«Wir benutzen die Statistik wie ein Betrunkener einen Laternenpfahl: vor allem zur Stütze unseres Standpunktes und weniger zum Beleuchten eines Sachverhalts.»
Andrew Lang

Gemäss einer simplen Hochrechnung wird die Schweiz, bei Fortsetzung des seit 1980 mageren durchschnittlichen Wachstums, im Jahre 2028 – gemessen am kaufkraftbereinigten Pro-Kopf-Einkommen – eines der ärmsten Länder in Westeuropa sein.» Das schrieb Jean-Daniel Gerber, der seit 2004 das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) leitet. Die Aussage wurde von den Medien breit als quasioffizielle Warnung vor der Schweizer Wachstumsschwäche zitiert. Sie enthält fast alle wesentlichen Zutaten, mit denen die aktuelle Debatte um die Wirtschaftskrise in der Schweiz gekocht wird.

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Schon eine erste einfache Überlegung macht deutlich, wie unsinnig Gerbers Berechnung ist: Selbst wenn die Schweizer Wachstumsrate tatsächlich konstant klein bliebe, so wäre es noch immer eine Wachstumsrate, das heisst, die Bewohner der Schweiz würden jedes Jahr reicher. Arm können sie dadurch also auf keinen Fall werden. Genau genommen sagt das Gerber zugegebenermassen auch nicht, doch immerhin spielt er mit eben diesem Missverständnis. Äusserst erfolgreich, wie die Schlagzeilen beweisen. Trotzdem sagt Gerber lediglich, die Schweiz würde schlimmstenfalls weniger an Reichtum zulegen als andere europäische Länder. Sie würde zwar reicher, aber andere würden – sollte seine pessimistische Annahme zu den Wachstumsraten eintreffen – 2028 noch reicher sein.

Die Aussage Gerbers ist symptomatisch für die Debatte im Land. Eine solche offensichtlich absurde Hochrechnung kann sich eine Verantwortung tragende Amtsperson nur erlauben, wenn sie auf ein aufnahmewilliges Publikum trifft und wenn die Vorstellung von der Schweiz in der Wirtschafts- und Strukturkrise schon zu so etwas wie Commonsense geworden ist.

Wie also kann selbst Nonsens Schlagzeilen machen? Wie kann Nonsens unhinterfragt Teil der öffentlichen Meinung werden, und dies nicht einmal selten und dazu auf einem derart ernsten Feld wie der Ökonomie?

Für dieses Phänomen gibt es eine ökonomische Begründung. In Wirtschaftsfragen – etwa, ob in der New Economy plötzlich völlig neue Wirtschaftsgesetze gelten, oder in der Verarmt-die-Schweiz-Debatte – ist es nur wenigen möglich, die behauptete These genau zu prüfen. Entweder weil es den meisten an der Zeit dafür fehlt, an der nötigen Ausbildung oder an beidem. Ist aber einmal eine gewisse Menge Leute von einer neuen Lehre überzeugt, steigt deren Anhängerschaft plötzlich steil an. Und zwar, weil plötzlich der Zweifel daran mehr Mut und Energie braucht als das schlichte Wiederholen. Immerhin muss sich ein Zweifler genauer mit der Materie auseinander setzen als die Mitglieder der gläubigen Masse, denn er riskiert, von dieser als Banause betrachtet zu werden. «Die werden sich ja wohl kaum alle täuschen können», sagt sich da jeder.

Aber zurück zu Jean-Daniel Gerber. Der zweite Irrtum, den seine Rechnung suggeriert, ist verborgener; man erkennt ihn nur, wenn man sich in ökonomischen Theorien etwas auskennt. Und zwar besagt jener, dass vergleichsweise weniger Reichtum als in anderen Ländern für die Schweiz ein Problem wäre. Ja, wäre es das denn etwa nicht angesichts des so genannten, scharfen «internationalen Wettbewerbs»?

Nein. Denn trotz ihrer Popularität ist die These von der Konkurrenz unter Ländern schlicht Humbug. Für Unternehmen wäre das Zurückfallen im internationalen Wettbewerb ein gefährliches Problem – für ein Land ist es dies nicht. Die Konsequenzen für die Schweiz wären gleich null. Egal, wo wir im Vergleich zu anderen Ländern stehen: Wir wären noch immer so reich, wie wir sind. Und unsere Exportunternehmen noch immer so stark, wie sie sind.

Dies ist keineswegs eine ketzerische Ansicht und auch keine neue Auslegung, sondern im Gegenteil eine uralte und unter Ökonomen so gut wie unumstrittene Erkenntnis. Dennoch haben Politiker und Polemiker verschiedenster Richtungen schon immer gern mit der Bedrohung durchs Ausland gespielt und an Länderstatistiken herumgeschraubt. Einige davon aus Unkenntnis, andere – beispielsweise Ökonomen wie Jean-Daniel Gerber – im vollen Wissen darum, dass sie irreführenden Nonsens verbreiten.

«Lügen, verdammte Lügen, Wachstumsstatistiken …»

Dennoch: Aussergewöhnlich tiefe Wachstumsraten können uns nicht kalt lassen. Sie erscheinen auch unabhängig vom Ausland problematisch. Wenn die Marktrevolutionäre Recht behalten und unsere Politik grössere Wachstumsraten verhindert, dann bedeutet dies, dass wir reicher sein könnten, als wir es sind. Reicher zu sein, heisst, mehr Möglichkeiten zu haben: Wir könnten uns also entweder mehr Freizeit leisten oder ein besser ausgebautes Gesundheitswesen oder mehr AHV oder wilderen Konsum oder weniger Steuern oder weniger Umweltverschmutzung. Wer letztlich vom Mehr an Möglichkeiten bei steigendem Wirtschaftswachstum profitiert, das hängt von der politischen Verteilungsdebatte ab.

Umgekehrt gilt: Ein geringeres Wachstum bedeutet weniger Möglichkeiten. Wer dann mehr, gleich viel oder weniger bekommt, das hängt ebenso von der politischen Debatte ab. Der Verzicht auf Möglichkeiten – ein geringeres Wachstum als möglich – wäre daher in der Tat ein Missstand. So weit ist auf dem Papier alles klar: grösstmögliches Wirtschaftswachstum! Nur sitzt der Teufel in den Details, und zwar in drei grundsätzlichen Fragen. Wie lässt sich erstens Wachstum angemessen erfassen? Wie lässt sich zweitens klären, ob ein Land weniger wächst als möglich? Und wie lassen sich drittens die dafür verantwortlichen Faktoren eruieren?

Die erste Frage ist verblüffenderweise die wichtigste. Die klassische Schulbuchantwort darauf lautet: Das Wirtschaftswachstum wird an der Entwicklung des Bruttoinlandprodukts (BIP) gemessen, das heisst anhand aller in einem Land produzierten Güter und erbrachten Dienstleistungen. Wie diese statistisch erfasst werden, ist leider komplizierter.

Zur zweiten Frage: Um zu beurteilen, ob das BIP-Wachstum zu tief ausgefallen ist, sind Vergleichsgrössen nötig. Meistens wird das Wachstum mit ähnlichen Ländern über gleiche Zeiträume verglichen.

Für sinnvolle Aussagen über das BIP-Wachstum und eine allfällige Wachstumskrise interessieren nur die längerfristigen Entwicklungen des BIP. Der Ökonom Claudio Sfreddo von der Universität Lausanne hat in einem Arbeitspapier die Wachstumsraten innerhalb der OECD, also unter den reichen und entwickelten Ländern, von den siebziger Jahren bis ins Jahr 2002 verglichen. Ein erster Blick auf die Daten erscheint für die Schweiz alarmierend: Tatsächlich wies die Schweiz in den siebziger sowie den neunziger Jahren und über den ganzen Zeitraum von 1970 bis 2002 das geringste durchschnittliche Wachstum unter 25 betrachteten OECD-Ländern auf. Über den ganzen Zeitraum hinweg wuchs Korea mit durchschnittlich 7,23 Prozent jährlich am stärksten, vor Irland mit 5,19 Prozent und Island mit 3,72 Prozent, die USA erreichen mit 3,1 Prozent das neunthöchste Wachstum, Europa kommt mit 2,5 Prozent auf Platz 15, die Schweiz erreicht bloss ein jährliches Durchschnittswachstum von 1,33 Prozent.

Doch Wachstumsraten sagen nichts über den Reichtum oder über die Möglichkeiten eines Landes aus. Wenn jemand sein Einkommen von 1000 auf 2000 Franken steigern kann, erreicht er ein Wachstum von hundert Prozent. Jemand, der sein Einkommen um den gleichen Betrag von 10 000 auf 11 000 Franken steigert, weist zwar eine Wachstumsrate von lediglich zehn Prozent aus, ist aber dennoch immens reicher. Das kleine Beispiel zeigt, dass einerseits das absolut erreichbare BIP für ein Land wichtiger ist als das Wachstum und dass anderseits ein armes Land wegen der kleineren Basis schneller wächst beziehungsweise weit grössere Wachstumsraten ausweist. Die Ökonomen sprechen in diesem Zusammenhang auch vom Aufhol- oder «Catch-up»-Effekt.

Wie steht es nun um den absoluten Reichtum der Schweiz? In demselben OECD-Vergleich gehört die Schweiz mit einem kaufkraftbereinigten BIP von 30 455 Dollar pro Kopf noch immer zu den reichsten unter den reichen Ländern. Reicher sind nur Luxemburg mit 49 150 Dollar pro Kopf, die USA mit 36 121, Norwegen mit 35 482 und Irland mit 32 646 Dollar. Korea mit seinem überragenden Wachstum seit 1970 bringt es dagegen auf ein vergleichsweise tiefes BIP pro Kopf von 17 016 Dollar. Beeindruckend an diesen Zahlen ist zweifellos die Entwicklung von Irland, das seit den Siebzigern am zweitstärksten gewachsen ist. Aber selbst wenn diese Zahlen unbestreitbar wären – was nicht der Fall ist –, besagten sie weder, dass sich die Schweiz auf dem Weg zur Armut befinde, noch, dass sie durch die Reichtumsentwicklung der anderen Länder bedroht sei.

Das BIP beziehungsweise dessen geringes Wachstum in der Schweiz ist Dreh- und Angelpunkt der hiesigen Wirtschaftsdebatte. Gestützt auf die Diagnose der chronischen BIP-Wachstumsschwäche, verlangen Politiker wie Professoren radikale Umbauten in Politik und Wirtschaft. Daher lohnt sich die Frage: Was misst man hier eigentlich? Wie gut ist das Bruttoinlandprodukt geeignet, das Wirtschaftswachstum abzubilden? Die Schulbuchantwort darauf: Es ist dafür schlecht geeignet, bleibt aber mangels einer überzeugenden Alternative die beste Wahl. Wenn aber wegen des BIP weit reichende Konsequenzen gefordert werden, lohnt es sich, auf diese Mängel etwas näher einzugehen.

Während in der Schweiz versucht wird, den Leuten klar zu machen, dass das Land entgegen der alltäglichen Wahrnehmung in einer schweren Krise steckt, ist die Lage in Irland gerade umgekehrt. Die Iren staunen, dass sie plötzlich so reich sein sollen. Ihr Eindruck ist ein anderer – und wie im Fall der Schweiz misst der Alltag genauer als die BIP-Statistiken. In einem Artikel in der «Irish Times» hat sich Joseph Cullen, Ökonom am irischen Economic and Social Research Institute, unter dem Titel «Lügen, verdammte Lügen und Wohlstandsstatistiken …» kritisch mit der OECD-BIP-Statistik auseinander gesetzt. Sein Schluss: «Die Position der irischen Wirtschaft liegt sehr wahrscheinlich irgendwo im Mittelfeld. Sie ist nicht so gut, wie viele denken, aber auch nicht so schlecht, wie viele es empfinden.»

Besonders skeptisch hat Cullen die Tatsache gemacht, dass Irland nach BIP-Statistiken zwar das viertreichste Land sein soll, gemäss anderen Ranglisten aber überraschend miserabel abschneidet. Laut dem Armutsindex der Uno zum Beispiel hat Irland im Jahr 2003 nur gerade den 16. Rang eingenommen – die Schweiz ist in dieser Rangliste nicht aufgeführt. Cullen weist darauf hin, dass Irland im Vergleich zu anderen reichen Ländern auch eine Menge Defizite aufzuholen habe, sowohl im sozialen wie im infrastrukturellen Bereich. Das relativiert den durch das BIP ausgedrückten Reichtum weiter, weil ein grösserer Anteil für Dinge aufgewendet werden muss, über die andere Länder wie die Schweiz bereits verfügen.

Schliesslich ortet Cullen noch einen Mangel, der mit dem Konzept des BIP im Speziellen zu tun hat. Bis vor kurzem war in der Schweiz der Begriff des Bruttosozialprodukts (BSP) viel bekannter als derjenige des BIP. Die Schweiz hat die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung vom BSP auf das BIP umgestellt, weil dies auch die anderen Länder so handhaben. Das BIP geht vom «Inlandprinzip» aus und misst die gesamte im Inland erzielte Wertschöpfung, egal von wem sie erbracht wird und wer daraus die Einkommen kassiert. Das BSP dagegen entspricht dem «Inländerprinzip»: Gemessen wird hier die gesamte Wertschöpfung der Inländer, und zwar gleichgültig, wo sie diese erbringen, im Ausland oder im Inland. Das BSP gibt damit die Einkommensentwicklung der Landesbewohner genauer wieder.

Im Fall von Irland überschätzt das BIP pro Kopf den Reichtum der Einwohner, weil mehr ausländische Unternehmen in Irland produzieren, als umgekehrt irische Unternehmen im Ausland tätig sind. Dadurch fliessen mehr Einkommen aus der Produktion in Irland – die mit dem BIP gemessen werden – ins Ausland als Einkommen aus der Auslandproduktion nach Irland.

Gerade umgekehrt ist die Situation der Schweiz. Schweizer Unternehmen sind weit reger in der ganzen Welt tätig, als es ausländische Unternehmen in der Schweiz sind. Das BIP unterschätzt daher den tatsächlichen Reichtum der Schweiz und auch ihr Wachstum. Um ganze acht Prozent höher, als sie das BIP ausweist, liegen laut Einschätzung von Ulrich Kohli, dem Chefökonomen der Schweizerischen Nationalbank, die tatsächlich den Bewohnern der Schweiz zufliessenden Einkommen. Das irische Einkommen anderseits liegt nach seinen Berechnungen um 21 Prozent tiefer als das ausgewiesene irische BIP. Werden die tatsächlichen Einkommensunterschiede miteinander verglichen, verschwindet das Wunder des reicheren Irland, das sowohl Schweizer wie Iren nicht mit ihrer Alltagserfahrung in Übereinstimmung bringen, und die Schweizer sind tatsächlich um ein Drittel reicher als die Iren. Doch der Reichtumsunterschied zu Gunsten der Schweiz ist tatsächlich noch grösser. Ulrich Kohli begründet dies mit zwei weiteren Mängeln in der statistischen Erfassung des Einkommens.

Ein Grund liegt in der tiefen irischen Unternehmensbesteuerung. Diese führt dazu, dass Unternehmen die Einkünfte in Irland tendenziell eher zu hoch ausweisen und dafür diejenige in Ländern mit höheren Steuern zu tief. Das Einkommen der Iren steigt dadurch nicht, das ausgewiesene BIP hingegen sehr wohl.

Ein zweiter Grund liegt darin, dass die Vergleiche zwischen den Ländern auf so genannten Kaufkraftparitäten beruhen. Dabei lässt man sich von der Vorstellung leiten, dass es zur Einschätzung des tatsächlichen Reichtumsvergleichs zwischen Ländern nicht ausreiche, die jeweiligen Einkommen über die geltenden Währungskurse in ein und dieselbe Währung umzurechnen, also zum Beispiel Schweizer Franken in Euros. Das liege daran, dass die Währungskurse nicht der tatsächlichen Kaufkraft der jeweiligen Währungen entsprächen. Mit zehn Schweizer Franken könne man in der Schweiz zum Beispiel bedeutend weniger kaufen als mit dem gleichen Betrag in Irland.

Was auf den ersten Blick und theoretisch überzeugt, führt in der Praxis wiederum in die Irre. Tatsächlich ist es sinnvoller, die Wechselkurse, also das Tauschverhältnis der Währungen, für den Vergleich der Einkommen heranzuziehen als die Kaufkraftparitäten, wie Kohli überzeugend argumentiert. Die international handelbaren irischen Güter unterscheiden sich im Preisniveau kaum von denen schweizerischer Provenienz. Ein Unterschied lässt sich lediglich bei Preisen für nicht handelbare Güter und Dienstleistungen wie Mieten, Gesundheitsleistungen, Speisen im Restaurant oder die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel feststellen. Doch hier ist der Vergleich äusserst problematisch, weil man ziemlich verschiedene Dinge nebeneinander stellt. Nur ein Beispiel: Eine Wohnung in Dublin ist etwas ganz anderes als eine in Zürich. Der höhere Preis in Zürich kann schlicht ein höheres Qualitätsniveau widerspiegeln und ist somit nicht Ausdruck einer geringeren Kaufkraft der Schweizer. In Tat und Wahrheit würde ja zwischen den Ländern auch nicht im Verhältnis der Kaufkraftparitäten getauscht, sondern eben zu den Wechselkursen, so Kohli. Gemessen an Wechselkursen, ist der tatsächliche Reichtum der Schweizer gemäss Kohlis Berechnungen sogar um 60 Prozent grösser als jener der Iren.

Und selbst damit enden die Probleme des Vergleichs noch nicht. Die bestehende Infrastruktur zum Beispiel zeigt sich im BIP nicht. Wenn ein Land eine schlecht ausgebaute Infrastruktur hat, dann muss es einen grösseren Teil seiner Produktion für Infrastrukturverbesserungen aufwenden, was das verfügbare Einkommen mindert. Ohne diese Investitionen wiederum leidet die Lebensqualität. Hier hat Irland gewaltigen Aufholbedarf.

Bei der Betrachtung der BIP-Wachstumsraten geht vor allem eine Grösse vergessen, die im Falle der Schweiz eine besondere Rolle spielt: die so genannten Terms of Trade. Diese Kennziffer verbessert sich dann, wenn die Exportpreise stärker zunehmen als die Importpreise. Die Terms of Trade zeigen letztlich an, wie viel an ausländischen Gütern ein Land für eigene Güter beziehen kann. Wenn sie sich für ein Land verbessern, bedeutet dies, dass das Land reicher wird. Die Terms of Trade der Schweiz haben sich über die letzten beiden Jahrzehnte in einem Ausmass verbessert wie bei keinem anderen OECD-Land. Schweizer erhalten für ihre Arbeit, also für die Herstellung inländischer Produkte, immer mehr Güter aus dem Ausland. Dies ist gleichbedeutend mit einer Einkommenssteigerung. Die Exportpreise haben in den vergangenen 20 Jahren gegenüber den Importpreisen um beinahe 35 Prozent zugenommen. Die Stärke des Schweizer Frankens hatte daran einen wesentlichen Anteil. Allein dadurch, dass dieser Effekt nicht in die Wachstumsstatistik Eingang findet, unterschätzt diese nach den Berechnungen des Nationalbank-Chefökonomen Ulrich Kohli das jährliche Wachstum zwischen 1980 und 2003 um beinahe ein halbes Prozent jährlich.

Das Wachstum wird zudem nach Kohli noch durch eine Reihe weiterer statistischer Effekte zu gering eingeschätzt, unter anderem durch eine Unterschätzung der realen Wertschöpfung speziell der Finanzbranche wie der ganzen Dienstleistungsbranche überhaupt. In diesen Bereichen ist die Schweiz besonders stark. Kohli behauptet schliesslich, dass das Wirtschaftswachstum über die letzten Jahrzehnte korrekt gemessen um 1 bis 1,5 Prozent jährlich höher ausgewiesen werden müsste, als es jetzt getan wird. Auf zwanzig Jahre gerechnet, wären wir dann bei einer Unterschätzung des Wachstums von 1 Prozent jährlich um 22 Prozent reicher, als die offiziellen Daten uns glauben machen, bei 1,5 Prozent gar um 35 Prozent.

Selbstverständlich lassen sich auch diese Zahlen letztlich nicht beweisen, und sie werden auch heftig angegriffen. So wurde Kohli von seinem Chef öffentlich gemassregelt. «Ob wir in der Statistik auf dem letzten, zweitletzten oder drittletzten Rang erscheinen, ist eine weitgehend irrelevante Debatte», so Nationalbank-Direktor Philipp Hildebrand in einem Interview, «entscheidend ist, dass wir nicht zu den Gewinnern gehören.»

In der politischen Debatte ist das Bruttoinlandprodukt zu einem Fetisch geworden. Während Statistiken einst dazu dienten, einen groben Überblick über die wirtschaftliche Entwicklung zu bekommen, haben die Begriffe heute einen beinahe religiösen Wert erhalten. Das BIP zu erhöhen, wird zu einem Ziel an sich.

Welcher Unfug dabei entsteht, zeigt ein kleines Denkspiel: So ist es fürs BIP höchst schädlich, wenn Eltern mit ihren Kindern zusammen sind. Durch die so reduzierte Erwerbsarbeit wird nämlich das Wachstum gemindert. Besser wäre doch, wenn die Eltern arbeiteten und während dieser Zeit Babysitter für die Kinder engagierten. Das BIP würde dadurch grösser, denn die Löhne der ausser Hauses arbeitenden Eltern und des Babysitters gehen in die Berechnung ein. Doch ist der Reichtum der Beteiligten tatsächlich gewachsen? Kaum. Tatsächlich wird nur dieselbe Aufgabe – die Beaufsichtigung der Kinder – von einer unbezahlten Aufgabe im einen Fall in eine bezahlte im anderen Fall umgewandelt. Wenn die Eltern gerne bei ihren Kindern sind und ihnen die Freude daran mindestens so viel wert ist wie das Einkommen, das sie in derselben Zeit verdienen könnten, ist gerade der ökonomische Vorteil der Eltern durch ihr Zuhausesein kein bisschen geringer. Selbst wenn das BIP dadurch schrumpft.

Wachstum contra Konjunktur

In der Diskussion über die Ankurbelung von Wachstum gibt es in der Ökonomie zwei verschiedene Ansätze und damit zwei Schulen. Diese sind sich zwar über alles Grundsätzliche einig und lassen sich nur theoretisch vollständig trennen: Trotzdem liefern sie sich in der Praxis erbitterte Kämpfe. Denn Ökonomie ist die Wissenschaft vom Einsatz begrenzter Mittel. Wo denn soll der Hebel angesetzt werden?

Der erste Ansatz beziehungsweise die erste Schule geht von der langfristigen Entwicklung des Wachstums aus. Diese hat vor allem das Wirtschaftspotenzial im Auge, also die Schaffung von so starken, leistungsfähigen, effizienten Wirtschaftsstrukturen wie irgendwie möglich. Ziel ist, dass die eingesetzte Arbeit wie das eingesetzte Kapital durch bessere Rahmenbedingungen so produktiv wie möglich werden. In der Praxis erreicht man Rahmenbedingungen für langfristiges Wachstum durch Schleifung von Monopolen und Kartellen, durch niedrige Steuern, durch Abbau von Zöllen und Handelsschranken, durch Abbau von Bürokratie und Regulierungen, durch Schwächung von mächtigen Interessengruppen, die sich mittels politischer Macht vor Konkurrenz sichern.

Bei diesem Rezept für Wachstum gibt es eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute: Langfristig funktioniert es immer. Die schlechte: kurzfristig nicht.

In der Tat erreicht eine von Handelshemmnissen befreite, deregulierte Wirtschaft immer irgendwann die mögliche potenzielle Stärke. Die Frage ist nur, wann? Denn kurzfristig hilft die Entwicklung des Wirtschaftspotenzials oft wenig bis nichts, speziell in einer Krise, wenn die Nachfrage fehlt. Das wäre etwa so, wie wenn eine Fabrik die Stückzahlen erhöhen könnte, die Leute aber zu arm wären, die Produkte zu kaufen.

Da sich dieses Rezept auf die Erhöhung der Effizienz einer Volkswirtschaft konzentriert, also auf die Erhöhung der möglichen Gesamtproduktion, spricht man von der «angebotsseitigen Ökonomie». Der englische Begriff «Supply-side Economics» bürgert sich auch bei uns immer stärker ein. Vor allem das rechte Lager und ganz besonders die Marktrevolutionäre denken und argumentieren aus dieser Sicht, wenn sie von Wachstumsproblemen reden.

Die zweite Sichtweise hat die kürzere Entwicklung des Wachstums im Auge. Sie kümmert sich weniger um die Entwicklung der Leistungsfähigkeit beziehungsweise des Potenzials der Volkswirtschaft an sich, sondern darum, was diese momentan für Probleme hat – also darum, was heute tatsächlich gearbeitet, produziert, gehandelt und verdient wird. Statt der Erhöhung interessiert die Auslastung des Potenzials, wie stark die vorhandenen Kapazitäten an Maschinen, Wissen, Ressourcen und Arbeitskräften auch tatsächlich nachgefragt werden. Der Grund von mangelnder Nachfrage ist fast immer eine so genannte Konjunkturkrise. Kurz, es mangelt an Geld, um zu investieren, also Geschäfte aufzumachen, Arbeitskräfte einzustellen und die hergestellten Waren kräftig zu kaufen.

Man nennt diese Methode zur Ankurbelung von Wachstum daher auch «nachfrageseitige Ökonomie». Da der britische Ökonom John Maynard Keynes als Erster auf die Konjunkturkrisen hinwies, also auf die zyklischen Probleme von Schwankungen in der Gesamtnachfrage, nennt sich diese Sichtweise auch Keynesianismus.

Auch hier gibt es eine gute und eine schlechte Nachricht: Kurzfristig wirkt praktizierter Keynsianismus auf eine Volkswirtschaft wie eine Zuckerinjektion. Frisches Geld kurbelt die Geschäfte an, steigert den Konsum und senkt die Arbeitslosigkeit. Dieses Geld kann etwa durch staatliche Investitionen eingeschossen werden. Eine noch grössere Bedeutung und Wirksamkeit hat die Geldpolitik der Nationalbank. Da sie Geld praktisch per Knopfdruck schaffen oder vernichten kann, hat sie es in der Hand, etwa den Aussenwert des Frankens und damit die Nachfrage nach Exporten zu beeinflussen oder über tiefe Zinsen die Nachfrage nach Investitionen.

Die schlechte Nachricht: Diese Politik holt eine kriselnde Wirtschaft kurzfristig auf die Beine, langfristig aber bleiben die Strukturen unverändert. Der Effekt auf das Wachstum bleibt also aus.

Auf dem politischen Parkett steht nachfrageorientierten Sichtweisen zumindest in der Schweiz die Linke näher. Man sollte sich durch die ideologische Zuordnung allerdings nicht täuschen lassen, in den USA zum Beispiel fahren vor allem die konservativen Republikaner eine keynesianische Wirtschaftspolitik.

Welcher Ansatz aber ist der richtige? Die Theorie dabei ist klar: je nach Diagnose des Wachstumsproblems, so lautet die Therapieempfehlung. Wer also glaubt, die Schweiz wachse langsamer, als möglich wäre, weil die Wirtschaft durch politische Behinderung eingeengt werde, der wird wie die Marktrevolutionäre nach radikalen Änderungen der Politik und der politischen und wirtschaftlichen Strukturen rufen. Keynesianer wiederum werden einen Mangel an Inlandkonsum, Investitionen und Arbeitsplätzen diagnostizieren und tiefe Zinsen, einen tiefen Franken und einen Stopp der staatlichen Sparprogramme fordern. Wie Keynes werden sie argumentieren, dass ein langfristiger Ausbau des Wirtschaftspotenzials den aktuell von der Krise Betroffenen nur wenig trösten wird, denn – so Keynes’ berühmter Spruch – «langfristig sind wir alle tot».

Was bedeuten diese Überlegungen in der gegenwärtigen Wachstumsdebatte? Nun, diese dreht sich letztlich um den Vorwurf der Marktrevolutionäre, die Strukturen der Schweiz seien mangelhaft. Dieser Vorwurf lässt sich aber nur erhärten, wenn feststeht, dass nicht Probleme einer mangelnden Nachfrage für ein zu geringes Wachstum verantwortlich gemacht werden können, sondern dass hier das Wirtschaftspotenzial ernsthaft Schaden genommen hat. Ansonsten investiert man in die falsche Kur. Noch schlimmer: Man lässt die richtige aus.

Also gilt es einen genaueren Blick auf die zentrale These der Marktrevolutionäre zu werfen, das Potenzialwachstum der Schweiz sei so schwach. Um dann die Gegenprobe zu machen und zu prüfen, ob Nachfrageprobleme für das im Vergleich zu anderen Ländern eher bescheidene wirtschaftliche Wachstum der Schweiz verantwortlich ist.

Das potenzielle Wachstum zu bestimmen – also jenes, das bei voller Ausschöpfung aller Ressourcen über die Zeit möglich wäre –, ist ein ziemlich schwieriges Unterfangen. Das gemessene BIP zeigt schliesslich nur, was von diesen im Dunkeln liegenden Kapazitäten tatsächlich beansprucht wurde. Während sich langfristiges, unter anderem durch effiziente Rahmenbedingungen der Wirtschaft getriebenes Wachstum vom kurzfristigen, von der Gesamtnachfrage getriebenen Wachstum sauber trennen lässt, ist dies in der Praxis weit schwieriger. Wie lange dauert eigentlich «kurzfristig», und wann beginnt «langfristig»? Eine mangelnde Gesamtnachfrage kann lange anhalten. Hinzu kommt, dass auch Strukturprobleme durch eine lang anhaltend mangelnde Nachfrage hervorgerufen oder zumindest verschärft werden können: Eine lange und hohe konjunkturell bedingte Arbeitslosigkeit mindert das langfristige Potenzial zum Beispiel deshalb, weil der Ausschluss eines Teils der Arbeitskräfte aus dem Arbeitsprozess die Produktivität der betroffenen Arbeitnehmer empfindlich senken kann, selbst wenn sie wieder in diesen zurückfinden.

Um das Potenzialwachstum zu schätzen, gibt es verschiedene Möglichkeiten. Eine besteht darin, einfach die tatsächlich aufgetretenen BIP-Wachstumsraten über längere Zeiträume anzuschauen und sie mit denen anderer Länder zu vergleichen. Wenn diese nun stärker gewachsen sind und gerade auch noch den einen oder anderen strukturellen Unterschied aufweisen – etwa dass sie tiefere Steuern haben, tiefere Zölle oder einen kleineren Anteil des Staates an der Gesamtwirtschaft –, führt man das geringere Wachstum auf diesen Unterschied zurück. In dieser Art gehen in der Regel die Marktrevolutionäre vor. Nur leider kann die Messmethode des BIP, wie der Vergleich zu Irland zeigt, zu widersinnigen Aussagen führen. Das Hauptproblem der Methode ist aber, dass sie keinen im Sinn von Ursache und Wirkung kausalen Zusammenhang zwischen den beobachteten Strukturen – zum Beispiel dem Staatsanteil – und dem Potenzialwachstum herstellen kann: Es werden einfach zwei Entwicklungen beobachtet. Und die eine dient dann zur Erklärung der anderen. Etwa so, wie ein Statistiker behaupten könnte, ein Bett sei ein besonders gefährlicher Ort, weil da die meisten Leute sterben.

KOF und Seco: Krieg um Kennzahlen

Die wichtigste Kennzahl, um zu bestimmen, wie sich das Wirtschaftspotenzial der Schweiz (oder irgendeines Landes) entwickelt hat, ist die so genannte Arbeitsproduktivität. In der Regel ist damit der durchschnittlich produzierte Wert pro Arbeitsstunde gemeint. Dabei hängt die Entwicklung der Arbeitsproduktivität nur zu einem geringen Teil vom Fleiss der Beschäftigten ab, eine viel grössere Bedeutung haben die Umstände: Wissen und Technologie, in der Sprache der Ökonomen das Sach- und das Humankapital. Ein Fabrikarbeiter ist heute dank der Technik um ein Vielfaches produktiver als zum Beispiel vor 200 Jahren. Wir können uns also mit unserem Arbeitseinsatz immer mehr leisten. Die Produktivitätsentwicklung ist der Treiber unseres Wirtschaftspotenzials, auf sie geht dessen Wachstum zurück.

Eine aussergewöhnlich tiefe Wachstumsrate der Produktivität würde also einen Hinweis dafür liefern, dass wir tatsächlich ein Problem mit dem Wachstum unseres Produktionspotenzials – im Gegensatz zu blossen Nachfrageausfällen – hätten. Zudem ist die Annahme plausibel, dass die Produktivität primär durch die Menge an Beschäftigten, Kapital und Wissen bestimmt wird sowie durch wirtschaftliche und politische Strukturen, welche die Effizienz entweder fördern oder behindern. Eine tiefe Produktivität ist also ein gefundenes Fressen für all jene, die der Schweiz eine strukturelle Krise unterstellen.

Wenig überraschend behaupten die Marktrevolutionäre denn auch, die Produktivitätsentwicklung der Schweiz sei erschreckend tief. Besonders deutlich wird dies im Wachstumsbericht des Bundes, hinter dem der Ökonom Aymo Brunetti steht, der als Mitverfasser des Werks «Die Schweiz AG» schon Ende der achtziger Jahre gemeinsam mit Silvio Borner und Thomas Straubhaar den wirtschaftlichen Niedergang der Schweiz prophezeit hat. «Die Steigerung der Arbeitsproduktivität ist die einzige Option der Schweiz», heisst es dramatisch im Bericht, der 2002 erschienen ist. Das Niveau der Produktivität liege schon jetzt hinter Frankreich, Deutschland und den USA zurück, und das Wachstum der Produktivität nehme erschreckend ab. In den sechziger Jahren habe ihr Wachstum noch rund 2,4 Prozent betragen, in den Siebzigern bloss noch 1,6 Prozent, in den Achtzigern noch 1 Prozent und in den Neunzigern schliesslich bloss noch mickrige 0,8 Prozent jährlich. Diese Aussage besagt genau genommen nicht, die Schweiz werde ärmer, sondern nur, die Zunahme der Reichtumsmöglichkeiten sei geringer als auch schon.

Diese Zahlen sind wahrscheinlich falsch. Auch bei der Bestimmung der Produktivität gibt es eine ganze Menge Messprobleme. Und immer, wenn bei der Berechnung von politisch sensiblen Daten Spielraum besteht, wird dieser von den Akteuren genutzt. Bei ökonomischen Daten kommt dies besonders häufig vor. Die Marktrevolutionäre vom Seco haben bei der Sammlung wie der Interpretation der Daten denn auch einiges getan, düsteren Prognosen eine helle Politur von Wissenschaftlichkeit zu verleihen.

Wie sind sie vorgegangen? Zur Berechnung der Produktivität wird das BIP durch die Anzahl geleisteter Arbeitsstunden geteilt. Wie ausgeführt ist schon die Grösse des BIP in vielerlei Hinsicht problematisch. Doch weit mehr Probleme bietet die Zahl der Arbeitsstunden: Sie ist für die Schweiz schlicht nicht bekannt. Bestehende Angaben dazu sind nichts anderes als Hochrechnun-gen. Je nach Zielsetzung können sie auf diese oder jene Befragung abgestützt werden: Wenn man wie das Seco eine möglichst geringe Produktivität zeigen will, sucht man sich also eine Befragung aus, die auf möglichst viele Arbeitsstunden kommt.

Das Seco hat für seine Berechnungen auf die Daten der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (Sake) zurückgegriffen. Diese Daten werden erst seit 1991 und durch telefonische Befragungen bei 55 000 Personen erhoben. Wie die KOF-Ökonomen überzeugend schreiben, führt das zu einer Reihe von schwer wie-genden Problemen. Das grösste dabei ist, dass die Leute Arbeiten angeben können, die im BIP nicht erscheinen. Dies ist dann der Fall, wenn die Befragten Schwarzarbeit leisten oder andere Arbeitsaufwände angeben, deren Ergebnisse nicht in offiziell statistisch erfassten Märkten gemessen werden. Damit erscheint das gemessene Produkt pro Arbeitsstunde geringer, als es wirklich ist, weil nur die Stunden in die Berechnung eingehen, aber nicht das in dieser Zeit erstellte Produkt. Hinzu kommt, dass die Befragten die Tendenz haben, ihren Arbeitsaufwand zu übertreiben: Zu wenig zu arbeiten, ist in unserer Gesellschaft auf jeden Fall mit weniger Ansehen verknüpft, als zu viel zu arbeiten. Alle Nachteile dieser Methode haben dieselbe Konsequenz: Die so berechnete Produktivität wird kleiner, weil die erstellten Leistungen unter- und der Aufwand überschätzt wird. Das Seco schätzt auf Basis dieser Daten auch die Produktivität der Jahre, als diese Befragungen noch gar nicht durchgeführt wurden.

Dabei gäbe es eine bessere Alternative zur Methode des Seco: eine Berechnung der Produktivität, die sich auf Befragungen von Unternehmen stützt. Auch hier wird nicht die wirklich gearbeitete Anzahl Stunden berechnet. Doch bei der auf dieser Befragung beruhenden Schätzung werden zumindest die mit der gemessenen Arbeit erstellten Produkte erfasst, und die Unternehmen haben einen geringeren Anreiz, die Arbeitszeiten höher anzugeben, als die privat Befragten. Entsprechend geht die Konjunkturforschungsstelle bei ihrer Berechnung vor. Die Daten, auf die sie sich dabei stützt, entstammen der Beschäftigungsstatistik (Besta). Diese wird seit 1925 erhoben und basiert auf Befragungen von etwa 52 000 Betrieben. Da ein Betrieb immer über mehrere Arbeitnehmer Auskunft geben kann, ist auch die Stichprobe der Befragungen grösser als bei der Berechnungsmethode des Seco. Die Berechnung der ETH-Ökonomen anhand dieser Daten führte nicht nur zu einer deutlich höheren Produktivität, sondern auch zu einem deutlich höheren Wachstum derselben. Während der neunziger Jahre ist die Produktivität gemäss KOF-Berechnung um 1,6 Prozent jährlich gewachsen, doppelt so stark, wie das Seco behauptet.

Zur Methode des Seco schreiben die KOF-Ökonomen: «Offenbar kann nicht sein, was nicht sein darf, nämlich ein Produktivitätswachstum von mehr als einem Prozent pro Jahr. Denn bei einem in die Zukunft extrapolierten Produktionswachstum von unter einem Prozent pro Jahr lässt sich die Notwendigkeit bestimmter wirtschaftspolitischer ‹Reformen› besser – oder überhaupt erst – legitimieren.»

Nicht eine Krise – drei Krisen

Wie steht es nun mit der keynesianischen Interpretation, dass eine zu geringe Gesamtnachfrage – zu geringe Exporte, Investitionen oder Einkäufe der Konsumenten – für die so genannte Wachstumsmisere verantwortlich ist? Verständlicherweise wehren sich Marktrevolutionäre mit Händen und Füssen gegen eine solche Erklärung. Wenn Probleme einer zu geringen Gesamtnachfrage für den wirtschaftlichen Kriechgang verantwortlich sind, dann spielen schlechte Strukturen eine untergeordnete Rolle, die Rosskur-Therapien der Marktrevolutionäre würden zur Lösung des Wachstumsproblems nichts beitragen. Das würde sogar dann gelten, wenn sie Recht hätten und die Strukturen tatsächlich so schlecht wären, dass das potenzielle Wachstum dadurch niedergehalten würde und nach grundlegenden Reformen grösser sein könnte. Denn wie gross ein theoretisch erreichbares Potenzial auch immer sein mag, bei einer zu kleinen Gesamtnachfrage wäre es ohnehin nicht ausgelastet.

Das beste Argument der Marktrevolutionäre ist – und auch sämtliche Ökonomen inklusive der Keynesianer gehen mit guten theoretischen und empirischen Gründen davon aus –, dass eine Unterauslastung des Potenzials langfristig nicht verbleiben würde. Das liegt vor allem daran, dass Preise, Löhne und Zinsen langfristig genügend flexibel reagieren. Die nicht beanspruchten Kapazitäten an Kapital oder Arbeit werden sich über die Zeit verbilligen, was wiederum die Nachfrage anheizen würde. Probleme der Gesamtnachfrage spielen also langfristig keine Rolle, wie bei einem unterausgelasteten Potenzial Strukturprobleme kurzfristig ebenfalls keine Rolle spielen.

Nur: Nachfrageprobleme und Strukturprobleme als Ursache von geringem BIP-Wachstum werden in dieser verengten Sicht strikt getrennt. Das Problem dabei ist, dass durch einen Einbruch der Gesamtnachfrage ausgelöste Rezessionen ebenfalls auf die Strukturen der Wirtschaft und damit auf das potenzielle Wachstum wirken können. Wenn das Potenzial in einer Rezession Schaden nimmt, dann wird die Wirtschaft selbst in einem darauf folgenden Aufschwung, also langfristig, nur noch beschränkt wachsen können. Die Folge daraus ist, dass die Wirtschaftspolitik der Bekämpfung von Rezessionen die höchste Priorität einräumen sollte, sich also eine Politik aufdrängt, die die Gesamtnachfrage stimuliert, etwa durch tiefe Zinsen, also billiges Geld. Für einen solchen Einfluss von Rezessionen auf das Potenzial sprechen erstens theoretische Argumente, und zweitens kann damit die Entwicklung des Wachstums der Schweiz sehr viel plausibler erklärt werden als mit den Argumenten der Marktrevolutionäre.

Doch was heisst, eine Rezession könne das Wirtschaftspotenzial schädigen? Eine mangelnde Gesamtnachfrage, ausgelöst etwa durch einen einbrechenden Export, einen starken Rückgang bei den Investitionen oder beim Privatkonsum, führt zu Arbeitslosigkeit. Man nennt das eine konjunkturelle Arbeitslosigkeit. In den Augen all derer, die sich für die langfristige Sicht und vorwiegend für die Wirtschaftsstrukturen interessieren, ist diese Arbeitslosigkeit kein Problem, weil sie sich beim nächsten Aufschwung sowieso wieder zurückbilden wird. Das Problem ist nun aber, dass diese Beschäftigten vor und nach ihrer Arbeitslosigkeit auf den Arbeitsmärkten oft nicht mehr dieselben Leistungen erbringen können. Mit der Dauer ihrer Arbeitslosigkeit verlieren sie an Know-how. In der modernen Wirtschaftswelt spielt das eine entscheidende Rolle. Um es ins Ökonomische zu übersetzen: Wenn ein Teil des wichtigen Produktivitätsfaktors Arbeit für einige Zeit unterbeschäftigt bleibt, so nimmt dessen Potenzial Schaden. Ein Konjunkturproblem verwandelt sich so auch in ein Strukturproblem, eine konjunkturelle Arbeitslosigkeit in eine strukturelle. Eine strukturelle Arbeitslosigkeit wird definiert als eine, bei der die Betroffenen den Anforderungen an die vorhandenen Stellen nicht oder zu wenig genügen.

Die Diskussion um die Wachstumskrise der Schweiz dreht sich um die BIP-Entwicklung der letzten 30 Jahre. Während dieser Zeit ist die Schweiz mehrmals besonders hart durch Rezessionen getroffen worden. Die erste grosse Krise der Nachkriegszeit dauerte etwa von 1974 bis 1978, die nächste folgte in den Jahren 1991 bis 1996. Auch in den Jahren 2001 bis 2003 erlebte die Schweiz einen konjunkturellen Einbruch. All diese Krisen sind durch Einbrüche wichtiger Nachfragekomponenten gekennzeichnet, gehen also nicht auf Strukturprobleme zurück. In jedem Fall lag der Auslöser dafür in Entwicklungen im Ausland, welche so die für die Schweiz wichtigste Nachfrage beeinträchtigten: jene nach Schweizer Exporten. Und in den zwei härtesten Krisen verschärfte die Geldpolitik der Nationalbank die Lage noch zusätzlich.

Die drei Krisen der letzten 30 Jahre dauerten lange und waren schmerzhaft. Sie haben nicht nur das durchschnittliche Wachstum für den ganzen Zeitraum deutlich nach unten gedrückt, sie haben auch die Wirtschaftskraft des Landes insgesamt und über die Krisen hinaus geschwächt, in erster Linie durch eine Schwächung des Arbeitskräftepotenzials. Während der Nachfragekrisen wird auch weniger investiert, was das Produktionspotenzial ebenfalls schmälert. Und schliesslich gibt es Hinweise darauf, dass auch Innovationen in Krisenjahren eher ausbleiben. Das an der BIP-Entwicklung gemessene Wachstumsproblem der Schweiz geht also nicht auf eine grundlegend morsch gewordene Struktur der Wirtschaft oder der politischen Institutionen zurück, sondern auf Phasen einer ungenügenden Gesamtnachfrage.

Schaden haben die Strukturen gerade darum genommen, weil dies aus ideologischen Gründen schlicht zu lange nicht erkannt wurde. Darin liegt letztlich eine tragische Ironie bei den Marktrevolutionären: Es waren Leute mit derselben wirtschaftlichen Philosophie, die für die Verschärfung und Verlängerung der Krisen in den siebziger und neunziger Jahren verantwortlich waren. Denn bei der Nationalbank waren die Verantwortlichen genauso wie die heutigen Marktrevolutionäre davon überzeugt, dass die Probleme der Schweizer Wirtschaft nicht mit einer Nachfragepolitik behoben werden können. Geldpolitik ist die wirksamste Art der Konjunkturpolitik. Eine Abwertung des Frankens oder tiefere Zinsen hätten einer solchen Politik entsprochen, und als man sie jeweils viel zu spät eingeführt hat, war sie auch sogleich erfolgreich. Mit der dogmatischen Fixierung auf die Angebotstheorie haben die Verantwortlichen damals geradezu verursacht, was sie bekämpfen wollten: eine Schwächung des Wirtschaftspotenzials der Schweiz.

Nichts an den Daten und Entwicklungen lässt darauf schliessen, dass die Strukturen in der Schweizer Wirtschaft und Politik ein akutes Problem darstellen. Selbst wenn diese Strukturen sich als mangelhaft herausstellen sollten, so sind sie nicht für das vergleichsweise geringe BIP-Wachstum über die letzten Jahrzehnte verantwortlich. Dies waren vielmehr durch internationale Entwicklungen ausgelöste Einbrüche der Gesamtnachfrage, auf welche die Politik – und die Geldpolitik im Besonderen – unangemessen und viel zu spät reagiert hat.

Gekürzte Fassung des Kapitels «Mythos Wirtschaftskrise» aus dem Buch «Was heisst hier liberal?» von Markus Diem Meier. In der nächsten BILANZ: Märkte – leidet die Schweiz an einem Reformstau? Sind unsere Löhne zu hoch?