Boris Collardi ist an diesem Tag besonders guter Dinge. «Deliver» heisst sein Arbeitsgrundsatz, und heute hat er geliefert. Nur zwölf Tage nach Bekanntgabe der neuen Wachstumsstrategie der Bank Julius Bär kann er den ersten Erfolg verkünden: den Kauf des Schweizer Private-Banking-Ablegers der niederländischen ING. Dank dem Deal steigen die verwalteten Vermögen der Bär-Gruppe auf einen Schlag um über zehn Prozent – die Börse wird den Kauf in den Tagen darauf mit einem Kurssprung belohnen.

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Dieser 7.  Oktober ist für ihn zwar auch ein Stresstag – in der Nacht davor hat er den Vertrag unterschrieben, um acht Uhr morgens vor versammelter Belegschaft der Bank Bär in Genf den Deal verkündet, dann die Fahrt zu ING, um dort aufzutreten, danach mit dem Flugzeug zurück nach Zürich ans Interview mit der BILANZ. Doch man sieht ihm die Strapazen nicht an – ein Vorteil seines jungen Alters. Der Tag habe ihm Spass gemacht, sagt der 35-Jährige und lächelt breit. Nur etwas tue ihm leid: Den geplanten Lunch mit einem VR-Präsidenten einer Grossbank habe er verschieben müssen.

Erster Mann in der Bank, Dealmaker auf dem nationalen Parkett, Meetings mit den Granden der Konkurrenz – da hat sich einer auf dem Spielfeld der Branche schnell eingelebt. Dabei kannte vor einem Jahr noch kaum jemand diesen Banker mit Namen Boris Francesco Jean Collardi. Er selber reibe sich ab und zu die Augen: «Bis heute realisiere ich manchmal noch nicht zu hundert Prozent, dass ich CEO bin.»

Gutes Gespür. Seine Berufung zum Chef der Bank Julius Bär vom vergangenen März war eine Überraschung. Zwar fiel sein Name bei der Nennung möglicher Kandidaten für die Nachfolge von Alex Widmer, der im Dezember 2008 aus dem Leben geschieden war. Collardi galt als Ziehsohn von Widmer – sie hatten schon bei der Grossbank Credit Suisse eng zusammengearbeitet. Dennoch wurden seine Chancen als eher gering eingeschätzt.

Nicht nur war er der jüngste der Kandidaten, sein Profil war zudem wenig ausgeprägt. Collardi war 2006 von der CS zu Bär gekommen und wirkte als Chief Operating Officer. Er besass viel Organisations-Know-how, aber keine Kundenerfahrung. Er galt als durchsetzungsstarker Projektleiter, aber darüber hinaus hatte er keine grossen Stricke zerrissen. Profunde Erfahrung auf den Kapitalmärkten konnte er nicht vorweisen. Wenn man über Collardi redete, in oder ausserhalb der Bank, dann eher über seinen Ferrari, mit dem er durch die Strassen brauste, oder über die exklusiven Uhren, die der passionierte Sammler besass.

Was dabei viele übersahen, ist die verborgene Stärke des Bankers: sein Gespür für den Einsatz im richtigen Moment. Nicht stets auf höchster Drehzahl zu fahren, aber im entscheidenden Moment Vollgas zu geben und alle abzuschütteln – dies zieht sich wie ein roter Faden durch die Karriere von Collardi.

Kollegen, die lange mit ihm zusammengearbeitet haben, zeichnen das Bild eines Mannes, der zwar sehr viel arbeitet, aber kein Chrampfer ist. Erzählt wird von den langen Stunden, die der Banker im Büro verbrachte, ebenso wie von jenen Vor- oder Nachmittagen, an denen er plötzlich nirgends auffindbar war und man im Büro schmunzelnd vermutete, Boris sei wohl gerade am Probefahren eines schnellen Autos oder daran, eine schöne Uhr zu kaufen.

Bis heute gilt Collardi als Mann, der es mit der Pünktlichkeit nicht allzu genau nimmt. Immerhin behandelt er diesbezüglich alle gleich. Seine Vorgesetzten bei der CS soll er mit den Verspätungen schon mal zur Weissglut gebracht haben. Auch bei Bär sorgt sein voll gepackter Terminkalender mitunter für Atemlosigkeit und etwas Chaos. Doch dann gibt es jene Momente, in denen keiner disziplinierter, keiner engagierter, härter, fokussierter arbeitet als er: Dann, wenn es wirklich drauf ankommt.

Etwa bei seinem Assessment diesen Frühling, als er gegen in- und externe Kandidaten – etwa Bär-Geschäftsleitungsmitglied Thomas Meier – ins Rennen um den CEO-Job ging. Im fürs Auswahlverfahren zuständigen Verwaltungsrat waren Profis, denen man nichts vormachen kann. Leonhard Fischer etwa, Ex-Investment-Banker und lange Chef der Winterthur-Versicherung, oder Peter Küpfer, ein ehemaliger Topmann der CS, heute als Profi-Verwaltungsrat einer der Drahtzieher der Schweizer Wirtschaft. Das entscheidende Wort hatte dann Präsident Raymond Bär.

Tag Eins. Derartige Auswahlverfahren sind happig: Die Kandidaten werden vom Nominationsausschusses und von weiteren Entscheidungsträgern regelrecht gegrillt.

Es sind solche Momente, in denen Collardi seine Stärken ausspielen kann: seine Intelligenz, sein Gespür für Erwartungen. Viele Stunden setzte er ein: «Ich habe mich gewaltig gut vorbereitet», sagt Collardi, «mich über alle Themen intensiv kundig gemacht, enorm viel gelesen.» Mehr noch: Collardi verfasste eine detaillierte Day-One-Präsentation, einen genauen Plan darüber, was er machen würde, wenn er Chef der Bank wäre.

Nach dem Assessment war er sich sicher, dass er die beste Präsentation gemacht hatte.

Er beeindruckte seine Chefs mit dem Papier. Und er traf ihre Erwartungen – die Strategie, welche die Bank heute fährt, ist zum grossen Teil jene, die Collardi bei seinem Assessment skizzierte. So überzeugend war der Auftritt des jüngsten Kandidaten, dass die Bank einen Monat früher als geplant ihren Entscheid kundtat – am Montag, dem 30.  März, legte Raymond Bär Collardi den unterschriftsreifen Vertrag vor.

Heute zeigt sich Bär im Entscheid bestätigt. Collardi könne gut zuhören und «komplexe Zusammenhänge in kürzester Zeit verstehen und umsetzen». Der CEO sei ein «sehr internationaler Schweizer», vielsprachig, mit Auslanderfahrung. Das komme gut an, sei es in Zürich, Singapur oder Buenos Aires. Zeichen seiner Stärke sei auch, dass er es nicht scheue, gute Leute zur Bank zu locken. «Anstellungsstärke» sei ein generell wichtiges Merkmal eines guten Chefs, ist Bär überzeugt.

Es ist nicht das erste Mal, dass Collardi den Moment für sich zu nutzen weiss. Auch bei der CS, wo er die Basis seiner Karriere legte, waren es jene oft nur kurzzeitig geöffneten «Fenster der Gelegenheiten», an denen Collardi nicht einfach vorbeiging. Etwa 1999, als er sich bei Oswald Grübel, dem späteren CEO der Credit Suisse, in nur zwei Stunden nachhaltig in Erinnerung zu rufen vermochte.

Collardi war damals unter Alex Widmer für die CS in Singapur tätig. Widmer war 1998 zum Asienchef ernannt worden und hatte den Projektleiter von seinem Vorgänger übernommen. Obwohl unterschiedliche Typen – Widmer der Kundenbanker, Collardi der Zahlenmensch –, verstanden sie sich von Anfang an gut.

Oswald Grübel hatte seinen Besuch in Singapur für Oktober 1999 angekündigt. Widmer und Collardi oblag es, die Geschäftsreise des Chefs zu planen. Nach Terminen mit Kunden und Investoren blieb ein Loch von zwei Stunden, das zu füllen war. Widmer beschloss, die zwei Stunden für eine Präsentation einzusetzen. Sehr im Sinne von Collardi: Bei solchen Vorträgen konnte er sein strukturiertes Denken am besten an den Mann bringen. Das Thema war geschickt gewählt: Singapur als «Booking Center», als Anlaufstelle für neue Kunden also, und – als aufsteigender Private-Banking-Platz – auch als Alternative zur Schweiz. Die Basis bildete ein von Collardi massgeblich mitgestaltetes neues Management-Informationssystem. War lange nur schwer nachzuvollziehen, woher eigentlich genau die neuen Kundenkontakte kamen und wo im weltweiten CS-Netz die Kunden gebucht wurden, so bot dieses neue System detaillierte Zahlen als Grundlage.

Zuhörer Grübel zeigte sich beeindruckt. Und Collardi bekam eine Karrierechance: So angetan war Grübel offenbar von diesem dynamischen jungen Mann in Singapur, dass er ihn wenige Wochen später zu seinem neuen persönlichen Assistenten in Zürich machte. Damit wurde Collardi fürs oberste Management sichtbar – entscheidend für eine Karriere.

Hartnäckig. In seiner Zeit bei der CS fügte sich Collardi gut ein, zeigte sich detailversessen und hartnäckig: «Wenn man ihn zur Türe rausschickt, klettert er zum Fenster wieder rein», sagt ein Arbeitskollege. Und Collardi weiss um die Kraft der Symbole: Auf seinem Pult prangt ein Schild aus Holz mit seinem Namen, wie es sonst nur amerikanische CEO verwenden.

Dabei war Collardi eher zufällig in die Branche gerutscht. Sein Vater war es, der dem Sohn nach Abschluss der Mittelschule in Nyon 1993 eine Zeitungsanzeige unter die Nase hielt, in der die Credit Suisse Trainee-Jobs ausschrieb. Der 19-jährige Sohn, der sich eigentlich schon an der Hochschule in Lausanne für Wirtschaftswissenschaften eingeschrieben hatte, verschob seine Uni-Pläne und bewarb sich für die 16-monatige Stage. Das Trainee-Programm habe bei ihm die Begeisterung fürs Banking geweckt, erzählt er.

Die CS förderte den jungen Mitarbeiter weiter, schickte ihn nach Köln und Zürich, um Deutsch zu lernen. Damit erhöhte Collardi die Zahl der Sprachen, die er fliessend spricht, auf vier: Französisch, Italienisch, Englisch und Deutsch.

Internationalität ist seit je Kennzeichen der Familie Collardi. Der Vater war Anfang der siebziger Jahre aus Süditalien in die Schweiz immigriert. In Diensten der Firma Messerli aus Glattbrugg war er als Verkaufsleiter für die Region Genf zuständig. Die Mutter ist eine Genferin mit italienischen Wurzeln und arbeitet als Journalistin bei der Regionalzeitung «La Côte» in Nyon.

Steinzeit. Immer wieder verschob er seine Uni-Pläne, um schliesslich gänzlich im Banking zu bleiben. Ein wichtiger Schritt war sein Umzug nach Asien. Reto Callegari, sein ehemaliger Chef bei der CS in Genf, wirkte als Asienchef in Singapur. Auf einer Urlaubsreise als Rucksacktourist 1997 machte Collardi in Singapur halt, rief ihn an und traf ihn zum Dinner. Ob er nicht nach Asien kommen wolle, schlug dieser ihm vor. Collardi packte die Chance.

Das Private-Banking-Asiengeschäft der CS sei damals rudimentär, ja fast steinzeitlich gewesen, erinnert sich Collardi: «Wir hatten anfangs nicht einmal E-Mail.» Rund 200 Leute standen in CS-Diensten – für ganz Asien. Singapur wurde auch privat wichtig für Collardi: Er lernte dort seine spätere Frau kennen. Cherin Wong aus Singapur war eine Arbeitskollegin, tätig im Private Banking der CS.

Collardi machte im Windschatten von Widmer weiter Karriere. Nur kurz arbeitete er für Grübel, dann holte ihn Widmer wieder nach Asien, damit Collardi ihn beim Aufbau unterstütze. Als der Mentor 2005 zur Bank Bär wechselte, versuchte er Collardi zu überzeugen, ebenfalls auf die andere Seite der Bahnhofstrasse zum kleineren Konkurrenten zu wechseln. Doch Collardi zögerte zunächst. Die Karrierechancen bei der grossen Credit Suisse erschienen ihm vielversprechender. Erst als die Bank Bär im September 2005 mit dem Kauf der unabhängigen UBS-Privatbanken und dem Asset Manager GAM einen Quantensprung machte, liess sich Collardi überzeugen und wechselte zu Bär.

Damit fokussierte Collardi seine Karriere auf die Schweiz. Das Ehepaar Collardi-Wong wohnt heute in Schindellegi, dem Steuerparadies über dem Zürichsee.

Von dort pendelt Boris Collardi an die Bahnhofstrasse in Zürich an den Hauptsitz der Bank Bär. Nicht mehr mit dem Ferrari, sondern mit einem Fiat 500.

Beobachter vermuten, dies mache er aus Imagegründen. Viele glauben, dem Chef einer altehrwürdigen Bank wie Bär stünde eher vornehme Zurückhaltung denn der lautstarke Auftritt mit einer PS-Bolide an. Collardi widerspricht: Er fahre den Ferrari immer noch gerne, nur nicht auf dem Arbeitsweg. Er wähle den Fiat wegen dessen hervorragenden Bluetooth-Systems. Wenn man telefoniere im Auto und die Lautsprecher in der Kabine anstelle, töne es zudem, als ob man vom Büro aus telefoniere. Beim Ferrari gehe das nicht: «Der Motor ist zu laut.»

Collardi ist kein Typ, der sich aus Imageerwägungen verbiegen würde. Im Gegenteil: Er strahlt eine in Managerkreisen nicht oft anzutreffende Authentizität aus. Es wäre ein Leichtes gewesen, auf die Frage nach seiner bevorzugten Musikrichtung von den Vorzügen der klassischen Musik und der Oper zu schwärmen, wie es so viele Wirtschaftsführer wie auf Knopfdruck tun. Er könnte damit seinem jugendlichen Image entgegenwirken. Nicht so Boris Collardi: Er bevorzuge Rock- und Popmusik, erzählt er, und auf die Frage nach den Konzerten, die er zuletzt besucht hat, antwortet er: Zucchero, Beyoncé, Elton John. Auf seinem Nachttisch liegen nicht nur die Bücher des englischen Wirtschaftshistorikers Niall Ferguson, sondern auch die Werke des italienischen Abenteuerschriftstellers Emilio Salgari, dessen Sandokan-Reihe er schon als Teenager verschlungen hat.

Collardi mag zwar einen Touch Snobismus versprühen, ist im Grund aber auf seine Art bodenständig. Freunde schildern ihn als Familienmenschen. Er ist kein Macker, kein Sprücheklopfer. Trotz Kritik in Teilbereichen gibt es kaum Leute, die generell schlecht über ihn reden. Er gilt als unterhaltsamer Gesprächspartner, als Person mit Leidenschaften und menschlicher Wärme.

Er pflegt einen grossen Bekanntenkreis, in dem auch viele Ex-Kollegen sind. So trifft er sich etwa regelmässig mit CS-Vizepräsident Urs Rohner. Freunde sind auch Markus Diethelm, heute General Counsel bei der UBS, und der Hedge-Fund-Pionier und UBS-Verwaltungsrat Rainer-Marc Frey. Mit Ex-Chef Oswald Grübel war er kürzlich beim Mittagessen.

Nicht sehr eng sind indes seine Kontakte in die Reihen der wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger. Er lernte Nationalbank-Vize Philipp Hildebrand kürzlich kennen, doch international ist er kaum vernetzt. Die Kontakte zur Politik und zu den Regulatoren pflegt derzeit vor allem Bankpräsident Raymond Bär.

Auch an der Kundenfront ist der Präsident aktiv und macht damit die Defizite des jungen CEO wett. Dennoch: Collardi muss seinen geringen Erfahrungsschatz an der Kundenfront schnell ausweiten, denn von der persönlichen Bindung an die Kundschaft lebt eine Privatbank.

Kundenkontakte. So gesehen bietet der Kauf der ING Schweiz auch eine Gefahr. Die Tochter muss integriert werden, und weil Collardi hier seine bewährte Erfahrung einbringen kann, muss er der Versuchung widerstehen, die für Kundenkontakte benötigte Zeit auf dem ihm eher vertrauten Parkett der Organisation zu verbringen. Collardi ist überzeugt, beides unter einen Hut bringen zu können, da ihm für die Integration ein erfahrenes Team zur Seite steht. Sein Ziel sei, täglich mindestens einen Kunden zu sehen, betont er (siehe auch Interview auf Seite 38). Präsident Raymond Bär weist auf die gut funktionierende Rollenaufteilung hin: «CEO zu sein, ist zum Teil ja auch ein Desk-Job. Kundenkontakte sind zudem ein wesentlicher Teil meiner Aufgabe.» Bär ist überzeugt, dass sich Collardi auch auf diesem Feld sehr schnell weiterentwickeln wird. Die Rückmeldungen von der Kundenfront seien gut: «Viele hat er als interessanter Gesprächspartner beeindruckt.»

Es war viel los in den ersten sechs Monaten, seit Collardi zum Chef gekürt wurde: Abspaltung des Asset Management, Kostensparprogramme, Wachstumsinitiative, Kauf der ING Schweiz. «Es gab keine einzige langweilige Minute», sagt Collardi. Fehler hat er sich in seinem halben Jahr als CEO bisher keine geleistet. Doch er weiss, dass er mehr als andere im Schaufenster steht. Aber es gibt auch einen Vorteil, wenn man der jüngste Bankchef der Schweiz ist: Die Zeit arbeitet für einen. «Ich habe», sagt er und schmunzelt, «ja schon ein paar graue Haare mehr bekommen.»