brics-Staaten Russland und China. Doch der Plan harzt, denn China hängt tief im Dollar-System drin. Immerhin schafften es die Europäer, den Euro als Währung zu etablieren; mittlerweile werden 23,1 Prozent des internationalen Handels in Euro abgewickelt, beim Renminbi sind es 3 Prozent. Kurzum: Der Dollar hat zwar an Gewicht leicht eingebüsst, ist jedoch weiter der Dominator. Er ist mit Abstand die wichtigste Transaktions-, Reserve- und Anlagewährung.
Grund 6: Militärische Macht
Man weiss es spätestens seit dem Einmarsch der Russen in die Ukraine: Ohne die Hilfe der USA wären die Verteidiger verloren. Von Kriegsbeginn bis Mitte 2024 lieferten die Amerikaner Waffen im Wert von 51 Milliarden Euro, es folgen Deutschland mit 10 Milliarden, Grossbritannien mit 9,5 Milliarden, Dänemark mit 6,5 und Frankreich 3,8 Milliarden. Dazu addieren sich Kriegsmaterial, Aufklärung und Kommunikation aus Nato-Beständen, wobei die USA beim Bündnis 20 Prozent übernehmen. Ihre militärische Macht zeigt sich auch in den Rüstungsausgaben: Die USA geben mehr als das Doppelte des zweitplatzierten China aus, doch der asiatische Staat holt auf.
Grund 7 Zukunftstechnologien: Am meisten AI-Researcher
«Das ist eine Kriegserklärung», zürnte Robert Habeck, Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, in Berlin. Nein, der Grüne sprach nicht vom Ukraine-Krieg, sondern vom Chips and Science Act, den der US-Kongress im August 2022 signierte. Die USA hatten in der Covid-Pandemie bemängelt, dass die Produktion von Highend-Mikroprozessoren nach China, Taiwan oder Südkorea abwandere, und sprachen 300 Milliarden Dollar, um die drohende Forschungslücke frühzeitig zu schliessen. Zudem setzte Joe Biden eine 25-prozentige Steuerreduktion für jene auf, die AI-Arbeitsplätze schaffen. Mittlerweile arbeitet die Mehrheit dieser gefragten Software-Fachleute in den USA.
Dieser Artikel erschien am 10. Oktober 2024 im Lucerne Dialogue Magazine, der Zeitschrift der Dialogplattform Lucerne Dialogue.