Vor einigen Tagen, am 24. März, verstarb Gordon Moore, Mitgründer von Intel und Vaters des berühmten Moore’schen Gesetzes – eigentlich mehr ein Theorem als ein Gesetz. Es besagt, dass sich die Komplexität integrierter Schaltkreise mit minimalen Komponentenkosten regelmässig verdoppelt, je nach Auslegung alle 12, 18 oder 24 Monate. In den fast 60 Jahren seit Aufstellung des Theorems siedeln sich die tatsächlichen Datenpunkte tatsächlich um Moores gedachte Linie an. Gordon Moore hat also Recht behalten. 

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Womit Moore aber kaum gerechnet haben dürfte, ist die Tatsache, dass eine andere Disziplin der Wissenschaft seine noch überholen sollte: Die Biologie. Was dort geschieht, grenzt an Wunder und stellt Moores Gesetz noch in den Schatten. Rund 20 Jahre ist es her, dass das menschliche Genom dechiffriert wurde. Zwei konkurrierende Projekte konnten 2003 erstmals die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts verkünden, genauer gesagt: Des überwiegenden Teils der drei Milliarden Basenpaare. 13 Jahre Projektlaufzeit und 2,7 Milliarden Dollar Kosten waren angefallen. 

In den zwei Jahrzehnten, die seitdem vergangen sind, fielen die Kosten für die Sequenzierung des Genoms noch schneller als die Kosten der Chipherstellung. Wären die Kosten nur so schnell gefallen wie nach Moores Gesetz, dann müsste das Auslesen des Genoms heute noch 100'000 Dollar betragen. Tatsächlich belaufen sich die Materialkosten nur noch auf 200 Dollar. Personal- und Abschreibungskosten mit eingerechnet, liegt der Preis bei 700 Dollar. Auch dauert das Lesen nicht mehr Jahre, Monate, Wochen oder Tage, sondern geschieht in wenigen Stunden. Schon bald geht es noch schneller. In Arbeit sind Lesegeräte von der Grösse eines Schlüsselanhängers, die das Genom in Minuten bestimmen.

Bahnbrechende Fortschritte in der Krebstherapie

Möglich werden dadurch bahnbrechende Fortschritte in der Krebstherapie. Führende Klinken lassen die Gensequenz von Tumoren in Stunden entschlüsseln und mit Datenbanken vergleichen. So sind jene Moleküle schnell zu finden, die diesen speziellen Tumor besonders wirksam angreifen. Sollte kein standardisiertes Molekül vorrätig sein, kann Künstliche Intelligenz das beste Medikament berechnen. Innerhalb weniger Tage kann man es synthetisieren und dem Tumor verabreichen. Je mehr Tumore in einer Datenbank liegen, desto grösser wird das Wissen und desto schneller steigen die Heilungschancen an. Damit tritt ein weltweiter Verbundeffekt auf. 

Der geheimnisvolle Feind Krebs verliert seine Tarnkappe und verrät über seine Gene, wie ihm am besten beizukommen ist. Mehr noch: Kehrt ein Tumor zurück, klärt Genanalyse blitzschnell ab, ob das Geschwür mutiert ist oder nicht – ob also das zuvor verwendete Molekül helfen kann oder nicht. Das erhöht die Heilungschancen. 

Der Sieg über den Krebs ist oft schon vorhergesagt worden, bislang aber noch nie eingetreten. Ob und wann dies geschieht, wissen wir nicht. Was heute jedoch klar scheint: Die phänomenale Erosion des Gen-Sequenzierungspreise und die dadurch ermöglichte Massen- und Schnelltestung könnte die Krebstherapie so stark verändern wie keine andere Therapie zuvor. Vielleicht sind wir wirklich die letzte Generation, die Krebs als Todfeind fürchten muss.

Christoph Keese ist Verwaltungsratspräsident von WORLD.MINDS sowie Unternehmer und Unternehmensberater aus Berlin. Der Autor von sechs Büchern schreibt regelmässig über Technologie und Innovation, neuerdings auch zweiwöchentlich in der Handelszeitung.