Montagmorgen, 7. Dezember 1992. Die Schlacht ist geschlagen. Während die Sieger triumphieren, lecken die Verlierer ihre Wunden: Mit der dritthöchsten Stimmbeteiligung seit 1945 hat tags zuvor das Stimmvolk den Beitritt der Schweiz zum Vertrag über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) abgelehnt. Ein knappes Volksmehr (50,3 Prozent Nein) und ein eindeutiges Ständemehr (14 ganze und 4 halbe ablehnende Kantone) haben damit die Europaträume der EWR-Befürworter versenkt und den Mythos vom Sonderfall Schweiz betoniert.
Kaum ein Abstimmungsresultat polarisierte die Schweiz so sehr wie diese denkwürdige Absage an den EWR. Für Christoph Blocher, den Kopf der Nein-Fraktion, war es «ein grosser Tag». Der damalige Volkswirtschaftsminister, Jean-Pascal Delamuraz, ein Befürworter der Vorlage, sprach von einem «schwarzen Sonntag». Mit einem Ja zum EWR hätte die Schweiz ungehinderten Zugang zum bevölkerungsreichsten Binnenmarkt der Welt bekommen, der heute aus den 15 Ländern der EU sowie Norwegen, Island und Liechtenstein besteht (Karte). Gleichzeitig hätte eine Teilnahme an diesem Markt viele durch Protektionismus und Monopole geschützte Bereiche der Schweizer Wirtschaft geöffnet und damit einen Wachstumsschub ausgelöst. Die Schweiz hat auf diese wirtschaftlich vorteilhafte Option verzichtet und stattdessen den Alleingang weiterverfolgt. Dies aber nicht nur aus Angst vor einer Einschränkung der Selbstbestimmung, sondern auch aus handfesten wirtschaftlichen Überlegungen heraus.
Heute, zehn Jahre nach der EWR-Abstimmung, stellt sich die Frage: Hat der Alleingang der Schweiz geschadet oder genutzt? Wo steht die Schweiz, wenn man in einem Benchmarking die wichtigsten wirtschaftspolitischen Indikatoren mit denjenigen der EWR-Länder vergleicht? Wo ist die Schweiz Spitze, wo im Mittelfeld, und wo schneidet sie schlecht ab? Wohlstand: Der Vorsprung schmilzt Die wichtigste wirtschaftspolitische Grösse ist das Wirtschaftswachstum. Bei hohem Wachstum steigt der allgemeine Wohlstand, die Arbeitslosigkeit sinkt, und der Staat erhält mehr Steuereinnahmen, mit denen er unter anderem die Sozialwerke finanzieren kann. Für die Schweiz waren die 1990er-Jahre eine Dekade der wirtschaftlichen Stagnation; mit einem durchschnittlichen Wirtschaftswachstum von 1,1 Prozent pro Jahr wies man von 1992 bis 2001 im Vergleich zu den EWR-Ländern den niedrigsten Wert auf. Diese wuchsen im selben Zeitraum um rund 2,9 Prozent, also annähernd dreimal so schnell wie die Schweiz. Die Abkopplung der Schweiz von der internationalen Wachstumsdynamik ist augenfällig: Die Schere öffnete sich besonders nach 1992. Das Wachstum ist aber bereits für die gesamte Zeit seit der Ölkrise Mitte der 1970er-Jahre unterdurchschnittlich («Die Schweiz wächst am langsamsten»).
Dass die Volkswirtschaften anderer Länder schneller wachsen als diejenige der Schweiz, liegt zu einem Teil daran, dass sie von einem tieferen Ausgangsniveau starteten und deshalb relativ rasch aufholen konnten. Ökonomen nennen diesen Mechanismus Catch-up-Effekt. Allerdings dürften diese Länder theoretisch kein grösseres Wirtschaftswachstum als die Schweiz mehr erzielen, wenn sie die Schweiz eingeholt haben. Die Praxis ist jedoch anders: Der Wohlstand in Ländern mit einem ähnlichen Wohlstandsniveau (beispielsweise die Niederlande, Dänemark, Schweden und Irland) wächst heute schneller als jener in der Schweiz. Erklären lässt sich das vor allem mit der fehlenden Dynamik im schweizerischen Binnenmarkt, zu dem auch der Service public gehört.
Das Wirtschaftswachstum beeinflusst direkt den Wohlstand der Schweiz, der über das Bruttoinlandprodukt pro Kopf gemessen wird. Es verhält sich wie mit den Zinsen, die man für seine Anlage erhält. Die Vermögensdifferenz, ob man 1000 Franken zu 2 Prozent oder 4 Prozent anlegt, macht nach 40 Jahren 117 Prozent aus. Und in den letzten 40 Jahren ist die Schweiz wirtschaftlich im Durchschnitt 2,3 Prozent gewachsen, während die heutigen EWR-Länder knapp 3,4 Prozent Wachstum zu verzeichnen hatten. Dementsprechend ist der grosse Wohlstandsvorsprung geschmolzen, den die Schweiz noch 1960 gegenüber allen anderen europäischen Ländern hatte. Im Jahr 2000 war die Schweiz zwar hinter Luxemburg noch immer das zweitreichste Land Europas. Doch die anderen Länder sind nahe an das Niveau der Schweiz herangekommen.
Es stellt sich die Frage, was passiert, wenn diese Länder wirtschaftlich weiterhin schnell wachsen, während das Wachstum in der Schweiz nahezu stagniert. Die Antwort liefert folgendes Szenario: Ausgangspunkt ist das Wohlstandsniveau des Jahres 2000, Endpunkt das Jahr 2015. Berechnet man die Wohlstandsentwicklung auf Grund des Wirtschaftswachstums der Dekade von 1991 bis 2000, würde die Schweiz vom zweiten auf den elften Platz zurückfallen. Bitter: Bis auf Schweden wird die Schweiz von allen alten Efta-Weggefährten überholt, die auf den europäischen Integrationszug aufgesprungen sind («Wohlstand: Überholt uns Österreich?»). Arbeitsproduktivität: steigerungsfähig Die Wachstumsschwäche der Schweizer Wirtschaft scheint im Widerspruch zum Erfolg zahlreicher Schweizer Unternehmen zu stehen. In den 1990er-Jahren wiesen einzelne Sektoren der schweizerischen Volkswirtschaft eine ausgesprochene Dynamik und Produktivität auf. So belegen etwa die Analysen des Basler Konjunkturforschungsinstituts (BAK) für die Chemie- und Pharmaindustrie und des Lausanner Instituts Créa für den Finanzplatz nicht nur die internationale Spitzenposition und Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Wirtschaft, sondern auch deren eminente Bedeutung für den Wohlstand der Schweiz.
Diese positiven Faktoren sollten indes den Blick aufs Ganze nicht verstellen: Dynamisch waren vor allem die in den Weltmarkt integrierten Branchen und Unternehmen, während es im Schweizer Binnenmarkt Anzeichen einer Stagnation gibt. In knapp der Hälfte der binnenmarktorientierten Sektoren ist die Produktivität zwischen 1992 und 2001 gar gesunken.
Ein höheres Wachstum kann über eine Steigerung des Arbeitsvolumens oder über eine höhere Produktivität, also mehr Produktion pro eingesetzte Arbeitseinheit, erreicht werden. Beim Arbeitsvolumen liegt die Schweiz schon an der Spitze, weshalb dieses kaum steigerungsfähig ist. Ein höheres Wachstum lässt sich daher nur erzielen, wenn die Arbeitsproduktivität gesteigert werden kann.
Betrachtet man die Produktivität pro Beschäftigten, dann liegt die Schweiz im Vergleich mit den EWR-Ländern auf Platz drei. Unterschiedliche Arbeitszeiten, Teilzeitarbeit und andere Parameter beeinflussen diese Grösse, weshalb es sinnvoller ist, die Produktivität pro Arbeitsstunde zu berechnen. Hier erreicht die Schweiz im Vergleich zu den EWR-Ländern nur den 14. Platz. Zu denken gibt auch das Wachstum der Arbeitsproduktivität in den vergangenen zehn Jahren: Die Schweiz liegt hier auf dem letzten Platz («Geringes Wachstum der Arbeitsproduktivität»). Um das zu ändern, sind vermehrte Investitionen in zukunftsträchtige Technologien und Maschinen unabdingbar. Arbeitsmarkt: Erste Wolken am Horizont Europa beneidet die Schweiz, wenn die Rede auf den Arbeitsmarkt kommt. In einigen europäischen Ländern prägt Massenarbeitslosigkeit das Bild. Die Schweiz weist hingegen eine niedrige Arbeitslosenquote auf, während die Erwerbsquote auf sehr hohem Niveau liegt. Im Langfristvergleich seit 1960 ist die Schweiz unbestritten das europäische Land mit der niedrigsten Arbeitslosenquote.
Im Jahr 2001 steht die Schweiz im EWR-Ländervergleich mit einer Arbeitslosenquote von 2,6 Prozent zwar nicht auf Platz eins, doch mit nur geringem Rückstand auf die Bestwerte auf Platz vier. Bei der Erwerbsquote, also der Zahl der Beschäftigten im Verhältnis zu allen Personen im erwerbsfähigen Alter, liegt die Schweiz mit einem Wert von 80 Prozent ohne Konkurrenz an der Spitze. Positiv sind auch die geringe Jugendarbeitslosigkeit sowie die hohen Erwerbsquoten der Frauen und die hohen Erwerbsquoten der Älteren. Dies erklärt zum Teil die niedrigere Produktivität («Immer mehr Arbeitslose»).
Dass die Schweiz bei der Beschäftigung so gut dasteht, mag etwas erstaunen, weil sie beim Wirtschaftswachstum im europäischen Vergleich am schlechtesten abschneidet. Grundsätzlich gilt aber auch für die Schweiz das ökonomische Gesetz: Je grösser das Wirtschaftswachstum ist, desto stärker steigt die Beschäftigung, und desto geringer wird die Arbeitslosigkeit. Besonders am Fall der Schweiz ist jedoch, dass das Wirtschaftswachstum schneller als in anderen Ländern greift und auf den Arbeitsmarkt durchschlägt. Dies liegt einerseits an der geringen Sockelarbeitslosigkeit und andererseits am flexiblen Arbeitsmarkt mit wenigen rechtlichen Hürden, einem der wichtigen Standortvorteile. Der Arbeitsmarkt hat in der Vergangenheit gut funktioniert.
Die Warnzeichen am Arbeitsmarkt sind jedoch nicht mehr zu übersehen: der starke Anstieg der Arbeitslosigkeit im vergangenen Jahr sowie der Rückgang der Beschäftigung seit Anfang der 1990er-Jahre («Immer weniger Beschäftigte»). Generell verwundert es nicht, dass viele Stimmbürgerinnen und -bürger bei der EWR-Entscheidung für «safety first» votiert haben – in der vermeintlichen Absicht, den Schweizer Arbeitsmarkt so zu bewahren, wie er ist. Allerdings ist die Angst vor Zuwanderung aus dem EWR-Raum unberechtigt, denn in den letzten Jahren sind weit mehr EWR-Bürger aus der Schweiz weg- als zugezogen. Hochpreisinsel Schweiz Das Preisniveau der Schweiz ist im EWR-Vergleich am höchsten. Aus Konsumentensicht ist die Hochpreisinsel wenig erfreulich (siehe "Teures Pflaster Schweiz"). Aus ökonomischer Sicht verweisen zu hohe Preise auf einen schlecht funktionierenden Wettbewerb. Bürger in Grenznähe üben sich in Vermeidungsstrategien und kaufen Güter des täglichen Bedarfs im billigeren Nachbarland ein.
Das hohe Schweizer Preisniveau ist umso bemerkenswerter, als wichtige Rahmenbedingungen wie der deutlich niedrigere Mehrwertsteuersatz (7,6 Prozent) im Vergleich zur EU (mindestens 15 Prozent), der hohe Wechselkurs (macht Importe billiger) und die niedrigen Zinsen ein tieferes Preisniveau erwarten liessen. Andererseits verdient man in der Schweiz auch gut. Die Löhne – als Preis für die Ware Arbeit – zählen zu den höchsten der Welt. Warum sich also beklagen?
Die hohen Preise hängen mit dem hohen Lohnniveau, aber auch mit der Marktabschottung vieler Bereiche, etwa in der Landwirtschaft, zusammen. Allerdings rühren die hohen Preise auch vom Verbot von Parallelimporten, zahlreichen staatlichen Monopolbetrieben sowie einem teuer produzierenden Staat her, der hohe Gebühren und Abgaben erhebt. Positiv ist dagegen die geringe Inflation, die vor allem der unabhängigen Nationalbank sowie einer moderaten Lohnpolitik zu verdanken ist. Öffentliche Finanzen: Auf dem Marsch in den Schulden- und Steuerstaat? Die Schweiz gehörte in der Vergangenheit zu den Ländern mit besonders gesunden Staatsfinanzen. Auch heute befindet sie sich noch in ganz gutem Zustand, was das Niveau der Staatsausgaben, der Besteuerung und – mit Abstrichen – der Staatsverschuldung betrifft.
Allerdings streiten sich die Experten, wie viel der Staat tatsächlich ausgibt. Nimmt man die offiziellen Angaben der Eidgenössischen Finanzverwaltung (EFV) zu sämtlichen Ausgaben der öffentlichen Hand und der Sozialversicherungen, dann weist die Schweiz mit 38,2 Prozent im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt (BIP) für das Jahr 2001 die zweitniedrigste Staatsquote auf. Nimmt man jedoch die OECD-Daten für das Jahr 1999 (die von der EFV als zu ungenau betrachtet werden), dann hat die Schweiz eine Staatsquote von 50,4 Prozent des BIP und liegt nur auf Platz 13 der 18 verglichenen Länder.
Das Problem liegt in der genauen Abgrenzung des Staates und seiner Sozialversicherungen. Neue Berechnungen für das Jahr 1999, die vor kurzem von der EFV veröffentlicht wurden, zeigen eine Bandbreite der Staatsausgaben zwischen 38,6 und 51,1 Prozent des BIP, je nach unterschiedlich weiter Abgrenzung des Staates und der Sozialversicherung. Die Staatsquote, die alle Institutionen berücksichtigt, die sich aus obligatorischen Abgaben finanzieren, liegt gemäss den Experten der Finanzverwaltung genau bei 50 Prozent. Damit dürfte das Bild vom schlanken Schweizer Staat klar überholt sein.
Besonders kritisch ist die Dynamik, mit der die Ausgaben, die Steuern und die Schulden in den vergangenen zehn Jahren angewachsen sind. Kein anderes europäisches Land hat in den letzten zehn Jahren die Staatsausgaben so stark erhöht wie die Schweiz, selbst wenn man die konservativen offiziellen Schweizer Zahlen nimmt. Auch die Steuerschraube wurde nur noch in Island stärker angezogen. Bei der Staatsverschuldung marschierten nur drei Länder schneller in den Schuldenstaat (Frankreich, Deutschland und Spanien).
Momentan wirkt sich dieser rapide Anstieg wegen der im europäischen Vergleich niedrigen Ausgangspositionen noch nicht so dramatisch aus. Ohne Gegensteuer werden die finanzpolitischen Niveau-Kennziffern der Schweiz jedoch bald nur noch im europäischen Mittelfeld liegen. Reformen nur aus eigener Kraft Die untersuchten Indikatoren im «Benchmarking Switzerland» geben insgesamt ein gemischtes Bild. Sicher wäre es falsch, alle wirtschaftlichen Entwicklungen dem EWR-Nein zuzuschreiben. Doch die im Vergleich zu den europäischen Nachbarn geringe Dynamik gibt Anlass zur Sorge und zur Suche nach den Ursachen. Besonders dort, wo die Schweiz schlecht dasteht, gilt es, Reformanstrengungen zu unternehmen. Diese Reformen hätte man zum grossen Teil auch im Alleingang durchführen können.
Ein gewisses Muster zeigt sich beim Benchmarking immer wieder: Oft befindet sich die Schweiz zwar auf einem relativ guten Niveau, so beispielsweise in den Bereichen Wohlstand, Arbeitslosigkeit, Staatsausgaben oder Steuern. Gleichzeitig ist zu berücksichtigen, dass die Schweiz in Sachen Entwicklungsdynamik und Tempo schlecht abschneidet: Das Wirtschaftswachstum ist schwach, die Schulden, Steuern und Staatsausgaben wachsen dagegen massiv an. Dies bedeutet bei einer weiteren Fortschreibung eine Verschlechterung der gegenwärtig noch guten Niveaupositionen.
Mit der Zustimmung zu den Bilateralen Abkommen I, die seit Juni 2002 in Kraft sind, wurde ein grosser Teil des EWR-Paketes realisiert. Experten schätzen diesen Anteil, je nach Betrachtungsweise, auf 60 bis 80 Prozent. Damit hat die Schweiz den strikten Alleingangspfad verlassen. Die Dekade des Alleingangs kann als doppelt verpasste Chance betrachtet werden. Man hat einerseits die Chance des Alleingangs vertan, Reformen aus eigener Kraft durchzuführen. Andererseits hat man mit dem EWR-Nein eine verstärkte Marktöffnung im Innern und nach aussen verhindert.
Wie weiter? Die europapolitischen Integrationsoptionen sind mittel- bis langfristig ausgeträumt. Egal, ob man auf dem bilateralen Weg in den Beziehungen zur EU weitergeht oder gar zu einem strikten Alleingang zurückkehrt: Reformen, welche die dringend notwendige wirtschaftliche Dynamik wieder bringen, gibt es nur aus eigener Kraft.

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