Nur wenige Unternehmen ernten so viel Lob, Hohn, Skepsis und Begeisterung wie Telsa Motors und sein Gründer Elon Musk. Seit ich Elon Musk und das oberste Tesla-Management im Rahmen meiner Forschung befragt habe, werde ich häufig gefragt: «Verstehst du die wilden Strategien von Tesla?» Jüngstes Beispiel ist der Plan, eine «Gigafactory» für Batterien vor den Toren Berlins zu bauen.

Ein Teil der Schwierigkeit, Teslas Strategie zu verstehen, bilden die externen Kommentatoren. Ihre Spanne reicht von Leerverkäufern bis zum Starkult. Viele stellen die falschen Fragen, zum Beispiel, weshalb Tesla kein Geld verdient – eine Frage, die für ein reifes Unternehmen angemessen ist, aber nicht bei einer Wachstumsfirma. Auf lange Sicht müssen alle Unternehmen nachhaltig sein, aber Tesla funktioniert immer noch so, wie es bei schnell wachsenden Unternehmen üblich ist: In der frühen Wachstumsphase verbraucht man mehr Geld als man einnimmt.

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Der Autor

Nathan Furr ist Professor für Strategie und Innovation an der INSEAD in Paris und ein anerkannter Experte für Tech-Strategien. Er studierte in Stanford. Buchpublikationen: «The Innovator's Method», «Leading Transformation», «Innovation Capital».

Doch die Haupt-Herausforderung besteht wohl einfach darin, die Strategie von Tesla zu verstehen. Warum sollte ein junges Unternehmen, das bereits die Herkulesaufgabe der Einführung eines völlig neuen Autotyps schultert, auch das unglaubliche Risiko eingehen, einige der grössten Batteriefabriken der Welt zu bauen? Und obendrein ein Händler- und Reparaturnetz? Und übrigens auch ein Ladenetz? Oder, noch verrückter, ein Solarstrom-Business?

Oberflächlich besehen macht das keinen Sinn. Es besteht kein Zweifel, dass dieses Vorgehen für das Unternehmen grössere Risiken birgt und die Gefahr des Scheiterns erhöht. Doch sieht man es durch die Linse der jahrzehntelangen Forschung zu Technologie-Strategien, so erscheint Teslas Ansatz in einem anderen Licht.

«Die frühen Elektroautos entstanden bei herkömmlichen Herstellern von Verbrennungsmotor-Modellen. Sie verblassten im Vergleich zum Tesla.»

Die meisten von uns betrachten Teslas Strategie nur auf einer Analyse-Ebene: Wenn wir Tesla sehen, sehen wir einen Autohersteller. Doch wenn ich Managern beibringe, wie man in Zukunftstechnologien investiert, ermutige ich sie, auf mehreren Ebenen des Technologie-Stacks zu denken: Es geht nicht bloss ums Produkt, sondern auch um die Komponenten- und Systemseite.

Also lassen Sie uns einen genaueren Blick auf Tesla werfen.

Zuerst die Ebene des Produkts. Obwohl ein Tesla genauso aussieht wie andere Autos, hat das Fahrzeug unter der Motorhaube eine grundlegend andere Konstruktion – sowohl in der Hardware wie bei der Software. Dies ist wichtig, denn eine lange Forschungstradition unterstreicht, dass die etablierten Unternehmen, wenn sie mit einer neuen Technologiearchitektur konfrontiert sind, Schwierigkeiten haben, diese zu verstehen und anzupassen.

«The Conversation»

Dieser Beitrag erschien zuerst auf der Hochschul-Plattform «The Conversation» unter dem Titel: «Tesla’s business strategy is not chaotic – it’s brilliant», November 2019. Übernahme und Übersetzung mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Selbst wenn diese Unternehmen erkennen können, wie die Technologie funktioniert, fällt ihnen die Anpassung schwer; denn sie zögern, bestehende Fähigkeiten, die sie über Jahrzehnte perfektioniert haben, aufzugeben und stattdessen neue Fähigkeiten voll zu übernehmen. Etablierte Firmen können zwar manchmal die neue Architektur nachahmen, doch kaum je überwinden sie die Art und Weise, wie sie die Dinge zuvor gemacht haben. Damit erreichen sie auch nur schwer die überlegene Leistung einer neuen, zielgerichtet entwickelten Architektur.

Fünf Software-Systeme oder eines?

In der Autobranche finden wir Beispiele dafür. Die frühen Elektroautos entstanden bei herkömmlichen Herstellern von Verbrennungsmotor-Modellen: Sie verblassten im Vergleich zum Tesla. Und selbst neuere Blanko-Versuche genügen manchmal nicht ganz. Immer wieder stehen kleine Dinge im Weg – zum Beispiel die Tatsache, dass die meisten Fahrzeuge grosser Hersteller bis zu fünf separate Softwaresysteme haben. Und nicht wie der Tesla ein einziges System, welches durch seine Geschlossenheit einen Leistungsvorteil verschafft.

Vertiefen wir die Analysestufe auf die Ebene der Komponenten, dann erscheint die Tesla-Strategie nochmals in einem anderen Licht. Die Erfahrung bei technischen Systemen zeigt, dass sich die Wertschöpfung im Laufe der Zeit zu jenen Engpässen verschiebt, die entscheidend sind für die Leistung eines Systems.

«Möglich, dass Tesla dereinst den grössten Profitpool in der Automobil-Herstellung kontrolliert.»

Deshalb verdient Intel in der PC-Industrie seit Jahrzehnten so viel Geld, während für die Festplatten- und Modemhersteller nur Peanuts abfielen. Chiphersteller Intel kontrollierte den Engpass bei der Leistungsfähigkeit des PCs – nicht die Hard-Drive-Fabrikanten.

Das «Bottleneck» für Elektrofahrzeuge sind die Batterien. Wenn Tesla es schafft, die Preise für Batterien durch eine grossflächige Produktion drastisch zu senken, bauen sie auch ein Hindernis ab, das der Einführung von Elektro-Autos im Wege steht. Aber noch wichtiger ist, dass der Batterie-Engpass nicht so schnell verschwinden wird. Dies wiederum bedeutet, dass Tesla, wenn es erfolgreich ist, dereinst den grössten Profitpool bei der Automobil-Herstellung kontrollieren könnte.

«Die Konsumenten wollen Lösungen. Die Autofabriken liefern Produkte.»

Wenn wir schliesslich unsere Analysestufe über Komponenten und Produkte hinausheben und auf die Ebene der Systeme gelangen, sehen wir Tesla nochmals in einem anderen Licht. Die Wahrheit ist, dass die Konsumenten keine Produkte wollen: Sie wollen Lösungen. Die meisten Automobilhersteller liefern Produkte. Aber Tesla versucht, ein komplettes Erlebnis zu bieten: Auto, Upgrades, Aufladung, Versicherung – das ganze Paket.

Deshalb redet die Mehrheit der Tesla-Besitzer so begeistert über ihr Fahrzeug: weil es beides ist. Weil es sowohl ein tolles Auto als auch eine tolle Lösung darstellt. Bei welchem anderen Gefährt wachen Sie morgens auf, um neue selbstfahrende Funktionen zu finden?

Doch klar ist auch: Die Risiken sind hoch. Tesla hat eine mehrstufige Wette laufen, die auf Komponenten, Produkte und Systeme gleichzeitig abzielt. Alles muss gut laufen, um erfolgreich zu sein. Doch wenn die Sterne richtig stehen, könnte sich das als brillante Strategie auf allen Ebenen erweisen.

Dieser Beitrag wurde erstmals am 29. November 2019 veröffentlicht.

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