Wer hat eine eigene Firma?», fragt der DeinDeal-Gründer Adrian Locher ins Plenum. Vereinzelte im Auditorium strecken auf. «Wer will eine Firma gründen?» – Gut die Hälfte träumt den Traum. «Und wer will etwas bewirken?» Alle. Locher ruft «yeah», seine Zuhörer echoen «yeah». 

Locher ist einer der Einheizer, pardon «Keynote Speakers», zu Beginn des Hackathons, der vor Kurzem an der Universität St. Gallen (USG) stattfindet. Ein Hackathon – Wortgeschmisch aus «Hack» und «Marathon» – ist eine Veranstaltung, bei der IT-Enthusiasten während 20 bis 40 Stunden in Teams nützliche, kreative oder unterhaltsame Soft- und Hardwareprodukte aushecken und Prototypen programmieren.

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Der hier in St. Gallen heisst Start Hack und hat 353 IT-Cracks angelockt, rund die Hälfte aus der Schweiz, viele aus Europa, 12 aus den USA und 43 aus Asien. Der Lockstoff? «Fun», sagt Lisa, 20, aus Barcelona. «Fun», sagt auch Chris, 21, aus Seattle; «Hackathons sind einfach cool», so Robert, 20, aus Lausanne. 

Die drei stehen hintereinander am Check-in, wo man ihre Ankunft registrieren und ihnen ein Namensschild umhängen wird. Die Frage, warum die Namen dermassen gross darauf geschrieben stehen, beantwortet sich Stunden später von allein: Sie sind selbst für übermüde Augen leicht zu lesen. 

Die Ankömmlinge schleppen Rollkoffer, Schlafsäcke, Campingmatten und natürlich Laptops mit sich. Einige haben Bier und Wein dabei, Alkohol wird am Start Hack nicht ausgeschenkt. Aber sonst ist für alles gesorgt: Stromanschlüsse, schnelles Wi-Fi, Red Bull und Espresso à discrétion, kistenweise Äpfel und Knabberzeug für den Hunger zwischendurch. Es wird Frühstück, Lunch, Abendessen und Mitternachtssnacks geben. Alles umsonst.

Hackathon St. Gallen

Viel brauchen die 353 Teilnehmer, die aus aller Welt angereist sind, nicht, um happy zu sein...

Quelle: Daniel Ammann

Auf der Suche nach Talenten

Finanziert wird der St. Galler Hackathon von den Firmen, die hier teilnehmen. Sie bezahlen je nach Package zwischen 7500 und 10 000 Franken. Für die einen ist der Event eine Bühne, für andere ein Jagdgrund, für die meisten ist er beides. Die auf digitale Transformation spezialisierte Managementberatung Q-Perior zum Beispiel hat drei Mann abdelegiert und an einem Stand postiert.

Um herauszustechen, tragen die Herren giftgrüne T-Shirts über ihren Hemden. Ohne Verkleidung, dafür mit einem Transparent «We are hiring» warten zwei Vertreter des Medien- und Datenkonzerns Bloomberg auf Zulauf. Im besten Fall ergeben sich hier ein paar Kontakte, im schlechtesten hatten sie einfach ein aussergewöhnliches Wochenende. 

Mit einigen Erwartungen treten auch die anderen Firmen an. Sie fordern die IT-Enthusiasten mit konkreten Aufgabenstellungen heraus und buhlen an der Eröffnungsfeier in Fünf-Minuten-Pitches um Gunst und Interesse. Die SBB zum Beispiel suchen nach einer App, um Touristen ohne viel Ahnung vom Land den Schweizbesuch bequem masszuschneidern. SRF will Fake News als solche möglichst schnell entlarven. Swiss Prime Site hätte gern einen Chatbot für die Immobilienindustrie. Volvo sucht nach mehr Fun beim Carsharing. Und Rolls-Royce Power Systems stellt die Aufgabe, Drohnen so zu programmieren, dass sie bei einem Fall-out autonom in ein Atomkraftwerk fliegen und die Störquelle identifizieren.

Hackathon St. Gallen

... interessante Aufgabenstellungen, Strom, ein starkes Wi-Fi, 24 Stunden Zugang zu Essen und Trinken...

Quelle: Daniel Ammann

Was die Coder antreibt

Wozu George, der junge Mitarbeiter der Londoner Niederlassung von Neo, der chinesischen Kryptowährung, aufruft, ist für Laien ein Rätsel. Was hängen bleibt: Die beste Idee wird er mit 500 GAS honorieren. Sie sind an diesem Tag rund 20 000 Dollar wert. Preisgelder in dieser Höhe sind nicht üblich – und unnötig.

In seiner Masterarbeit hat Jonathan Isenring, Mitgründer und Geschäftsführer von HackZurich, erforscht, was junge Studenten veranlasst, Wochenenden mit strapaziösen 20 bis 40 Stunden Coden zu verbringen. 90 Prozent antworteten, sie hätten einfach Spass am Programmieren, 87 Prozent sagten, sie suchten die Challenge und 80 Prozent, sie nähmen teil, weil sie an solchen Events auf lauter Leute mit ähnlichen Interessen träfen. Nur gerade 25 Prozent wollen mit ihrer Teilnahme Geld machen. 

Der HackZurich hat sich in den knapp fünf Jahren seines Bestehens als Nummer-1-Hackathon in Europa etabliert. 5000 Bewerbungen gehen jeweils bei Isenring ein, kaum hat er die Schleuse geöffnet. Nur gerade 600 Datenspezialisten, Programmierer und Designer werden zugelassen. «Wir wollen nur Leute mit technologischem Hintergrund», sagt Isenring, selbst ein BWLer.

Auch sein Programmierfestival wird von den rund 30 Unternehmen finanziert, die jeweils teilnehmen dürfen, Betonung auf dürfen: «Wir brauchen einen interessanten Mix an Branchen, Perspektiven und Technologien», sagt Isenring. Die Unternehmen stellen Technologien, Datensätze und Schnittstellen zur Verfügung sowie Mitarbeiter, die den Programmierern zur Seite stehen. Und sie bezahlen für ihre Präsenz zwischen 10 000 und 30 000 Franken. Das Zürcher Happening, das immer im Herbst stattfindet, ist der Open Innovation verschrieben. Was entwickelt wird, bleibt geistiges Eigentum der Aushecker.

Hackathon St. Gallen

... und ein bisschen Spass.

Quelle: Daniel Ammann

Anders in St. Gallen

Hier sind die Aufgabenstellungen konkret. Was aus den Prototypen wird, ist nicht geregelt – und für die Teilnehmenden im Programmiermodus offensichtlich unerheblich. «Darüber denken wir jetzt nicht nach», sagt Jakob, «wir wollen einfach möglichst viel lernen.» Der 23-Jährige studiert wie seine Münchner Teamkollegin Mareike, 21, hier an der Uni. Die zwei andern im Team, Rohan, 23, aus New York und Vanessa, 21, aus Pennsylvania, haben sie beim Anstehen für die Asia-Nudeln kennen gelernt, die es am Freitagabend nach der Eröffnungszeremonie gegeben hat. Sie haben sich den Volvo-Case vorgenommen und die Idee, eine Art Airbnb+ fürs Carsharing zu programmieren. 

Elf Teams haben sich für die Rolls-Royce-Challenge entschieden. Spielerei oder ernsthaftes Bedürfnis seitens der Firma? «Sowohl als auch», sagt Daniel Eberle, Chef der Digitaleinheit. «Wir suchen Zusatzservices für unsere Kunden, und Fehlerquellenidentifizierung ist sehr relevant, aber wir wollen auch herausfinden, was da so geht an einem Hackathon.»

Schon bald stellt sich die von ihm gestellte Aufgabe als zu grosse Knacknuss heraus für die 35 Stunden, die der Hackathon dauert. Am Ende wird es ein einziges Team geschafft haben, dass die Drohne – nicht selbst fliegend, sondern getragen von einem Menschen – die Störquelle zuverlässig erkennt. Immerhin. Als Preis erhält jeder des Winning Teams eine Drohne geschenkt. Für Eberle ist es der erste Hackathon. Aber nicht der letzte: «Wir haben viel gelernt und werden das alles sauber aufarbeiten für das nächste Mal.» 

Der St. Galler Start Hack ist der einzige Hackathon, der an einer Businessschool stattfindet. Organisiert wird er von 35 USG-Studenten unter der Leitung der 22-jährigen Olivia Aeberli. Sie studiert Wirtschaftsrecht, sagt beim Treffen zu Beginn, sie habe von Programmieren keine Ahnung. Klar vor Augen hat sie das Ziel dieses 
Hackathons: «Wir wollen Business und Technologie zusammenbringen.» Nur mit Computerfreaks wäre das nicht zu schaffen, daher hat vor dem Start Hack an der USG eine Hackademy stattgefunden, eine Intensivwoche mit den Basics des Programmierens.

30 USGler haben sich daraufhin getraut, am Hackathon teilzunehmen. «Letztes Jahr waren es nur fünf», sagt Aeberli und steht von ihrem Stuhl auf. «Ich gehe jetzt essen.» Es ist Freitagabend, 20 Uhr. Es gibt ein asiatisches Nudelgericht mit oder ohne Poulet. Um 21 Uhr dann beginnen Workshops mit mehr Details zu den Aufgabenstellungen und Sessions für die Teambildung. Um Mitternacht schliesslich fällt der Startschuss zur Programmierparty. Sie wird bis Sonntagmorgen um 10 Uhr dauern. 

Hackathon St. Gallen

Selbst ist der Hacker: Dem Einfallsreichtum sind keine Grenzen gesetzt – auch nicht beim Entscheid, wo zu schlafen.

Quelle: Daniel Ammann

Entspannte Stimmung

Die Kapuze seines graublauen Hoodies hochgezogen, die Ohren mit mächtigen Kopfhörern bedeckt, vor sich seinen Laptop, ist er da und doch nicht. Auf das Anstupfen an der Schulter schnellt er wie von der Tarantel gestochen hoch von seinem Stuhl, streift die Kopfhörer ab: «Hi, I’m Stan.» Die Stimme ist schrill, der Blick glasig. Stan ist 19 und mit drei Kollegen aus Kiew angereist. Neugier hat sie hergelockt – «unser erster Hackathon» –, Ehrgeiz hält sie wach – «wir wollen gewinnen».

Sie haben die Challenge von Neo in Arbeit und vergessen dabei nicht nur die Umgebung, sondern auch sich selbst: «Wir sind seit Freitagmorgen um sieben Uhr wach», sagt er. Es ist Samstagnacht, zwei Uhr. Stan versucht auszurechnen, seit wie vielen Stunden er nun schon auf Zack ist, schafft es aber nicht. «Wir müssen jetzt definitiv besprechen, wer wann wie lang schlafen geht.» Wo? «Hier», sagt er und zeigt unter den Tisch, an dem sie hocken. Geschlafen wird an einem Hackathon nur im Notfall und dann, wo es sich gerade ergibt. Viele hat die Müdigkeit inzwischen übermannt. Die Youngsters liegen auf dem Boden, auf zusammengerückten Stühlen, im Bälle-Bad, das SRF aufgestellt hat, oder einfach auf dem Stuhl, auf dem sie festkleben. 

Acht Stunden später ist die Party vorbei, die Teams geben das Erreichte an SBB, Volvo und Co. weiter zu einer ersten Sichtung. Wessen Prototyp überzeugt, der darf präsentieren. Dann gehen die besten der guten an eine Jury, die mit 17 Köpfen Schulklassengrösse hat und die Aufgabe, den Sieger des Start Hacks 2018 zu bestimmen.

Hackathon St. Gallen

Teamenvent: Hackathons sind nichts für Einzelkämpfer.

Quelle: Keystone .

Der letzte Akt

Um 13 Uhr am Sonntagmittag folgt der letzte Akt: das Schlussspektakel im Audimax. Alle strömen nochmals dort zusammen, wo vor 43 Stunden alles angefangen hat. Tief entladen raffen sie sich noch einmal auf, lauschen, applaudieren, gratulieren. Die Stimmung ist entspannt und neidlos. Den grössten Jubel ernten die vier Freunde, welche die 500 GAS von Neo gewinnen. Sie studieren zusammen an der ETH Lausanne und haben eine App programmiert, mit der basierend auf Blockchain und Smart Contracts Geld an ein Waisenhaus in Indien gespendet werden kann. Ihre App ist auch der Liebling der Jury, was den Jungs die Gelegenheit einbringt, die Idee zwei Wochen später vor potenziellen Investoren zu präsentieren.

Die Hoffnung, dass aus ihrer Idee ein Business wird, steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Insgesamt hat es am Start Hack fünf Gewinnerteams gegeben. Alle andern sind leer ausgegangen. Frustriert? «Sicher hätten wir gern das Weekend in der Lenzerheide gewonnen, das Volvo verschenkt hat», sagt Jakob und erzählt, er und seine drei Teamgspänli seien fest entschlossen, im Sommer miteinander in die Ferien zu gehen. Und Stan? «Die 500 GAS hätten wir gern genommen, klar», sagt er, gespenstisch bleich, «aber erst seit wir wussten, dass es diese zu holen gibt.» 

Am Sonntag kurz vor 15 Uhr endet das Happening so, wie es begonnen hat: mit einem lang gezogenen «Yeaah». Es ist die Antwort auf Aeberlis Frage, ob sie eine gute Zeit gehabt hätten und wiederkämen.

Hack-Welle

Ein «Hack» ist definiert als eine clevere und unkonventionelle Lösung für eine mehr oder weniger schwierige Problemstellung. Bei Hackathons wird versucht, diese mit Technologie zu lösen. In den USA sind Programmierfestivals seit den nuller Jahren populär, die Welle erfasst langsam, aber sicher auch den Rest der Welt. Gemäss Hackathon.com haben 2016 weltweit 3450 Hackathons stattgefunden mit über 200 000 Teilnehmern.

Der grösste Code-Event Europas ist der HackZurich – 40 Stunden, 500 Hacker –, der jeweils im September im Technopark in Zürich-West steigt. Das Ganze spielt in betont lockerer Atmosphäre, ohne Agenda, ohne Hierarchie und ohne Krawatte. Digitale Entwickler sind die knappe Ressource des digitalen Wandels. Und Hackathons eine effektive, effiziente und kostengünstige Möglichkeit, diese Quelle anzuzapfen. 

Die Blitzevents sind kein Ersatz für Innovation, aber ein Katalysator: Visionäre Ideen werden auf Prototypen heruntergebrochen, aus denen wiederum Zukunftsweisendes entsteht. Der Like-Button von Facebook ist beispielsweise Kind eines Hackathons. 

Die Hackathon-Inhalte sind so verschieden wie die Veranstalter: Das sind Regionen wie das Tessin mit dem Hack the City, der Ende April an der USI stattfindet; Universitäten wie in Zürich, 
wo im Oktober im Landesmuseum zum Open Cultural Data Hackathon eingeladen wird und fast zeitgleich zum Brainhack, der auf Neurowissenschaften fokussiert, mit dem erklärten Ziel, «uns von unserem Tunnelblick zu befreien». 

Auf der Suche nach unverstelltem Blick und neuen Perspektiven veranstalten immer mehr Unternehmen Code-Parties. Bereits vier Jahre Tradition hat der Hackathon, den Börsenbetreiberin SIX jeweils im Frühling veranstaltet, für «jeden, der die Finanzwelt revolutionieren möchte». Dieses Jahr versucht auch Feldschlösschen mit dem «First Beer Hack of Europe», ein paar Schritte weiterzukommen bezüglich «Change the Future of Beer». 

Iris Kuhn Spogat
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