Wenn Zeit Geld ist, dann ist Geschwindigkeit Macht. Dieses Zitat stammt vom französischen Philosophen Paul Virilio. Es weist auf die Bedeutung der Geschwindigkeit in der Menschheitsgeschichte hin. Wir suchen stetig nach neuen Möglichkeiten, schneller von A nach B zu gelangen. Die Erfolgsgeschichte der Beschleunigung startete mit der Erfindung des Rades und setzte sich von der Pferdekutsche über die Eisenbahn bis zum Überschalljet fort. Doch Paul Virilio kritisierte das unreflektierte Loblied auf den Beschleunigungswettbewerb. Er schrieb in seinen Texten, dass mit der «Beschleunigungsgeschichte» gleichzeitig die Gefahr eines Stillstandes einhergehe. Virilio nannte dieses paradoxe Phänomen den «rasenden Stillstand».

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Der Autor

Adrian Derungs, Direktor der Industrie- und Handelskammer Zentralschweiz IHZ

Die Kommunikationstechnologien sind ein Beispiel dafür. Wir verfügen über unzählige technische Möglichkeiten, um miteinander zu kommunizieren. Wirklich erreichbar sind wir immer weniger. Die Zeit für vertieften Austausch wird immer knapper; wann sind Sie zum letzten Mal dazu gekommen? Gleiches gilt für die rasende Beschleunigung des Informationsangebots. Auf unzähligen Kanälen stehen uns in Echtzeit Neuigkeiten aus der ganzen Welt zur Verfügung. Pausenlos, ohne Aus- und Rückblick flutet die Liveticker-Berichterstattung unsere Gesellschaft. Ohne gesellschaftlichen Diskurs sind wir in Geiselhaft von beliebigen Hypes, Reflexen und Ängsten – in Dauerschlaufe, ohne Fortschritt und kaum noch zu Reformen fähig. Rasender Stillstand.

Auch auf Tiktok und Co. sind wir dem ständigen Informationsfluss ausgeliefert. Wir konsumieren scrollend unzählige Kurzfilme und oberflächliche Informationen aus beliebigen Themenbereichen. Verstärkt durch Algorithmen, die unser Gehirn im Dopaminrausch halten. Glücksgefühle im Steigerungslauf – das Glückshormon zwingt uns zum Weiterscrollen. Endloses Doomscrolling führt zu digitaler Abstumpfung, dies bei steigender Reizdichte. Die eigene Fantasie verkümmert, da uns der eigene Dopamin-AI-Agent im Minutentakt das digitale Glück produziert. Rasender Stillstand.

Die Dynamik des Digitalen hat längst auf unsere politischen und administrativen Systeme übergegriffen. In immer kürzeren Abständen erlassen Parlamente und Verwaltungen Gesetze, Reglemente und Vorschriften. Dieses bürokratische Accelerando ist meist in besten Absichten orchestriert. Professionalisierung bedeutet in der staatlichen Organisationslehre, immer mehr gesetzgeberischen Inhalt in immer kürzerer Zeit zu produzieren. Dies führt dazu, dass nur noch hoch spezialisierte juristische Experten in Unternehmen fähig sind, mit ebenso spezialisierten Staatsangestellten zu diskutieren.

Diese Beschleunigung der Regulierung ist messbar. Während auf Bundesebene 1970 jährlich nur rund hundert Erlasse pro Jahr geändert wurden, waren es im Jahr 2020 bereits über achthundert. Der Thinktank Avenir Suisse schätzt die jährlichen Kosten der bestehenden Schweizer Nachhaltigkeits-Berichtspflichten auf rund 130 Millionen Franken. Ab 2028 – mit den indirekten Auswirkungen der EU-Vorgaben – dürften sie auf etwa 680 Millionen ansteigen.

Mit diesen Kosten könnten wir leben, wenn wir damit etwas bewirken würden. Doch es sind nicht diese Berichte, die unsere Unternehmen veranlassen, Produkte zu verbessern oder CO2 einzusparen. Wir erzielen mit diesen Unmengen Papier keine Wirkung. Einzig die Produkte werden mit dieser rasenden Regulierung verteuert. Die Berichtspflichten sind nur ein Beispiel dafür, wie unsere Wirtschaft aufgrund der Rahmenbedingungen zunehmend an Wettbewerbsfähigkeit verliert. Wie eine Welle überschütten uns die Regulierungen mit Markteintrittshürden, ertränken Eigeninitiative und verhindern Innovation. Kosten und Nutzen der Regulierungen sind längst nebensächlich. Sie verrechtlichen die Demokratie und überdehnen den Rechtsstaat zur Karikatur. Die unzähligen Gesetze, Reglemente und Verordnungen verkommen losgelöst von unseren Lebensrealitäten zum Selbstzweck. Statt Ordnung zu schaffen, schaffen sie Aufwand. Beschleunigung wird zum Hindernis des Fortschritts. Tatsächliche Reformen, etwa in der Altersvorsorge, oder längst notwendige Investitionen in die Infrastruktur (Strasse, Schiene, Stromversorgung) sowie Innovationen bleiben auf der Strecke. Diese Reformund Innovationsunfähigkeit stellt unsere Demokratie auf den Prüfstand der Geschichte. Rasender Stillstand.

Diese Beispiele zeigen, wie sehr uns diese paradoxe Entwicklung aufgrund unserer «Beschleunigungsgeschichte» im Griff hat. Eine grosse Portion Gelassenheit hilft im Umgang damit, denn die Angst vor den Auswirkungen der Beschleunigung ist kein neues Phänomen. Menschen warnten im frühen 19. Jahrhundert, dass der «Geschwindigkeitsrausch» der ersten Eisenbahnen zu Gesundheitsschäden bei den Passagieren führen müsse. Wir belächeln dies im historischen Rückblick. Denn Virilio hatte recht: Geschwindigkeit bedeutet Macht. Auch in der Wirtschaft ist Geschwindigkeit ein markanter Wettbewerbsvorteil. Wer in der Lage ist, Entwicklungen zu antizipieren, neue Technologien zu integrieren und Geschäftsmodelle zu adaptieren, verdrängt Mitbewerbende und wirtschaftet erfolgreich. Fortschritt steht in einem inneren Zusammenhang mit Geschwindigkeit. Der Wirtschaftskreislauf lebt davon, dass wir immer effizienter und schneller werden – und doch droht auch hier der rasende Stillstand, wenn Geschwindigkeit ohne Nutzen zum Selbstzweck wird.

Was ist zu tun? Geschwindigkeit und Effizienz lassen sich relativ einfach messen. Dabei vergessen wir jedoch oft die Frage nach der Notwendigkeit, denn Wirkungen sind deutlich schwieriger zu erfassen. Wenn wir den rasenden Stillstand überwinden wollen, dürfen wir nicht nur Effizienz und Tempo messen, sondern müssen uns wieder fragen, was wirklich notwendig ist. Pragmatismus und Einfachheit statt Professionalisierung und Perfektionismus. Weniger tun – und dafür mehr bewirken. Nicht rasender Stillstand, sondern wirksame Gelassenheit.