Im Januar 2003 habe ich an dieser Stelle unter dem Titel «Lendenlahme Opfer» vor einem PSA-Screening gewarnt; bei Früherkennung eines Prostatakarzinoms müsse man sich nicht gleich operieren lassen. Ich bezog mich dabei auf eine im «New England Journal of Medicine» publizierte Studie schwedischer Urologen, bei der 695 im Durchschnitt 65-jährige Männer mit lokalisiertem Prostatakrebs entweder radikal operiert oder mit «watchful waiting» beobachtet wurden. Nach sechseinhalb Jahren waren in der operierten Gruppe weniger Männer an Protatakrebs gestorben, die Gesamtsterblichkeit war aber in beiden Gruppen gleich. 80 Prozent der operierten Männer wurden impotent, 49 Prozent litten an Urininkontinenz.

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Diese Kolumne führte zu geharnischten Reaktionen des urologischen Establishments, im Minimum wurden mir Unwissen und Unverständnis, aber auch Desinformation und Schädigung von Patienten sowie mangelndes Berufsethos vorgeworfen; die Zahl meiner «former friends» in diesem Segment meiner lieben Kollegen nahm drastisch zu.

Die Heftigkeit der Reaktionen machte mich betroffen und nachdenklich. Tröstlich war seither, Meinungen und Diskussionsbeiträge anderer Ketzer zu lesen. So fand ich 2004 im «Journal of Urology» einen Artikel unter dem Titel «The Prostate Specific Antigen Era in the United States is Over for Prostate Cancer». Dem wurde im Internistenjournal «Lancet» im April 2005 widersprochen und festgehalten, dass durch Screening der Krebs eventuell früher und möglicherweise in einem heilbaren Stadium entdeckt werde, dies allerdings mit mehr Biopsien, mit durch Behandlung verursachter Krankhaftigkeit und unnötiger Behandlung mancher Patienten. Der Autor schloss: «PSA is still the best tool we have for early diagnosis.»

Wir sind also «confused at a higher level», und die Beratung der Patienten ist erst durch die kürzliche Publikation der Follow-up-Daten der eingangs zitierten schwedischen Studie etwas einfacher geworden: Für Männer unter 65 Jahren ist nach zehn Jahren das Risiko, an Prostatakrebs zu sterben, das Risiko der Metastasierung und auch des lokalen Fortschreitens der Krankheit durch radikale Prostatektomie vermindert. Die Gesamtsterblichkeit ist in der operierten Gruppe nach 8,2 Jahren etwas geringer, wenn auch die statistische Signifikanz (noch) nicht ganz erreicht ist. Für jene über 65 Jahre lässt sich bezüglich Überleben nach wie vor kein Nutzen der Operation nachweisen.

Wissenschaft ist Wahrheitssuche; es ist möglich, dass manche unserer Theorien wahr sind, andere sind aber sicher falsch. Die unentwegte Suche nach einer besseren Medizin ist ein Merkmal der Schulmedizin und hat durch den erzielten medizinischen Fortschritt unsere Lebensqualität erhöht und die Lebensspanne verlängert. Dabei muss dauernd korrigiert werden, und wir müssen akzeptieren, dass Dogmen von heute in ein paar Jahren Häresie sind.

Unsere Kaste kontrolliert ihr Tun mit akribischer Sorgfalt und muss sich dabei immer wieder die Augen reiben, so auch am 26. Mai, als publik wurde, dass Patienten mit zwei oder drei verengten oder verstopften Herzkranzgefässen nach Bypassoperation länger überleben, als wenn sie mit Ballondilatation und Stenting behandelt werden. Die Resultate wurden an 59 000 Patienten aus dem Staat New York erhoben und zeigten für die Bypasspatienten schon nach drei Jahren einen deutlichen Vorteil. Ein führender Schweizer Kardiologe und überzeugter Ballonbenutzer bezeichnete dies erschrocken als negative Sensation, konnte sich der Evidenz aber nicht entziehen.

Es ist ein objektives Kriterium des Fortschritts, dass er sich zur Wahrheit hin bewegt. Die Erkenntnis, dass manches, was wir für gegeben angenommen haben, falsch ist und korrigiert werden muss, sollte nicht zum Verzagen an der Wissenschaft und am wissenschaftlichen Fortschritt führen. Denn solches ist des Teufels, wie wir von Mephisto im «Faust» wissen:

«Verachte nur Vernunft und Wissenschaft,
des Menschen allerhöchste Kraft …
So hab ich dich schon unbedingt …»

Wir wollen doch nicht des Teufels sein.

Prof. Dr. med. Oswald Oelz ist Chefarzt für Innere Medizin am Triemli-Spital Zürich und Extrembergsteiger