Es ist nicht viel, was man weiss über die paar roten Backsteingebäude. Irgendwo in der Nähe von Mountain View, Kalifornien, sollen sie stehen, zwei Stockwerke sollen sie haben, davor sollen ein Springbrunnen und Reihen von bunten Fahrrädern stehen.

Der genaue Standort: geheim. Es heisst, er sei eine halbe Meile vom Firmenhauptsitz entfernt. Wie viele Leute dort arbeiten: geheim. Man schätzt eine drei- bis vierstellige Zahl. Was sie genau dort machen: geheim. Es sollen über 100 verschiedene Projekte sein.

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Auch googeln hilft hier nicht weiter. Dabei gehören die mysteriösen Gebäude dem Internetkonzern selber. Eine Denkwerkstatt verbirgt sich darin, «Google X» genannt. Hier soll nichts weniger entschieden werden als die Zukunft der Menschheit. «Unsere Gründer Larry Page und Sergey Brin wollten die Welt schon immer radikal verändern, so schnell und so umfassend wie möglich», sagt Astro Teller. Der 43-Jährige ist Chef von Google X, auf seiner Visitenkarte freilich steht «Captain of Moonshots». Denn seine Projekte sollen eine ähnliche Bedeutung haben wie die erste Mondlandung: «Wir gehen jedes gewaltige Problem der Menschheit an, wenn wir einen Weg finden können, es zu lösen», sagt Teller, dessen Vater einst die Wasserstoffbombe entwickelte.

Im Dienst des Revolutionären

Erst ein paar von Tellers Projekten sind nach aussen gedrungen. So soll Google in den roten Backsteingebäuden an neuronalen Netzen experimentieren: ein Verbund von 16 000 selbstlernenden Computern mit dem Ziel, das menschliche Gehirn nachzubilden. Auch die selbstfahrenden Autos, die Google bereits durch die Strassen von Kalifornien und Nevada schickt, wurden hier entwickelt. Die Datenbrille Glass stammt ebenfalls aus den X-Labors. Man forscht an Ballonen, die abgelegene Winkel der Welt günstig mit Internetzugang versorgen sollen, und an superleichten Flugdrachen, die, mit Windturbinen bestückt, die Energieprobleme der Menschheit lösen sollen. Und im September kündigte Larry Page (40) das Projekt Calico an: Mit Computerpower sollen Krankheiten wie Krebs oder Alzheimer erforscht und gestoppt und das menschliche Leben um Jahrzehnte verlängert werden. «Kleine Schritte sind zu kurz, man tritt irgendwann auf der Stelle», beschreibt Page seinen Anspruch. «Ein grosser Teil meiner Arbeit besteht daher darin, den Fokus der Mitarbeiter auf wirklich revolutionäre Dinge zu lenken.» Sein Mitgründer Sergey Brin (40) widmet Google X inzwischen den Grossteil seiner Zeit. Denn was in den roten Backsteingebäuden entsteht, soll Googles Stellung für die nächsten Jahrzehnte sichern und ausbauen. Nicht wenigen wird bei dieser Vorstellung angst und bange.

Denn bereits jetzt ist Google der mächtigste Konzern der Welt. Er kontrolliert alle Ebenen der IT: Die Suchmaschine, der Kern des Imperiums, verarbeitet drei Milliarden Anfragen pro Tag und hat damit einen weltweiten Marktanteil von 71 Prozent. Kein Browser wird häufiger auf Computern installiert als Google Chrome. Das hauseigene Betriebssystem Android läuft auf 80 Prozent aller heute verkauften Smartphones; auch bei den Tablets hat es Apples Vormachtstellung gebrochen. Google+ ist hinter Facebook und noch vor Twitter das zweitgrösste soziale Netzwerk. Mit ihren Smartphones und Tablets unter der Marke Nexus, mit Chrome-Notebooks und mit den Handys des 2011 übernommenen Herstellers Motorola ist Google auch ein relevanter Hardwareproduzent. Und mit YouTube kontrolliert der Konzern die weltgrösste Sammlung an Videomaterial. Die Welt ist keine Kugel, die Welt ist Google.

Das zahlt sich aus: 50 Milliarden Dollar Umsatz und 11 Milliarden Dollar Gewinn machte die erst vor 15 Jahren gegründete Firma 2012; dieses Jahr dürften die Zahlen deutlich höher ausfallen. Die Aktie steht auf einem Allzeithoch: Mehr als 350 Milliarden Dollar ist Google wert, geschlagen an der Börse nur noch von Apple und dem Erdölkonzern Exxon. Der bunte Schriftzug ist die zweitwertvollste Marke der Welt, hat Interbrand errechnet. Und Google sitzt auf 57 Milliarden Dollar Cash.

All das, obwohl die Firma ihre Dienste dem Endkunden gratis anbietet. Googles Währung heisst Wissen. Denn niemandem gegenüber ist man ehrlicher als einer Suchmaschine. Von Hochzeitsplanung bis Abtreibung, von Wellnessferien bis Brustkrebstherapie: Google weiss, was uns bewegt. Eine «Datenbank der Absichten» hat der amerikanische Buchautor John Battelle die Suchmaschine genannt.

Auf Schritt und Tritt dabei

Diese Absichten macht der Konzern zu Geld, indem er sie an Anzeigenkunden verkauft. Aber nicht nur das. Wer ein Gmail-Konto benutzt – das sind weltweit nicht weniger als 425 Millionen Menschen –, dessen E-Mails scannt Google ebenfalls nach werbeträchtigen Stichwörtern. Und die Firma kann noch viel mehr auswerten: unseren Aufenthaltsort via Google Maps; den Terminplan in Google Kalender; das Adressbuch auf dem Android-Handy; Dokumente, die man auf Google Drive (eine Art Online-Office) hochlädt; Geldtransaktionen auf dem elektronischen Portemonnaie Google Wallet; Videos auf YouTube und Fotos auf dem Bilderdienst Picasa; Telefonate auf Google Voice und Videokonferenzen, sogenannte Hangouts, auf Google+. «Durch die Vielzahl der Dienste hat der Konzern die genauesten Benutzerprofile der Welt», sagt Gerald Reischl, Autor von «Die Google-Falle» und prononcierter Kritiker des Internetgiganten. «Vermutlich sogar genauer als die NSA, weil Google es höchstwahrscheinlich besser beherrscht, die Unmengen an Daten auszuwerten.»

Ihre Datenschätze hortet und analysiert Google in riesigen Rechenzentren; wie viele es genau sind, ist – natürlich – geheim. Verantwortlich für diese Hardware ist der Schweizer Urs Hölzle (50). Als achter Angestellter wurde er 1999 von Brin und Page angeheuert, um die Firmenserver auf Vordermann zu bringen, bis heute amtet er als Chief Technology Officer. «Es war ein riesiges Durcheinander», erinnert sich Hölzle. Seither haben er und seine Ingenieure Milliarden in neue Computer investiert. Und sie haben eine Software entwickelt, die es erlaubt, Rechenpower automatisch und in Sekundenbruchteilen zwischen den einzelnen Diensten hin und her zu schieben, je nach Bedarf. Die Millionen von Servern rund um die Welt verhalten sich damit wie ein einziger Supercomputer und stellen Google quasi unendlich Rechenpower und Speicherplatz zur Verfügung. Dank dieser Infrastruktur kann die Firma neue Dienste ohne nennenswerte Kosten ausprobieren und bei Misserfolg einfach wieder vom Netz nehmen.

Wie Sciencefiction

So leistungsfähig ist der Supercomputer, so intelligent sind die dahinterstehenden Algorithmen, dass Google inzwischen erkennt, was wir wissen wollen, bevor wir danach fragen. Google Now heisst dieser Dienst, und er ist durchaus praktisch. Morgens etwa schickt er ungefragt die Stauprognose für den Arbeitsweg aufs Handy, sobald er die täglichen Fahrtrouten kennt. Und wenn Google in den E-Mails die Buchungsbestätigung einer Airline ausgemacht hat, erscheinen rechtzeitig vor Abflug Informationen zu Terminal, Gate und Verspätungen auf dem Smartphone sowie zum Wetter am Ankunftsort. Das freilich ist noch lange nicht das Ende der Fahnenstange. Bereits arbeiten die Entwickler daran, die Suchmaschine so intelligent zu machen wie die Computer in Sciencefiction-Filmen (siehe «Wie Captain Kirk»).

Man kann das cool finden: Google hat das Auffinden von Informationen für jeden Internetnutzer radikal vereinfacht. Man kann das auch gespenstisch finden: Orwells Vision der totalen Überwachung scheint auf einmal ganz nah an der Wirklichkeit – wobei selbst Orwell nicht vorhersehen konnte, dass die Menschen vor den Shops übernachten würden, um ihre neuen Überwachungsgeräte als Erste kaufen zu dürfen.

Sammelwut

Google, der grosse Verführer und der grosse Bruder in einem? Alles nur Panikmache, widerspricht der Konzern. Man speichere nur die IP-Adresse, also die Identifikationsnummer eines Rechners, beteuert Google immer wieder. Eigentliche Benutzerprofile würden nicht angelegt. Kann man dem glauben? «Bei 60 bis 70 Prozent der Nutzer weiss Google genau, wer namentlich dahinter steht», schätzt der kritische Buchautor Reischl. Belegen kann er das nicht, doch die Tatsache, dass man bei immer mehr Google-Diensten zur Eingabe des Nutzernamens aufgefordert werde, sei «ein klarer Hinweis», so Reischl.

Das Misstrauen gegenüber der Datenkrake ist seit Jahren tief verwurzelt. Die Menschenrechtsorganisation Privacy International setzte Google schon 2007 auf den letzten Platz aller Internetfirmen, was den Datenschutz angeht; dieses Jahr verlieh sie Google den Big Brother Award in der Kategorie «Globales Datensammeln»: «Unter dem Deckmantel einer Suchmaschine und anderer Gratis-Dienste wie Maps, Docs und YouTube sammelt der Werbekonzern Google auf Schritt und Tritt Echtzeit-Daten über alles und jeden und kategorisiert Menschen für seinen Werbeprofit», heisst es in der Begründung. «Google missachtet europäisches Recht und nutzt ihre marktbeherrschende Stellung, um die technokratische Ideologie eines allwissenden Supercomputers voranzutreiben, der besser weiss, was Menschen wollen, als sie selbst.»

Politikern, Verbraucherorganisationen und Datenschützern rund um die Welt ist die Sammelwut ein Dorn im Auge. Auch der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte Hanspeter Thür arbeitet sich immer wieder an dem kalifornischen Unternehmen ab, beispielsweise in der Streitfrage, ob Google automatisch alle unverpixelten Gesichter und Autokennzeichen auf Street View entfernen müsse (nein, entschied das Bundesgericht).

Der Konflikt hat viel mit dem unterschiedlichen Verständnis von Datenschutz diesseits und jenseits des Atlantiks zu tun. Das Bedürfnis, Informationen über das eigene Ich nach aussen abzuschotten, entstand in Europa nach den Erfahrungen mit totalitären Regimes im 20. Jahrhundert – eine Erfahrung, die es in den USA nie gab. So sah Google kein Problem darin, dass beim – inzwischen eingestellten – sozialen Netzwerkdienst Buzz automatisch offengelegt wurde, mit wem sich ein Benutzer besonders häufig austauschte. Und bei Gmail war anfangs nicht mal ein Löschknopf vorgesehen. Der Dienst bietet ja mehr als genug Speicherplatz, warum sollte man da jemals etwas löschen wollen?

Geheimniskrämer

Das Misstrauen befeuert Google aber auch selbst nach Kräften. Wer mit Street View ein Problem habe, könne «ja einfach umziehen», liess der damalige CEO Eric Schmidt 2009 verlauten. Ein Jahr später legte er nach: «Wenn es etwas gibt, von dem Sie nicht wollen, dass es irgendjemand erfährt, sollten Sie es vielleicht gar nicht erst tun.» Wenig hilfreich ist auch, dass sich Google selbst bei harmlosen Fragen verschliesst: Wo ihre Rechenzentren stehen, an welchem Standort wie viele Mitarbeiter angestellt sind, selbst wie viele Stunden Videos auf YouTube zu finden sind – die Firma, die sonst maximale Transparenz über alles und jeden herstellen will, reklamiert für sich selber grösste Geheimhaltung. Wahr ist aber auch: Bislang ist kein Fall bekannt geworden, wonach Google ihr Wissen und ihre Macht missbraucht hätte. «Don’t be evil», so lautet das inoffizielle Firmenmotto, und bisher scheinen sich die 46 000 Mitarbeiter daran zu halten. Was aber, wenn die Werte der Gründer sich eines Tages ändern? Wenn andere das Sagen haben am Hauptsitz Googleplex in Mountain View? Wenn ein frustrierter oder krimineller Mitarbeiter die Datenschätze für eigene Zwecke hebt? Oder der Staat?

Auch Google unterliegt dem Patriot Act und ist damit verpflichtet, den US-Ermittlungsbehörden auf Anfrage Nutzerdaten herauszugeben, ohne die Betroffenen darüber zu informieren. Und Google steht ganz oben auf der Liste jener Firmen, welche die amerikanische Sicherheitsbehörde NSA laut den Enthüllungen des Ex-Geheimdienstmitarbeiters Edward Snowden ausspähen lässt. «Kein Nachrichtendienst oder sonst eine öffentliche oder andere externe Stelle verfügt über einen direkten Zugang zu unseren Servern», betont Google zwar vehement. Dass ihre Daten an der Schnittstelle zwischen dem Internet und dem Google-internen Netzwerk von der NSA abgefangen wurden, konnte die Firma trotzdem nicht verhindern.

Kein Wunder, gibt es in den USA bereits eine Gegenbewegung: «Digital Detox», digitale Entgiftung, nennt man den Versuch, einen Tag pro Woche oder länger ohne Internet und Handy auszukommen. Entsprechende Seminare boomen, immer mehr Feriendestinationen werben speziell um Offline-Touristen. «Der beste Datenschutz ist Datenvermeidung», sagt Gerald Reischl. Oder man geht zumindest weg von Google. Schliesslich gibt es für fast jedes Produkt, das der Internetgigant anbietet, Alternativen anderer Hersteller. Wer Google nicht mehr traut, kann seine E-Mails, Bilder und Dokumente aus vielen Anwendungen wieder zurückexportieren und eine Löschung verlangen – Data Liberation Front heisst diese Bewegung, die Google selber ins Leben gerufen hat.

Zehnmal besser

Doch gleichzeitig drängt der Konzern in immer neue Bereiche weitab vom Kerngeschäft vor. Der Wille, die grossen Probleme der Menschheit zu lösen, wie es die einstigen Montessori-Schüler Brin und Page nennen, mag tatsächlich ein Grund sein. Dass sie damit im Erfolgsfall sehr viel Geld verdienen, ist nicht oberstes Ziel, aber ein gern gesehener Nebeneffekt: «Wenn man etwas Bestehendes nur ein bisschen besser macht, zahlen die Leute dafür oder auch nicht. Aber wenn man die Welt radikal verbessert, wird dich das Geld finden, auf faire und elegante Weise», sagt Google-X-Chef Astro Teller. «Wir glauben, so erzielt man langfristig die beste Rendite.» Zielsetzung neuer Projekte müsse sein, zehnmal besser als alles Bestehende zu sein, gibt Page deshalb vor.

Etwa beim Projekt Calico, das er im September ankündigte. Es konzentriert sich auf die Erforschung des Alterns und der dadurch ausgelösten Krankheiten. So etwas Banales wie Krebs interessiert Page gar nicht erst: «Wenn wir das Problem Krebs lösen können, verlängern wir die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschheit um vielleicht drei Jahre», sagt Page. «Das ist kein so grosser Fortschritt, wie es vielleicht scheint.» Ihm sollen Jahrzehnte vorschweben, vielleicht sogar 100 Jahre.

Calico läuft als eigene Firma. Den Chefposten hat Arthur Levinson übernommen, Chairman von Apple, vor allem aber Gründer des Biotechkonzerns Genentech. Dieser wurde 2009 vom Schweizer Pharmamulti Roche übernommen. Seither sitzt Levinson dort im Verwaltungsrat. «Wir sehen interessantes Potenzial für eine zukünftige Zusammenarbeit», sagt der abtretende Roche-Präsident Franz Humer zum Projekt Calico. Schliesslich setzt Roche wie kein anderer Pharmahersteller auf personalisierte Medizin. Calico könnte für solche Individualtherapien die Daten liefern.

Denn der Denkansatz hinter Calico ist typisch für Google: Es gibt kein Problem, das nicht mit dem richtigen Algorithmus und genug Rechenpower gelöst werden kann. In diesem Fall: Wenn man die Datenbestände der Alterskrankenforschung nur richtig durchleuchtet, wird man die Ursachen für Gebrechen finden und Therapien dagegen entwickeln können. Es ist der ultimative Kampf «Google vs. Death», wie das Nachrichtenmagazin «Time» titelte. Grössenwahn? Vielleicht. Andererseits: Wenn es Google nicht schafft, wer dann? Geld ist kein Thema, jedes Quartal fährt der Konzern zwischen zwei und vier Milliarden Dollar Gewinn ein. Im Durchleuchten von grossen Datenbergen ist niemand so gut wie der Gigant aus Kalifornien. Und Google hat schon immer nur die klügsten Köpfe angestellt. Zwei Millionen Kandidaten bewerben sich jedes Jahr. Rund 20 Vorstellungsgespräche muss ein Anwärter überstehen; wenn nur einer der Interviewer den Daumen senkt, wird es nichts mit der Karriere in Mountain View, auf dem Zürcher Hürlimann-Areal oder an einem der 111 anderen Standorte in 56 Ländern. Wer es schafft, ist in der Regel jung, arbeitswütig, experimentierfreudig – und technologiegläubig. «Dieser Glaube versetzt Berge. Es wird sicher grosse Fortschritte geben», beurteilt David Bosshart, CEO des Think Tanks Gottlieb Duttweiler Institute (GDI), die Chancen der Calico-Methodik.

Dazu passt, dass Google letztes Jahr 3,9 Millionen Dollar in das Start-up 23andMe investiert hat, das Sergey Brins Frau Anne Wojcicki 2006 gründete (die beiden leben mittlerweile getrennt). Die Firma bietet Privatpersonen an, für 99 Dollar die eigene DNA auf rund 200 genetisch bedingte Krankheiten und 99 weitere Veranlagungen untersuchen zu lassen. Das Ergebnis liest sich dann etwa so: «Ihre Wahrscheinlichkeit, an Blutkrebs zu erkranken, liegt bei 6,4 Prozent. Ihre Wahrscheinlichkeit, an multipler Sklerose zu erkranken, ist 2,54-mal höher als der Durchschnitt. Ihre Augenfarbe ist höchstwahrscheinlich Blau. Sie vertragen Alkohol überdurchschnittlich gut.» Knapp eine halbe Million Speichelproben hat 23andMe bereits analysiert und die Ergebnisse in einer Genomdatenbank gespeichert.

Noch ist offiziell nichts bekannt von einem Datenaustausch zwischen Calico und 23andMe. Doch er wäre naheliegend. Und dann würde Google nicht nur unsere Absichten kennen, sondern auch unsere gesamte Erbinformation – der Albtraum jedes Datenschützers. «Die Missbrauchsgefahr wächst mit der Power der Rechner, der Quantität der Daten und der Qualität der Projekte», nennt es Bosshart.

Das ist der Fluch, der über jedem Projekt von Brin und Page schwebt: Je nach Gesinnung, die man dem Führungsduo unterstellt, wird Google den Menschen Heil oder Verderben bringen. Etwa mit der Datenbrille Glass (siehe «Blick in die Zukunft»). Sie schafft völlig neue Möglichkeiten – und völlig neue Probleme. Was etwa, wenn Google auf die Kamera zugreift und damit alles sieht, was auch der Nutzer sieht? Derzeit ermöglicht Google damit keine automatische Gesichtserkennung, aber was, wenn sich das eines Tages ändert? Bereits verlangten zehn nationale Datenschutzbeauftragte, darunter der Schweizer Hanspeter Thür, in einem offenen Brief an Larry Page Informationen dazu. Derweil verbieten die ersten Krankenhäuser, Banken, Kinos, Schulen und Bars in den USA das Tragen von Google Glass aus Angst vor heimlichen Filmaufnahmen.

Oder das Projekt Loon: Ein Netz von Ballonen in der Stratosphäre soll drahtlose Internetverbindungen auch in die entlegensten Gegenden der Welt bringen – schliesslich haben zwei Drittel der Menschheit noch keinen Online-Zugang. Erste Tests über Neuseeland diesen Juni waren erfolgreich. Skeptiker sehen darin aber einen weiteren Versuch von Google, das Machtnetz zu erweitern. Und die Ballone könnten, mit entsprechenden Kameras ausgestattet, auch der Überwachung aus dem Weltall dienen – Satellitenaufklärung in Echtzeit quasi. Buchautor Reischl ist überzeugt: «Google will die Welt kontrollieren.»

Gefahr der Verzettelung

Zahllose weitere Projekte sollen in den Labors von Google X in Planung sein. Von Roboter-Taxis liest man, von fliegenden Autos, von Androiden, die bestellte Waren an die Haustür liefern. Vieles davon wird Fantasie bleiben, vieles wird scheitern. Fakt ist aber auch: Es sind nicht nur Hirngespinste, die da in den roten Backsteingebäuden ausgebrütet werden. Glass und die selbstfahrenden Autos beweisen es. Und mit jedem erfolgreichen Projekt wird der Konzern wichtiger für unser Leben, wird sein gesellschaftlicher Einfluss weiter zunehmen, wird er mehr über uns wissen, wird er noch reicher.

Wird früher oder später also unser ganzes Leben vergoogelt? Wird Google zum mächtigsten Imperium aller Zeiten? Die Wirtschaftsgeschichte spricht dagegen. Firmen, die zu mächtig werden, provozieren irgendwann eine Gegenreaktion. Dann droht die Aufspaltung. Das musste Rockefellers Ölimperium Standard Oil Anfang des letzten Jahrhunderts ebenso erleben wie der Telekomgigant AT&T in den achtziger Jahren. Die meisten Megakonzerne freilich lösen das Problem unfreiwillig selbst. «Auch IBM, Sony oder Siemens hatten früher Quasimonopole auf vielen Gebieten», sagt GDI-Chef Bosshart. Doch irgendwann haben sie einen Technologiesprung verpasst und den Anschluss verloren – oder sich in zu vielen Projekten verzettelt, die man dann nicht mehr in den Griff bekam. Gerade erlebt Microsoft diesen Niedergang. «Ich bin zuversichtlich, dass Google das gleiche Schicksal erleidet», sagt Bossart.