Die Universität St. Gallen bietet mit Next im Juni ein neues Programm an. Was unterscheidet es von anderen Leadership-Weiterbildungen?

Wer heute 55 Jahre alt ist, steht in der Mitte des Lebens, hat bereits einiges an Lebens- und Berufserfahrung hinter sich und gemäss heutiger Lebenserwartung noch rund dreissig Jahre vor sich. Das ist eine neue Situation, denn noch nie wurden Menschen so alt. Trotzdem leben viele nach dem traditionellen, dreistufigen Modell: Ausbildung – Arbeit – Pensionierung. Auch ist das dichotomische Denken weitverbreitet, wie etwa bei der Überlegung «Soll ich im Job bleiben oder mich selbstständig machen?» Dabei gibt es viele Lösungen zwischen diesem Entwederoder-Denken. In unserem dreitägigen Programm zeigen wir den Teilnehmenden, wie ein mehrstufiges Lebensmodell und ein differenziertes, multioptionales Denken funktionieren.

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Was steht dabei im Zentrum?

Der Kern des Programms ist die Reflexion über die eigenen Stärken, darüber, was einen ausmacht und wie man das in die Zukunft bringt, um Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit zu steigern. Es ist eine neue Art der Weiterbildung, in der wir die Leute ganzheitlich unterstützen, beruflich und ausserberuflich.

Der Praxisbezogene

Prof. Dr. Sebastian Kernbach ist Assistenzprofessor für Design und Kreativität an der Universität St. Gallen. Er ist Gründer und Leiter des Life Design Labs (Website: www.lifedesignlab.ch) an der Universität St. Gallen, zudem Visiting Fellow am Institute of Design an der Stanford University, Gastprofessor an der African Doctoral Academy sowie an der Stellenbosch-Universität in Südafrika und an der Central University in Peking.

Programm «Next»: https://es.unisg.ch/en/ executive-programme/next/

Beschreitet die HSG mit dieser Weiterbildung eine neue Schiene, also Richtung Esoterik?

Das Programm Next ist das erste seiner Art in Europa, und wir sind in engem Kontakt mit der Universität Stanford, die Ähnliches bereits seit einigen Jahren anbietet. Man könnte das Programm als ein Leadership-Plus bezeichnen, mit Esoterik hat es aber nichts zu tun. Alle Methoden sind wissenschaftlich fundiert. Es geht bei Next um die Fähigkeit der Selbstreflexion, der kreativen Problemlösung und um Selbstbestimmung. Der Ansatz, den wir dazu nutzen, heisst «Life Design». Ich habe diese Innovationsmethode an der Universität Stanford gelernt und in der Schweiz mit Positiver Psychologie, Verhaltensökonomie und Wissensvisualisierung weiterentwickelt. Daraus ist das Life Design Lab an der Universität St. Gallen entstanden.

Wie funktioniert Life Design?

Life Design basiert zunächst auf Neugierde, Wertschätzung und Empathie für das Gegenüber. Wenn beispielsweise in einem Workshop ein Mann sagt, sein Traum sei, einen Podcast zu machen, soll die Reaktion sein: «Erzähl mir mehr.» Mit diesen drei Worten wird Raum gegeben für Dinge, die jemanden positiv beschäftigen, und gleichzeitig ein Reflexionsprozess gestartet. Es soll sich herauskristallisieren, was hinter dem Wunsch steckt. Im nächsten Schritt geht es darum, wie man mit kleinen Experimenten den Wunsch erlebbar machen kann, ohne gleich sein Leben zu ändern. Im oben erwähnten Beispiel produzierte der Mann eine kleine Version eines Podcast, indem er eine Voice Message aufnahm und sie via Whatsapp an Kollegen und Kolleginnen sandte. Dieses Vorgehen nennt man Prototyping.

Was ist Prototyping genau?

Beim Prototyping geht es darum, sich zu exponieren, die Ideen nicht nur im Kopf zu haben, sondern sich durch Gespräche oder Erlebnisse eine neue Realität zu schaffen und zu schauen, welchen Einfluss das auf einen hat. So war es der Traum einer Frau, Flugbegleiterin zu werden. Nach einem Gespräch mit einem ehemaligen Flugbegleiter merkte sie, dass sie den Beruf romantisiert hatte, die Realität sah anders aus. Wer seinen Träumen Raum gibt, hat die Möglichkeit, sie umzusetzen – oder, was häufiger vorkommt, sie anzupassen und anders als zuerst gedacht umzusetzen.

Träume sind individuell, und nicht alle lassen sich durch kleine Experimente oder Gespräche ausloten.

Das stimmt. An unserem Institut arbeiten wir an der Gründung einer Plattform, auf der man Experimente buchen kann. Wir möchten Gruppen-Prototyping anbieten in Bereichen, zu denen Einzelne weniger gut Zugang haben, beispielsweise in einem Autorennstall. Jeder und jede Teilnehmende wird aber seine oder ihre eigenen Konsequenzen ziehen. Um beim Beispiel zu bleiben: Nach einem Tag im Rennstall möchte vielleicht jemand Sponsor werden, eine andere sich in Technik weiterbilden. Wir sind überzeugt, dass man dieses Ausprobieren in der Gesellschaft legitimieren muss, und zwar für Jobs und Hobbys: Wer seine Interessen leben kann, steigert die eigene Lebenszufriedenheit und kann einen grösseren Beitrag für das Umfeld und die Gesellschaft leisten. Ausserdem wissen wir aus Umfragen, dass sich die Interessen der Leute bei der Zukunftsgestaltung grob in fünf Bereiche einteilen lassen. Diese Bereiche bilden auch die Schwerpunkte unserer Weiterbildung.

Welche Bereiche sind das?

Rund 50 Prozent der Menschen interessieren sich für philanthropische Tätigkeiten; weitere Themen sind Board Memberships jeder Art, die drei Bereiche Coaching, Mentoring, Lehre, dann Unternehmertum sowie Gesundheit und Wohlbefinden. Für jedes Thema haben wir im Programm Personen eingeladen, die in den Bereichen tätig sind und von ihren Erfahrungen berichten. Die Teilnehmenden erhalten so realitätsnahe Einblicke, und oft konkretisieren sich eigene Wünsche durch den Austausch besser. Ausserdem wird das multioptionale Denken angeregt.

Wie wird das multioptionale Denken konkret aufgezeigt?

Themen können aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden: Beispielsweise ist es im Bereich Unternehmertum möglich, in ein Unternehmen zu investieren, als Mentor dafür tätig zu sein oder es selbst zu gründen, auch neben einem Job. Ebenso lässt der Bereich «Vorstandsmitglied» verschiedene Interpretationen zu, etwa vom Beirat im Quartierverein bis zum Verwaltungsratsmandat in Grossfirmen. Grundsätzlich exponieren sich die Teilnehmenden in kurzer Zeit zu vielen Themen, lernen durch menschliche Begegnungen Anwendungsmöglichkeiten kennen und erhalten Inspiration und Motivation für die eigene Zukunft. Unterstützt werden sie von Expertinnen und Experten sowie durch gegenseitiges Lernen in Kleingruppen.

Gibt es einen Schlüsselfaktor in Life Design?

Ein wichtiger und oft schwieriger Teil ist es, vom Denken ins Handeln zu kommen, auch «The Science of Action» genannt. Wir haben durch eine Umfrage sieben Gründe gefunden, warum Menschen prokrastinieren. Dazu gehören etwa Ablenkung, Überforderung oder negative innere Stimmen. Wir haben den sieben Gründen sieben wissenschaftliche Strategien entgegengesetzt, damit jede und jeder das eigene Portfolio zusammensetzen kann, um vom Denken ins Handeln zu kommen. Ein Beispiel: Je nach Chronotyp hat jeder Mensch seine höchste Leistungsbereitschaft zu anderen Tageszeiten. Diese Primetime ist prädestiniert dafür, Dinge zu erledigen, die man am liebsten aufschiebt. Während Life Design eine Art Realitätscheck dazu ist, was einen ausmacht, handelt die Science of Action davon, wie man sich überwinden kann, die eigenen Ideen umzusetzen. Beides ist Teil von Next.

Wer ist die Zielgruppe für die Weiterbildung Next?

Leute mit mehrjähriger Berufserfahrung, die in der Lebensmitte stehen und interessiert sind, ihre Zukunft aktiv zu gestalten, die Lust haben, ihre Karriere weiterzuentwickeln, aber auch herausfinden wollen, was das Leben noch zu bieten hat. Manche würden sagen «bei mir ist alles okay, aber ich bin neugierig», andere wollen etwas ändern, wissen aber nicht, wo starten – und wieder andere müssen sich verändern. Genau für diese Situationen ist Next ideal.

Sie unterrichten Life Design in der Schweiz, in den USA und in Südafrika. Beobachten Sie kulturelle Unterschiede?

In der Schweiz geht es den meisten Leuten gut. Sie sind finanziell abgesichert und haben beruflich wie privat viele Optionen. Oftmals stehen jedoch der Perfektionismus und die Angst, was andere denken könnten, im Weg. In den USA geht es den Menschen ökonomisch weniger gut, sie sind aber risikofreudiger und wollen Neues ausprobieren. In Südafrika sind die Themen aufgrund der anderen Lebenssituation komplett anders. So schrieb hier mal jemand auf die Frage nach Stärken: «Wie kann ich sicherstellen, dass mein Kind auf dem Schulweg nicht überfallen wird.»

«Firmen nutzen den Ansatz für Leadership-Entwicklung.»

Sie arbeiten auch mit Firmen zusammen: Wozu wird dort Life Design verwendet?

Die einen nutzen den Ansatz für die Leadership- und Persönlichkeitsentwicklung, die anderen zur Unterstützung des Onboardings, wieder andere für die Mitarbeitenden im Homeoffice, damit diese produktiv arbeiten. Die Anwendungen von Life Design sind vielfältig; ich habe es zum Beispiel an der HSG-Kinderuni gemacht, begleite mit diesem Ansatz eine Gruppe von CEO und CFO und gebe auch Workshops zu «Design Your Retirement» für Pensionierte.