Es klingt wie eine Schnapsidee: Das Finanzministerium druckt Banknoten, stopft diese in Flaschen und lässt sie in einem stillgelegten Bergwerk deponieren. Dann werden die Schächte bis zum Rand mit Schlamm aus der örtlichen Kläranlage gefüllt und fertig ist das Konjunkturprogramm.

So skizzierte der britische Ökonom John Maynard Keynes, nur leicht ironisierend, seine Wirtschaftstheorie. Er prognostizierte, dass «privater Unternehmergeist» die Banknoten wieder ans Licht bringen würde mit positiven Folgen für die gesamte Wirtschaft: Denn hunderte von Arbeitern würden beim Graben helfen und bekämen so einen Job.

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So bizarr diese Idee heute anmutet, so revolutionär war sie 1936. In diesem Jahr veröffentlichte der Cambridge-Professor seine «Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes», ein wirres, streckenweise unverständliches Buch. Klar hingegen war Keynes Botschaft: Wenn die private Wirtschaft lahmt, sollte die öffentliche Hand als Investor einspringen, selbst wenn sie dafür Schulden machen muss. Die Konjunktur sei eben kein Naturphänomen wie Sturm oder Flut, sondern könne gelenkt werden, behauptete der Ökonom. Damit war der so genannte Keynesianismus geboren, eine Denkschule, die bis heute ihre Anhänger hat.

Die Depression greift um sich

Die Idee passte in die Zeit: 1936 steckt die Weltwirtschaft in der tiefsten Krise ihrer jungen Geschichte. Der grosse Börsencrash hat das Ersparte einer ganzen Generation über Nacht vernichtet. Einer von vier Amerikanern ist ohne Arbeit. In Deutschland galoppiert die Inflation; so mancher Arbeiter transportiert seinen Monatslohn, Bündelweise nahezu wertlose Geldscheine, mit einer Schubkarre nach Hause.

Für Keynes stand fest: In dieser Lage haben die Menschen keine Zeit, darauf zu warten, dass die Ökonomie von selbst ins Gleichgewicht kommt. «Auf lange Sicht sind wir alle tot», polterte er angesichts von staatlichen Masshalteappellen. Statt wie andere Ökonomen zuvor auf eine «unsichtbare Hand» zu vertrauen, verliess sich Keynes lieber auf die öffentliche Hand.

Sie solle eine Wirtschaftspolitik betreiben, die gezielt die private Nachfrage stimuliere. Im Konjunkturtal könne die Regierung beispielsweise verstärkt Schulen, Elektrizitätswerke und Strassen bauen.

Keynes hoffte dabei vor allem auf so genannte Multiplikator-Effekte. Ein Beispiel: Bestellt das Verkehrsministerium eine Planierraupe, steigert das die Produktion des Maschinenbauers; das Unternehmen kann neue Arbeiter einstellen, die mit ihrem Lohn wiederum Autos, Lebensmittel und Fernseher kaufen.

Intervention um jeden Preis

Mit diesem Schrei nach Intervention sollte der Brite zum Leib- und -Magen-Ökonom der europäischen Sozialdemokratie avancieren. John Maynard Keynes selbst gab allerdings nie einen guten Klassenkämpfer ab. Der 1883 geborene Spross einer Professorenfamilie wuchs in einer viktorianischen Familienidylle auf. Er besuchte die Eliteschule Eton, wurde 1942 sogar zum Lord ernannt und sah sich politisch zeitlebens «auf Seiten der gebildeten Bourgeoisie». Echten Arbeitern begegnete er nur einmal auf dem Universitätsgut von Cambridge.

Unbeschwert und hedonistisch verliefen die Jugendjahre des schillernden Ökonomen. Keynes zählte zum Bloomsbury-Kreis, einem Zirkel von Intellektuellen, dem unter anderem die Schriftstellerin Virginia Woolf angehörte.

Despektierlich könnte man diese Truppe als liberale Snobs bezeichnen. Bei den Bloomsburys jedenfalls konnte der Mann mit den fleischigen Lippen und dem Schnauzbart seine homosexuellen Neigungen offen ausleben. Selbst vor dem jungen Albert Einstein machte Keynes nicht Halt: «Ein ungezogener, tintenbefleckter, langnasiger Junge. Ich habe tatsächlich mit ihm geflirtet», vertraute er seinem Tagebuch an. Umso erstaunter war die Klatschpresse, als Keynes mit 38 Jahren eine russische Balletttänzerin heiratete. Zu überraschen vermochte Keynes auch beruflich immer wieder: So setzte er durch, dass Frankreich seine Schulden gegenüber dem Empire mit Kunstgegenständen begleichen konnte.

Die daraufhin zum Discountpreis eingekauften Monets und Gaugins bilden bis heute den Grundstock staatlicher britischer Sammlungen. Der Kunstliebhaber Keynes selbst sicherte sich einige Cézannes für seine Privatsammlung.

Nahezu alles, was Keynes anfasste, wurde ein Erfolg. Nach einigen Anlaufschwierigkeiten setzt sich auch seine Theorie durch. Staatliche Eingriffe, um die Kaufkraft zu stärken, gehörten über Jahrzehnte zum wirtschaftspolitischen Standardinstrumentarium weltweit. In Deutschland setzte der Wirtschaftsminister Karl Schiller Mitte der 60er Jahre auf einen Aufschwung auf Pump, genau wie die damalige US-Administration. Präsident Richard Nixon verstieg sich später sogar zu der Aussage: «Wir sind heute alle Keynesianer!»

Resultat war manchmal ein Konjunkturfrühling, meistens jedoch nur gigantische Defizite, nicht zuletzt, weil es die Regierungen versäumten anders als von Keynes verordnet , zu Boomzeiten die staatlichen Schulden wieder zurückzuzahlen. Entsprechend übersichtlich nimmt sich heute die Zahl der bekennenden Keynesianer aus: Einige Gewerkschafter und versprengte Sozialdemokraten eine interessante Anhängerschaft für einen Mann, der am Ende seines Lebens lediglich bedauerte, «nicht genug Champagner getrunken zu haben».

Bereits erschienen: Adam Smith, siehe «HandelsZeitung» Nr. 27 vom 6. Juli 2005, David Ricardo Nr. 28 vom 13. Juli, Karl Marx Nr. 29 vom 20. Juli, Alfred Marshall Nr. 30 vom 27. Juli, Vilfredo Pareto Nr. 31 vom 3. August. Lesen Sie nächste Woche: Joseph Alois Schumpeter.

John Maynard Keynes - der Multiplikator und seine Effekte

John Maynard Keynes wird 1883 im englischen Cambridge geboren. Sein Vater lehrt an der gleichnamigen Universität Mathematik und Ökonomie, die Mutter wird später sogar Bürgermeisterin der Stadt. Keynes wächst zwischen Kindermädchen, Ferienreisen und Konzertbesuchen auf. Während seiner Zeit auf dem Eton College wird sein Talent für die Mathematik entdeckt. Mit 19 Jahren tritt er ins Kings College der Universität Cambridge ein. Zunächst studiert er Mathematik, später Nationalökonomie. Obwohl er in Jugendjahren immer davon geträumt hat, Eisenbahntycoon zu werden, entscheidet er sich zunächst für die Beamtenlaufbahn.

Doch die Tätigkeit im Indien-Ministerium erweist sich als dröger Schreibtischjob. 1909 schliesslich erlöst ihn der grosse Ökonom Alfred Marshall, indem er ihn zum Professor in Cambridge ernennt. Während des Ersten Weltkriegs übernimmt der Kriegsdienstverweigerer Keynes einen Posten im Schatzamt. 1919 wird er zu den Pariser Friedensverhandlungen entsendet. Nach seiner Rückkehr macht Keynes Schlagzeilen, weil er die Deutschland auferlegten Reparationszahlungen als zu hoch kritisiert. 1921 erobert er die Klatschspalten durch seine Hochzeit mit der russischen Balletttänzerin Lydia Lopokowa; doch die Ehe hält bis zu seinem Tod.

Auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise 1936 erscheint seine «General Theory of Employment, Interest and Money», die sich sofort zum Verkaufsschlager entwickelt. Die nächsten zehn Jahre verbringt der Volkswirt damit, die darin aufgestellten Thesen auszuarbeiten und Politikern weltweit nahe zu bringen.

Daneben engagiert ihn die britische Regierung immer wieder als Berater. Keynes sitzt 1944 bei der legendären Währungskonferenz im amerikanischen Bretton Woods am Tisch; pendelt ständig über den Atlantik. 1946 fordert das hektische Leben seinen Tribut. Keynes stirbt mit nur 62 Jahren an einem Herzanfall. (cg)



Zitate: Was würde John Maynard Keynes sagen...

... zum Streit um die richtige Wirtschaftspolitik?

«Praktiker, die sich für frei von intellektuellen Einflüssen halten, sind gewöhnlich Sklaven irgendeines verblichenen Ökonomen.»

... zu Konjunkturprognosen?

«Die Volkswirtschaftslehre macht es sich zu leicht (...), wenn sie uns in stürmischen Zeiten nur sagen kann, dass der Ozean wieder ruhig wird, nachdem der Sturm vorüber ist.»

... zum Spekulieren an der Börse?

«Erfolgreiches Investieren bedeutet, zu antizipieren, was die anderen antizipieren.»

... zu Schweizer Bankkonten?

«Steuervermeidung ist immer noch die einzige intellektuelle Beschäftigung, die sich auszahlt.»