Werbung gilt schon seit Jahren als Prügelknabe der Gesellschaft. Sie soll an Lungenkrebs, an dicken Kindern, an schlechten Zähnen, an unüberlegten Einkäufen und vielem mehr direkt oder indirekt schuld sein. Sie drängt sich morgens bis abends ungefragt in jeden Lebensbereich; ist aufdringlich überall präsent. Nicht einmal der Toilettenbereich bleibt von ihr verschont. Aggressive Werbung – wenn Menschen von ihr reden, meinen sie alle Formen der Marketingkommunikation und unterscheiden nicht zwischen Telefonverkauf, Direktmailing, Spam-Mail, Verkaufsförderung oder Verkauf.

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Unter dem Druck der Shareholder, schnelle Gewinne zu erzielen, betrachten viele werbende Unternehmen die Kunden als Geldbeute in einem umkämpften Markt und nicht als zukünftige Partner in einem fairen Geschäft. Diese Haltung prägt die Marketingsprache. Begriffe wie «Front», «Konkurrenzkampf», «Guerillamarketing», «Marktaggressivität», «Umzingelungsstrategie», «Strategie des Flankenangriffs» und «Direktangriff» führen zu einer kämpferischen Denkweise, die unbewusst Gestaltung und Stil, Einsatzort und Einsatzzeit (etwa Anrufe zur Unzeit) der Werbung prägt und ihr den Stempel «aggressiv» aufdrückt.

Die Kunden fühlen sich von aggressiver Werbung in die Ecke gedrängt, angegriffen, und befürchten Schäden in ihrer persönlichen Integrität. Denn: «Aggression ist eine Verhaltensweise, die beabsichtigt, Schaden oder Schmerzen zu verursachen. Aggressives Verhalten steht eng im Zusammenhang mit Angriffs-, Flucht- und Verteidigungsverhaltensweisen.» Nachgeben ist Fluchtverhalten; gibt ein Kunde aggressiver Werbung nach, wird er mit Verträgen gebunden, aus denen er schwer oder gar nicht mehr aussteigen kann. Aus Wut und Enttäuschung werden die schlechten Erfahrungen weiter erzählt. Verteidigung hingegen äussert sich in «Stopp-Werbung»-Klebern an Briefkästen.

«Ich werde nicht ernst genommen», fassen die Kunden ihr Gefühl in einem der häufigsten Vorwürfe zusammen. Sie entwickeln Antipathien, Ärger, Wut oder auch Resignation und reagieren mit Angriff. In persönlichen Reaktionen am Telefon, unpersönlichen in Medien und je länger, desto mehr anonym in Weblogs greifen sie Unternehmen an. Diese werden so in eine Verteidigungsposition gedrängt, aus der sie kaum entweichen und nicht im gleichen Kommunikationsstil reagieren können.

Ob Werbung aggressiv wirkt, hängt auf der einen Seite von der Einstellung des Unternehmens ab. Ist der Kunde jetzt «Beute» oder doch «Partner»? Jedes noch so kleine Element in der Werbung, bewusst oder unbewusst gesetzt, kommuniziert und prägt die Botschaft, die letzlich im Kopf des Empfängers auf der anderen Seite entsteht. Es kommt nicht darauf an, was man mitteilen will, sondern darauf, was und wie es ankommt – eine alte Faustregel, die viel zu selten beachtet wird. Ob Werbung aggressiv wirkt, entscheiden letztlich die Kunden.

Wenn ein aggressiv werbendes Unternehmen seine Kunden nicht ernst nimmt, darf es sich nicht wundern, wenn sie sich im gleichen Kommunikationsstil zur Wehr setzen und angreifen. Aggressive Werbung könnte sich immer mehr zu einem Boomerang entwickeln und in Marketingkrisen führen.

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* Emil Annen, Marketingprofessor, FHNW; Seminarleiter, Institut für Marketing und Handel, Universität St. Gallen.