Es war einmal ein junger Mann, der war Verkäuferlehrling in einer Herrenboutique in Rapperswil. Seinen Beruf liebte er, und im Geheimen träumte er von seinem eigenen Laden. Heute, viele Jahre später, ist der Mann 51 Jahre alt und Besitzer einer ganzen Ladenkette. Das Träumen hat er sich weitgehend abgewöhnt: «Träume gehen in Erfüllung», sagt er, «und dann muss man damit leben.»

Der Mann heisst Bruno Bencivenga. Seine 40 Läden – bekannt unter den Namen Navyboot, Bagatt, Varesino und Divarese – sind über die ganze Schweiz verteilt. Bencivenga verkauft jährlich fast eine halbe Million Paar Schuhe. Damit ist der Italoschweizer heute erfolgreicher als Bally. Geschafft habe er das dank Talent, Leidenschaft und Glück, sagt er. Was sich in seinem Fall hinter diesen Worten verbirgt, wird im Verlauf des Gesprächs klar: Sein Talent besteht darin, Ideen zu entwickeln; seine Leidenschaft liefert die Kraft, an diese zu glauben. Und sein Erfolg beruht auf dem Glück, im richtigen Augenblick den richtigen Menschen zu begegnen.

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Angefangen hatte er mit 27 Paar Herrenschuhen. Er liess sie nach seinen Vorstellungen designen und in einer kleinen Schuhfabrik in Chiasso herstellen. Sie glichen den Ausgangsschuhen der US-Marine, deshalb nannte er sie Navyboot. Der Schuh mit der weissen Lage gefiel den Schweizer Männern und wurde zum Selbstläufer, kaum hatte Bencivenga sein erstes Lot an den Handel ausgeliefert: Das «Original» ist mit 50 000 verkauften Paar im Jahr bis heute sein Bestseller.

Wenn etwas läuft, lässt es Bencivenga laufen und macht sich an ein nächstes Projekt. So sind zu seinem ersten Schuh ein paar hundert weitere Damen- und Herrenmodelle dazugekommen, die eine Vielzahl vornehmlich italienischer Produzenten Saison für Saison in die Schweiz liefern (siehe «Edle Treter» auf Seite 76). Geld macht er auch mit der Marke selbst: Unter dem Label Navyboot gibt es heute Unterwäsche, Kleider, Taschen, Brillen und sogar Parfums. Diese in Lizenz gefertigten Waren bescheren Bencivenga schöne Erträge bei geringstem Aufwand und krönen seine Schuhmarke Navyboot zum Lifestylelabel. 2006 habe er alles in allem 100 Millionen Franken umgesetzt, sagt Bencivenga. Es ist die einzige buchhalterische Chiffre, die er preisgibt. Gefragt nach Aussagekräftigerem wie Gewinn, Margen und Kapitalisierung, sagt er nur: «Seit zwei Jahren sind wir schuldenfrei.»

Finanzen interessieren den Selfmade-Unternehmer nur wenig, sie gehören in die Domäne seiner Frau. Monica Bencivenga kümmert sich im Hause Navyboot nicht nur um die Geldflüsse, sondern zusätzlich um die inzwischen 220 Mitarbeiter. Auch die Auswahl von Schuhmodellen und Taschenformaten hat Bencivenga aus der Hand gegeben: Sämtliches im Produktbereich – von der Sortimentsgestaltung über den Einkauf und die Qualitätskontrolle bis zur Logistik – verantwortet sein um elf Jahre jüngerer Bruder, Flaviano Bencivenga. So bleibt für Bruno Bencivenga – CEO und Präsident seines Unternehmens – viel Zeit und Raum für das, was er am besten kann: vorwärtsdenken.

Das Tagesgeschäft in den Händen der Ehefrau und des Bruders zu wissen, bezeichnet Bencivenga als «grosses Glück». Einmal des uneingeschränkten Vertrauens wegen. Anderseits passen die beiden perfekt zu ihm, weil sie ihn ergänzen: Sie arbeiten strukturiert, er nicht; sie entscheiden vorsichtig, er nicht; sie haben Geduld, er nicht. Drehen sich Gespräche im Kreis, werde es ihm schwindlig, sagt er. Und Sitzungen, die sich in die Länge ziehen, langweilten ihn. In beiden Situationen steht er für gewöhnlich auf und geht. Statt endlos zu diskutieren, probiert Bencivenga lieber aus. Ein Beispiel: Sein Architekt wie auch sein Grafiker – mit beiden arbeitet er seit Anbeginn zusammen – fanden, die Gestelle im Laden am Zürcher Bellevue seien zu vollgestopft. Statt zu debattieren, räumte Bencivenga einen Teil der Schuhe in den Keller. Nach einer Woche öffnete er die Kasse. Da fehlte Umsatz. Seither sind die Gestelle wieder nach seinem Gutdünken gefüllt, und die Debatte ist beendet.

CFO Monica Bencivenga war bis vor zehn Jahren Mutter und Hausfrau. Eine Ausbildung im Bereich Finanzen hat sie nicht und braucht sie nicht. Denn die betriebswirtschaftliche Grundregel im Hause Navyboot lautet simpel: mehr einnehmen als ausgeben. Sie kennt das Geschäft inzwischen aus dem Effeff und schliesst das Jahresergebnis «immer mit einem positiven Ergebnis» ab. Darauf ist sie stolz. Auch darauf, dass sie keine Schulden haben. «Das macht uns sehr frei.» Als Personalchefin verzichtet sie ebenfalls auf graue Theorie und folgt stattdessen Herz und Verstand: Die Angestellten beim Namen zu kennen, ist für sie selbstverständlich. Sie machen zu lassen, solange der Umsatz stimmt, ebenfalls. «Kunden geben ihr Geld gern aus, wenn sie optimal bedient werden», sagt sie und verlangt von ihrem Personal Freundlichkeit, Empathie und Geduld. Wenn sie bei jemandem diese Eigenschaften nicht spürt, stellt sie ihn nicht ein. Von den andern erwartet sie nicht, dass sie immer in Hochform sind: Wer temporär nicht imstande ist, optimal zu bedienen, darf sich hinter die Kulissen zurückziehen und im Lager Schuhkartons zerreissen und Gestelle aufräumen.

Die meisten von Bencivengas Läden sind klein, haben aber einen grossen Keller. Das kommt daher, dass er seine Boutiquen nur an besten Passantenlagen eröffnet, trotz exorbitanten Quadratmeterpreisen. Warum? «Teure Standorte an frequentierter Lage sind mir lieber als billige, und niemand kommt vorbei.» Bencivenga behauptet, dass sein System funktioniere, sogar in Zürich, wo es von Navyboot-Shops nur so wimmelt und manch einer sich fragt, ob sich da nicht einer übernehme. «Wenn ein Laden nicht rentiert, schliessen wir ihn», sagt er darauf selbstbewusst.

Das Verkaufspersonal wird auf ganz besondere Art zu Höchstleistungen motiviert: Die Mitarbeiter von Navyboot dürfen wünschen, womit sie belohnt werden, wollen, falls sie ihre eigenen Ziele übertreffen. Der Filialleiter eines Zürcher Ladens wollte letztes Jahr Flaviano Bencivengas Alfa Romeo. Dafür hat er sein Umsatzziel entsprechend hochgeschraubt. Er hat seine Vorgaben erreicht und von Flaviano persönlich die Autoschlüssel überreicht bekommen. Andere verlangen eine Putzfrau für ein Jahr, eine Woche Ferien mehr oder eine Uhr.

Einfach wie die buchhalterischen Grundsätze sind auch die unternehmerischen Ziele Bruno Bencivengas: Er will möglichst viele Schuhe verkaufen und daher möglichst viele Läden eröffnen. Bislang hat er 40, zehn davon in Zürich; jederzeit können es mehr werden. Denn wird irgendwo ein Ladenlokal an interessanter Adresse frei, hört er davon. Er setzt sich ins Auto oder ins Tram, fährt hin und schaut es sich an. Will er es, nimmt er es, und zwar subito – auch ohne den Segen seiner Kassenwartin: In Davos hat er auf diese Weise dreimal einen Laden eröffnet und wieder geschlossen, weil das Geschäft im Kurort einfach nicht läuft.

Monica Bencivenga: «Ich habe jedes Mal gesagt, dass es nicht geht.»
Bruno: «Dann erzähl jetzt bitte auch das vom Flughafen.»
Sie: «Nein, erzähl du es.»
Er: «Ich bin eines Tages mit zwei Verträgen für Ladenlokale am Flughafen nach Hause gekommen. Da hat sie die Hände verworfen und gesagt: ‹Bist du verrückt, das geht nie und nimmer.›»
Sie: «Ich hatte Bedenken, weil das kurz nach 9/11 war und wir selbst ja nie etwas am Flughafen kaufen. Gemacht hat er es trotzdem.»
Er: «Zum Glück.»

Die Anekdote erzählen beide gern. Sie, weil die Läden rentieren. Er, weil er trotz Widerstand an seiner Idee festgehalten und recht bekommen hat. Die Läden am Flughafen sind nicht nur Umsatzlieferanten, sondern inzwischen auch Bencivengas Fenster in die Zukunft: Eines Tages will er mit Navyboot ins Ausland expandieren. Und diesem ist er am Flughafen näher als sonst wo in der Schweiz.

Bencivenga mag es pragmatisch. Wird es umständlich, spannt er einen alten Freund ein. Er heisst Peter Arnold, ist Wirtschaftsanwalt mit Kanzleien in Zürich und Zug und Vizepräsident im Navyboot-Verwaltungsrat. Er macht für Bencivenga die Verträge. «Bruno entwickelt Ideen wie ein Künstler», sagt Arnold, «ich und meine Mitarbeiter bringen sie – wenn möglich – zu Papier.» Auch seinen Grafiker und Werber hat Bencivenga in den Verwaltungsrat geholt: Rolf Weissmüller hat die erste Werbekampagne für Navyboot gemacht und ist dafür bis heute Bencivengas Mann. Angefangen haben sie klein: Bencivenga hatte kein Geld, musste Navyboot aber bekannt machen. Von Weissmüller erhielt er eine günstige Variante mit viel Grafik und ohne Models. Bezahlt hat er ihn mit Navyboot-Schuhen. Heute, sechzehn Jahre später, könnte Bencivenga sich einen Werbefeldzug mit Models leisten, will das aber nicht. «Wir wollen den Leuten nicht vorschreiben, wie sie auszusehen haben», sagt er. Was als Notlösung begann, ist heute Programm: «Keine Religion. Kein Rassismus. Keine Diskriminierung.» Diese Firmenphilosophie ist weniger politisch als unternehmerisch: Bencivenga will viel Geld verdienen, ergo sind ihm alle Kunden recht.

Ideen, wie er das Geschäft vorwärtsbringen könnte, habe er «tausend am Tag», sagt Bencivenga. Die, die sich in seinen Gedanken festhaken, packt er an. Er verzichtet dabei bewusst auf Strategiepapiere und Businesspläne. «Wer keinen Plan hat, muss auch nicht einen bestimmten Weg nehmen», sagt er, «und kann die Dinge locker angehen.» Er hat sich nicht zuletzt deshalb selbständig gemacht, um sich nicht in die gängigen Muster einpassen zu müssen. So ergibt sich bei ihm eines aus dem anderen. Als er die Zeit für Navyboot-Handtaschen gekommen sah, spürte er 1998 an einer Messe Barbara Meyer, Inhaberin von Lady Lederwaren in Frauenfeld, auf. Die beiden arbeiten bis heute per Handschlag miteinander, einen Lizenzvertrag hat es nie gegeben. Meyer produziert inzwischen Handtaschen exklusiv unter dem Label Navyboot und verkauft diese in zahlreichen Fachgeschäften und Warenhäusern in der Schweiz. Gefällt Bencivenga, was sie macht, nimmt er ihre Taschen auch in seine Läden. Falls nicht, gibt er Navyboot-Taschen bei anderen Lieferanten in Auftrag. «Mir muss nicht gefallen, was sie macht», sagt Bencivenga, «sondern ihren Kunden.» Nur ausnahmsweise mischt er sich ein. Als Meyer ihm die Idee von den «Kantonstaschen» («Ich bin eine Bernerin») präsentierte, rief er: «Ja nicht!» Schliesslich lenkte er ein, denn Meyer war beseelt von dieser Idee. Die Taschen gefallen Bencivenga bis heute nicht, sind aber prompt ein Verkaufshit geworden, und er hat gut an ihnen verdient.

Lizenzen passen zu Bencivenga: Er kann sich damit unterschiedlichste Geldquellen erschliessen, ohne auf Dauer absorbiert zu werden. Ob es etwas gibt, für das er die Marke Navyboot nicht hergeben würde? «Ich lege die Hand für nichts ins Feuer», sagt er. Seinen Lizenznehmern vertraut er und lässt ihnen viel Freiheit, schliesslich sind sie alle Spezialisten ihres Fachs. Regelmässig lädt er sie ein. Zum Beispiel zu einem Mittagessen in den elitären Club am Rennweg. Dort ist er Member und zahlt eine Gebühr von 10 000 Franken im Jahr, die es zu verkonsumieren gilt. Einmal dienen diese Treffen dazu, den Stand der Dinge zu diskutieren. Andererseits wird so das Navyboot-Netzwerk gepflegt, das nicht nur aus Lizenznehmern besteht. Bencivenga hat Geschäftsbereiche wie Grafik, Architektur, Werbung, Mediaplanung und Public Relations an externe Partner ausgelagert: Auch sie lädt er ein. Seine auf Partner gestützte Unternehmensführung nennt er «opportunistisches Management»: Gibt es Probleme und keine Lösung, wechselt er den Parnter.

Bencivenga gilt als charismatischer, sympathischer, energiegeladener, fairer und zuweilen chaotischer Geschäftspartner. Beim Lunch im Club am Rennweg wird einiges davon hör- und spürbar: Bencivenga hält eine kleine Ansprache, bedankt sich fürs Kommen, sagt dem einen: «Das hast du viel besser gemacht, als ich es gekonnt hätte», und dem andern: «Danke, dass du das geregelt hast.» Und in die Runde: «Mein Konzept funktioniert ausschliesslich dadurch, dass ich die richtigen Leute kennen lerne. En Guete.» Bencivenga ist nicht einfach einer von ihnen, er ist ihr Motivator. In seinen Vorgaben definiert er nicht das Ziel, sondern nur den Weg, ohne Tempovorschriften.

Eile kennt Bencivenga nicht. «Das ist kein Fussballspiel, das in 90 Minuten gespielt wird. Wir haben das ganze Leben Zeit.» Ziele mag Bencivenga nicht. «Jedes Mal, wenn ich eines hatte, ist es nicht gut gekommen. Wir machen immer das Bestmögliche, aber nicht um jeden Preis.» Inzwischen 51 Jahre alt, weiss er, dass das «ganze Leben» mit jedem Jahr kürzer wird, und denkt immer öfter über die Zukunft seines Familienbetriebs nach. Kommt dazu, dass das Geschäft für das Führungstrio Bencivenga langsam, aber sicher zu gross wird. Als erste Massnahme bekommt seine Frau nun eine Assistentin. Sein Bruder und dessen Assistent – ein Neffe der beiden Bencivengas und potenzieller Nachfolger von Flaviano – werden zudem von jeglichem Administrativkram befreit, sodass sie sich ausschliesslich ihrem Kerngeschäft, dem Einkauf, widmen können. Dieses Jahr tätigen die Bencivengas zudem erstmals eine grosse Investition, die nicht in ein neues Geschäft mündet: Ab Herbst arbeiten sie mit Computerkassen. Dann endet die Zeit, da die Ettiketten sämtlicher verkaufter Schuhe auf ein A4-Blatt geklebt und nach Ladenschluss in die Zentrale am Zürcher Bellevue gefaxt werden müssen, auf dass sie dort von jemandem – bis vor kurzem war das Bencivengas heute 81-jähriger Schwiegervater – in den Computer abgetippt werden können.

Auf Flaviano folgt Neffe Licio. Auf Monica möglicherweise ihre künftige Assistentin. Und auf Bruno? Der Mann zuckt die Schultern. Indes: Seine Tochter, die in den USA Politologie studiert hat, arbeitet seit wenigen Monaten in der Firma. Wenn ihr das Geschäft Freude macht, sie dafür Talent hat und es ihr Wunsch ist, wäre sie seine Traumnachfolgerin. Wie war das mit Träumen? «Ich weiss heute einfach, dass ich, wenn ich von einem Schloss träume, auch noch träumen muss, wer es unterhält und putzt.»

Iris Kuhn Spogat
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