Noch bevor die ersten Euro-Noten und -Münzen zirkulieren, testet die unsicher schwankende Konjunktur den Euro unbarmherzig. Nachdem sich die amerikanische Notenbank flexibel gezeigt und die Zinsen um ein Drittel gesenkt hatte, geriet die Europäische Zentralbank (EZB) mit ihrer zögernden Politik in den wenig schmeichelhaften Ruf, sich einen Deut um Europas Arbeitsplätze und Gewinne zu kümmern. Und überraschte Mitte Mai die Märkte, indem sie ihre Leitzinsen um ein Viertelprozent senkte – mit der nicht minder überraschenden Begründung, die Preisstabilität im Euro-Raum sei nicht mehr gefährdet und die Zinssenkung trage zum nachhaltigen wirtschaftlichen Wachstum im Euro-Raum bei.

Da fragt sich denn, ob die EZB das durfte. Denn eigentlich schreibt der Vertrag von Maastricht, also die Verfassung der EU, die Preisstabilität als «vorrangiges Ziel» vor, und das Wachstum, die Vollbeschäftigung, die Gewinne kommen nur in Betracht, «soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität» geht. Kohl, Mitterrand und die anderen Gipfelteilnehmer haben damit in Maas- tricht Ende 1991 während eines weltweiten Inflationsstosses von sieben Prozent den Fehler gemacht, die ganze EU-Zukunft als Reaktion auf einen Tagestrend festzuschreiben.

Und die Inflation im Euro-Raum steigt eben immer noch, sie lag schon letztes Jahr mit 2,3 Prozent über dem von der EZB vorgegebenen Ziel von nur 2 Prozent. Gegenwärtig klettert sie schon auf 2,6 Prozent. Doch der Durchschnitt sagt noch nichts, Wim Duisenberg von der EZB ängstigt sich nämlich um die viel höheren Raten in den verbliebenen Wachstumspolen der Union: 5 Prozent Inflation in Irland, 4,6 Prozent in Holland und gut 3 Prozent in Italien. In Deutschland dagegen rattert die Konjunktur schon rasch abwärts, die Produktionspreise tun dies auch, und der Chef des IFO-Wirtschaftsinstituts, Hans-Werner Sinn, hält Deflation für drohender als Inflation. Frankreich wie Österreich zeigen nur noch gut ein Prozent Inflation. Aber alle Euro-Mitglieder haften kollektiv. Die Zinssätze gelten für alle; mit ihrer bisherigen Hartnäckigkeit bewirkte die EZB also Entlassungen in Deutschland und Frankreich, um in Dublin oder Rotterdam die Hauspreise zu bremsen. Das ist kein Rezept für Popularität, weder in Deutschland noch in Holland. Doch in nur sechs Monaten sollen die Bürger des Währungsraumes freudig ihr Geld hergeben, um Euro-Noten zu erhalten.

Psychologische Faktoren solcher Art können aber die Konjunktur abwürgen – das Konsumentenvertrauen in ganz Europa schwächt sich schon ab. Nur der Einkäuferindex, also der Mut der Firmen, hält sich noch um die 50-Punkte-Grenze, deren Unterschreitung eine Rezession anzeigt.

Wenn die Geldpolitik passen muss, liegt die ganze Last der Beschäftigungspolitik deshalb auf der Budgetpolitik der einzelnen Länder. Sie könnten versuchen, mit mehr Ausgaben einzuspringen, wenn die Kaufkraft der Konsumenten sich zögerlich zeigt. Schon subventionieren mehrere Regierungen die Autofahrer und Wohnungsheizungen, indem sie die hohen Ölpreise mit tieferen Steuern darauf zu mildern versuchen. Das aber erhöht die Defizite, und gegen diese wettern die EU-Behörden ebenfalls. Irland, Italien, Frankreich und Deutschland fingen bereits Tadel ein, weil ihre Finanzen als überdreht eingestuft wurden. Der Massstab hierzu ist der famose Stabilitätspakt, der zur Härtung des künftigen Euro eingegangen wurde. Dieses Jahr werden die öffentlichen Finanzen in Frankreich, Deutschland und anderswo aber viel schlechter werden, weil die letztjährigen UMTS-Milliarden nicht noch einmal die Budgets schönen helfen. Italiens Wahlsieger werden überdies fiskalischen Champagner ausschütten – das ist versprochen, aber schädlich für das Ansehen des Euro-Raums.

Dieses Ansehen hat bereits seit 1999 einen Knacks: Der Euro fiel. Auch dieses Manko im Aussenkurs treibt die EZB an, höhere Zinsen als die USA zu schreiben, damit der Kurs nicht weiter zerfällt. Nur mit den Zinsschritten der USA erhält der Euro allmählich Spielraum für tiefere Zinsen – Hilfe vom grossen Bruder.

Mit all diesen Zwängen um Euro, Euro-Kurs und Euro-Zinsen aber ist die Euro-Konjunktur hochgradig gefährdet. Da mag sich Wim Duisenberg noch lange herausreden, Europa exportiere nur gerade 2,3 Prozent seines Inlandprodukts in die USA und deshalb könne sich deren Schwäche nicht über den Atlantik fortpflanzen. Die Rezession kommt auch auf anderen, leisen Sohlen: über zu hohe Zinsen und über Finanzabflüsse aus Europa in die USA. Denn die schlechten Aussichten lassen die künftigen Firmengewinne dünn aussehen, während in den USA die Spekulation auf den Turnaround lockt. Schon senken die internationalen Beobachter die Wachstumsaussichten Europas am laufenden Band, die OECD etwa oder der amerikanische Finanzminister Paul O’Neill, der sich sehr verwundert («mystified») ob der Zuversicht der EZB zeigte. Sollte allerdings die US-Konjunktur doch noch richtig tauchen, etwa wegen der privaten und unternehmerischen Schulden, wegen des Handelsdefizits, dann gewönne die EZB schliesslich den Ruhm, stetiger als die zuerst nach oben, dann nach unten überschiessenden US-Kollegen zu handeln. Die Planer in den Firmen schätzen zwar Voraussehbarkeit. Doch wie Lucent oder Cis- co in den USA zeigten, plant man dort überhaupt nicht über drei Wochen hinaus, in Europa schon eher.

Aber wenn es solche nationalen Gemüts- und Konjunkturunterschiede gibt, rechtfertigt sich dann eine EZB, die ganz Europa unters gleiche Joch zwingt?

Die Antwort liefert die Schweiz, die ihre Unabhängigkeit ganz gut in tiefere Zinsen, tiefere Inflation und stärkeres Wachstum ummünzt. Die Nationalbank senkte die Zinsen, und trotzdem fällt der Franken nicht ins Bodenlose, sondern hat sich seit zwei Jahren gegenüber dem Euro klar aufgewertet. Daher legen die Investoren weiterhin zu tieferen Frankenzinsen an, daher geniesst das ganze Land einen konjunkturell wichtigen Zinsbonus von anderthalb Prozent – oder von genau 50 Prozent weniger Kapitalkosten, von unten herauf gerechnet. Denn Staatsanleihen tragen im Euro 5,25 Prozent, in der Schweiz 3,5 Prozent Zins. Trotzdem geht sogar die Rechnung für die Sparer auf, nämlich bei den Realzinsen, also bei den Zinsen abzüglich der Inflationsrate: mit nur einem Prozent Inflation tragen sie fast so viel ein wie in der EU mit 2,6 Prozent Inflation.

Ausserdem sind die öffentlichen Finanzen der Schweiz mehr als nur im Lot, ja mit Milliarden im Überschuss. Wegen dieser Faktoren erwarten jüngste Studien der Bank Vontobel, der UBS und der Deutschen Bank auch weiterhin einen Zinsbonus der Schweizer Währung. Und dies hat eben konjunkturelle Folgen. So wie die Zwangsgeburt des Euro heute für die einzelnen Länder zu einem engen Wachstums- und Beschäftigungskorsett wurde, so setzt eine nationale Währungspolitik zu einer positiven Spirale an, wo sich alle Faktoren günstig addieren. Vielleicht kann sich ein kleiner Währungsraum einmal täuschen, aber grosse sind davor auch nicht gefeit. Der Test im Massstab eins zu eins von Dollar, Euro und Franken geht im zweiten Halbjahr in die entscheidende Runde.

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