Wenn der digitale Staat zum Schnüffelstaat wird

Als die Koreanerin Jenny Son ihre Wohnung verliess, um sich auf Coronaviren testen zu lassen, klingelte eine Viertelstunde später ihr Handy. Der Staat war dran. Genauer gesagt, ein Corona-Überwachungsbeamter. Wo sie hingehe, fragte er barsch, schliesslich habe sie unautorisiert die Wohnung verlassen und so gegen die Quarantänepflicht für Rückkehrer verstossen. Woher er das wusste? Die Ortungsfunktion auf Jennys Handy war auf staatlichen Befehl hin eingeschaltet. Ihre Position wurde dem Überwachungszentrum live übermittelt, als hätte sie eine elektronische Fussfessel für Gefangene. Ein IT-Programm bemerkte, dass sich Jenny ausserhalb der Wohnung befand, und schlug Alarm. In Korea ist es normal, dass Leute in Quarantäne eins zu eins überwacht werden. So sieht fortgeschrittene digitale Pandemiebekämpfung nun mal aus. Eine solche Massnahme wäre in der Schweiz wohl chancenlos. Doch Jenny Son sieht darin kein Problem. «Uns Koreanern ist die Einhaltung sanitarischer Vorschriften wichtiger als der Schutz der Privatsphäre», sagt sie der «Handelszeitung». «Warum sollte man uns in Europa dafür kritisieren?» Die Schweiz ist hingegen stolz darauf, den Schutz der Privatsphäre wesentlich höher zu gewichten als die Pandemiebekämpfung. Die Handy-Ortung der Bürgerinnen und Bürger wurde hierzulande verboten. Versuche durch Behörden im Wallis und Waadtland, Menschen in Quarantäne digital zu verfolgen, hatte Bern geblockt. «So etwas ginge uns zu weit. Es geht nicht an, dass der Staat jederzeit weiss, wo wir uns aufhalten, selbst in der Pandemie», sagt Bruno Baeriswyl, der frühere Datenschützer des Kantons Zürich. Weniger überwacht gleich rückständig? Dies sei historisch gewachsen, so der Experte. Überall, wo sensible Personendaten vorhanden sind, habe das Parlament sich stets gegen den vereinfachten staatlichen Zugriff entschlossen. Ein Beispiel ist die Speicherung von Handy-Ortungsdaten bei Swisscom, Salt und Surise: maximal sechs Monate. Ähnliches gilt für Impfdaten und Patientendossiers. Sie sind dezentral erfasst und stark geschützt. Die Pharmaindustrie beklagt daher, dass es hierzulande keine personalisierten Daten zum Gesundheitsverlauf von Geimpften und Ungeimpften gebe wie in Israel. Damit werde eine bessere Entwicklung von Impfstoffen und Medikamenten gegen das Coronavirus behindert. Einmal mehr zeige sich, wie rückständig die Schweiz im internationalen Vergleich bei der Digitalisierung sei. Erhebliche Risiken starker Digitalisierung «Die Schweiz ist überhaupt nicht rückständig», kontert der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte Adrian Lobsiger solche Vorwürfe. Es gebe Gründe, dass die Schweiz zurückhaltend sei in der Speicherung und Verknüpfung von Gesundheitsdaten. Es sei richtig, dass der Bund nicht einfach den Beispielen Israels oder Koreas folge. Um dies zu verstehen, müsse man in die Geschichte zurückschauen. Bis zur Französischen Revolution hatten die Territorien hier autoritäre Führer wie heute in Arabien, Afrika und Asien. Und die Polizei war allmächtig. Sie hatte Zugriff auf alles und jeden, wenn man sich nicht nach dem Gusto des Gebieters verhielt, auch in der Schweiz. Dann fegte die Revolution über Europa hinweg. Die damaligen Kantonsverwaltungen wurden zerlegt, voneinander isoliert und mussten gegen Abgaben echten Service public erbringen. Dies galt für Spitäler, die Polizei, das Militär, die Steuerverwaltung, das Zivilwesen und die Landesversorgung. «Die Auftrennung in Fachbereiche machte man in Europa bewusst, um Bürger vor behördlicher Gesinnungsschnüffelei und Willkür zu schützen», sagt Lobsiger, «das ist auch eine grosse Errungenschaft in der Schweiz.» Und so erklärt sich, warum heute Bund, Kantone und Gemeinden Daten nicht forsch digitalisieren und verknüpfen. Doch jetzt sei die Gefahr gross, dass der Staat diese Errungenschaft vergesse und die Privatsphäre auch unter dem Eindruck von Corona preisgebe. «Ein Problem ist der wachsende Einfluss von Informatikern, die Massen persönlicher Daten zu speichern und zu verknüpfen wissen, oft aber wenig Sensibilität für den Rechtsstaat aufbringen», so Lobsiger. Daten lieber dezentral und isoliert Der Drang zur Digitalisierung beschränke sich nicht nur auf die Gesundheit. Lobsiger sieht ähnliche Tendenzen in vielen Bereichen wie Steuern, Sozialversicherung und Strafverfolgung. Die Rechtfertigung dafür sei oft dieselbe: effizient, praktisch und sinnvoll. Beispiel Türkei: Dort hat jeder Bewohner ein einziges Login für alle Bereiche – Grundbuchauszug, Steuerbescheid, Corona-Testresultat, Arztrezept, Ausweis, Bussen, Subventionsbescheid, alles auf einer Plattform. «Das ist für die Bürger superpraktisch, weil der Staat per Handy überall erreichbar ist. Aber das System erleichtert Missbrauch und Profiling», sagt Öykü Isik, Datenprofessorin am IMD Lausanne und gebürtige Türkin. In der Schweiz gebe es auch Kreise, die eine solche «Once Only»-Plattform mit allen Daten beim Staat wünschen, sagt Baeriswyl. Technisch wäre es möglich, aber in der Umsetzung brandgefährlich. «Wo digitale Daten sind, ist enormes Missbrauchspotenzial vorhanden», so der Experte. Die Schweiz habe gute Gründe, die Digitalisierung besonnen voranzutreiben, sagt auch Lobsiger: möglichst dezentral und die Einheiten voneinander isoliert – eine historische Errungenschaft.