Macht zu haben bedeutet, anderen unentbehrlich zu sein. In der Schweiz hat niemand die politische Macht, weder eine Person noch eine Institution; doch gibt es Personen, die politische Macht ausüben. Diese Machtverzettelung hat mancherlei Vorteile und zwei grosse Nachteile, nämlich: Niemand hat die Befugnis, Prioritäten zu setzen; niemand trägt die Verantwortung für politische Misserfolge. Im letzten Jahrhundert sind nur zwei Mitglieder des Bundesrates zum Rücktritt gezwungen worden, Arthur Hoffmann nach einer aussenpolitisch unentschuldbaren Naivität am Ende des Ersten Weltkrieges und Elisabeth Kopp, die übrigens ihre Funktion hätte behalten können, wenn sie ein Mann gewesen wäre.

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Für die Innenpolitik und für das finanzielle Frühjahreswetter ist diese Machtverzettelung perfekt. Wenn wir jedoch mit Herausforderungen von aussen oder mit Budgetdefiziten konfrontiert werden, ist unsere Verfassungsordnung nicht optimal. Zudem könnte sich kein Land, das internationale Verantwortung trägt, ein derartiges System leisten. Dieses ist übrigens nie kopiert worden.
Sofern es um die tägliche Erledigung laufender Geschäfte geht, liegt die politische Macht beim Bundesrat. Der Bundesrat, eine Institution, die dem napoleonischen Directoire nachempfunden ist, stellt ohne Zweifel die originellste Schöpfung des schweizerischen Staatssystems dar, ein kollektives und kollegiales Staatsoberhaupt, bestehend aus sieben Fachministern und rotierender Präsidentschaft. Voraussetzung ist jedoch, dass zwischen den sieben Mitgliedern eine Komplizität, Solidarität und vor allem Treue besteht, um die kollektive Machtausübung zu gewährleisten. In den Neunzigerjahren war dies keineswegs der Fall, was mitunter die verschiedenen Misserfolge (EWR, nachrichtenlose Konten) erklärt.

Dieses System gelangt an die Grenzen seiner Machtausübung, dies auf Grund der Überlastung der Magistratspersonen. Man kann den Bundesrat nur entlasten, indem man die Zahl seiner Mitglieder verringert. Niemand hatte bisher die Idee, drei amerikanische Präsidenten zu wählen, weil ein einziger doch so viel zu tun hat … Mit anderen Worten ist Überlastung die Folge der mangelnden Delegation. Delegieren ist eine Frage der Machtabgabe, des Wollens, des Temperaments, des Vertrauens, ferner eine Frage der organisatorischen Struktur und der demokratischen Legitimation jener Personen, an die man einen politischen Entscheid delegiert.

Neben dem Bundesrat kannte und kennt die Schweiz verschiedene achte Bundesräte: die Bundeskanzlerin, den Nationalbank-Präsidenten, den Präsidenten des Vororts, den Chefredaktor der NZZ, eine subtil ausgewählte Zahl von Präsidenten multinationaler Unternehmen, eine nicht genannt sein wollende Ständerätin aus dem Kanton Zürich, ehemals einen Schattenaussenminister und ein halbes Dutzend anderer Personen beiderlei Geschlechts, zum Beispiel Medienvertreter. Diese Gruppe teilt sich in zwei Unterkategorien ein, nämlich in jene achten Bundesräte, die es sind, aber nicht wünschen, dass man es sagt, und in jene, die es nicht sind, aber wünschen, dass man es behauptet.

Achter Bundesrat zu sein, ist nicht eine Frage des Geldes, sondern des Gewichts der betreffenden Person. Sagt etwa der Chefredaktor der NZZ, ein Bundesratsentscheid sei «bedenklich» – neben «erheblich» das stärkste an der Falkenstrasse erlaubte Adjektiv –, so wird der Bundesrat zu einer Sondersitzung einberufen. Dies ist leicht übertrieben, aber nicht völlig falsch.

Einen Sonderfall stellt Christoph Blocher dar. Ich bin gewiss kein Anhänger dieses Politikers, der auch kein Anhänger meiner Wenigkeit ist. Doch haben wir uns respektiert, was im Bundeshaus eine Rarität darstellt. Blocher ist ohne Zweifel der individuelle Inhaber der grössten politischen Macht in der Schweiz. Er ist kein achter Bundesrat, sondern ein zweites Bundesratsgremium, eine Art «shadow cabinet». Der Grund hierfür ist simpel: Er ist das einzige «animal politique» mit Linie. Wohl gibt es andere «animaux politiques», doch fahren sie Slalom; wohl gibt es Politiker mit Linie, doch sind sie keine «animaux politiques». Zudem ist Blocher ein Phänomen. Die Schweiz, normalerweise so misstrauisch gegenüber der Kumulierung von politischer und wirtschaftlicher Macht, akzeptiert diesen politischen Selfmade-Multimillionär, als wären wir in den Vereinigten Staaten. Auch hierfür liegt die Erklärung auf der Hand: Blocher kann zur Frau und zum Mann von der Strasse reden, aussprechend, was diese ahnen, ohne es formulieren zu können. Statt ihn zu diabolisieren, statt ihn vom politischen Serail auszuschliessen und damit zum Märtyrer zu machen, hätte man ihn besser systematisch in den politischen Dialog und in die funktionelle Verantwortung einbinden und ihm zum Beispiel – wieso nicht? – die Leitung der bilateralen Verhandlungen anvertrauen sollen.

Macht hat ohne Zweifel die Bundesverwaltung. Sie ist, verglichen mit ausländischen Administrationen klein, effizient, gut ausgebildet und motiviert. Sie umfasst das «institutional memory», die Fachkenntnis und die Erfahrung. Insofern ist die Verwaltung gewiss einflussreich, sei es auch nur, weil sie die Gesetzesvorschläge formuliert. Einen Text vorzuschlagen, ist effizienter, als einen vorgeschlagenen Text abzuändern.

Die Bundesverwaltung ist hierarchisch strukturiert. Diese rechtlich fixierte Machtordnung wird jedoch von einer De-facto-Hierarchie überlagert, die überraschende Züge annehmen kann. So kann ein persönlicher Berater oder gar ein simpler Pressechef einen materiellen Einfluss ausüben, der seine Erfahrung, sein Fachwissen und seine rechtliche Verantwortung bei weitem überschreitet. Diese Entwicklung scheint mir in höchstem Grade ungesund, solange diese grauen Eminenzen nicht die Demut haben, ihre institutionellen Grenzen zu erkennen.

Die Funktion der Staatssekretäre ist geschaffen worden, um den Bundesrat im Ausland zu entlasten – an sich eine gute Idee. Doch darf deren Macht nicht überbewertet werden. Anfänglich waren es zwei, jetzt sind es drei. Diese drei Staatssekretäre haben zumindest eines gemeinsam: Jeder findet, es habe zwei zu viel.

Mächtiger als die Staatssekretäre sind die seltenen Mandarine des Bundes, jene wenigen antizyklischen Chefbeamten, die trotz ihrer Unabhängigkeit, trotz ihrer Zivilcourage und trotz ihrer stupenden Dossierkenntnis Karriere gemacht haben und die schon zu Lebzeiten zur Legende, zum Denkmal ihrer selbst geworden sind. Ich habe fünf erlebt: Paul Jolles, Rudolf Bindschedler, Olivier Pittet, Cornelio Sommaruga und Edouard Brunner. Ein parteipolitisch bedingter Quereinsteiger hat keinerlei Chance, zur Klasse dieser raren Vögel aufzusteigen, wie sehr er sich auch in der Sonntagspresse profilieren mag. Er wird, da parteipolitische Protektion geniessend, stets vom Kreis der Mandarine ausgeschlossen bleiben.

Für einen Bundesrat ist ein Mandarin natürlich nicht kommod. Denn Letzterer hat seine eigene Meinung und, was noch «schlimmer» ist, einen Ehrenkodex. Vorgesetzte verzeihen einem nie, dass man ihre Macht, schädlich zu sein, nicht ernst nimmt … Der grösste Fehler, den ein Bundesrat gegenüber einem Mandarin begehen kann, ist dessen Intelligenz zu überschätzen und dessen Loyalität zu unterschätzen. Dies schafft in der Psyche des Magistraten ein permanentes Misstrauen und ein permanentes Minderwertigkeitsgefühl gegenüber seinem Mitarbeiter. Die Schweizer Geschichte der letzten Jahre sähe besser aus, wenn Staatssekretär Brunner nicht nach Washington abgeschoben worden wäre … Ein Fehler in der Personalpolitik des Bundes kann heute teuer zu stehen kommen.

Ein von der Öffentlichkeit weitgehend ignorierter Machtfaktor sind die Stäbe. In einer Zeit, da die Multis, die Schweizer Armee, ja selbst die Armee Ugandas die Stäbe systematisch verkleinern, um die Entscheidungsabläufe zu rationalisieren, vermehren sich die Stäbe im Bundeshaus wie Waldpilze nach dem Sommerregen. Dies ist aus zwei Gründen schädlich:
Stäbe schaffen Bürokratie, was die Entscheidungsverfahren kompliziert.

Zudem entfernen die Stäbe den Departementsvorsteher von der Wirklichkeit der Front, das heisst von den Bundesämtern, was umso fragwürdiger ist, als die Stabsbürokraten meist keinerlei Fronterfahrung haben.

Ist es sinnvoll, zwischen den «Macht- inhaber», das heisst den strategischen Departementschef, und den operationellen Amtsdirektor eine wachsende Zahl von Beamten zu schieben, die weder über eine strategische Verantwortung noch über eine operationelle Kompetenz verfügen? Die Antwort ist eindeutig negativ. Man gewinnt eine Schlacht mit Panzerdivisionen, nicht mit Stäben.

Vor diesen zahlreichen Stäben fühlte ich mich als Amtsdirektor wie ein Panther im gleichnamigen Gedicht Rilkes:

«Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, dass er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt.»

Umgekehrt nimmt die Verpolitisierung der Chefbeamten zu, was mit ein Grund für die Überlastung des Bundesrates ist. Die Amtsdirektoren sind heute weniger als früher in der Lage, sich auf ihrem Niveau zu einigen. Die Ernennung von Chefbeamten und Botschaftern primär nach ihrem Parteibuch oder durch Favoritismus entmutigt den brillanten Nachwuchs. Politische Ernennungen schaffen aber auch doppelte Loyalitäten, was mit ein Grund für die Seuche der Indiskretionen ist.

Über all den Machtkämpfen und Kompetenzkonflikten der Exekutive steht das Parlament mit seiner ganzen normativen Machtfülle. Diese nimmt es wahr gemäss persönlicher Überzeugung, mit enormer Arbeit und Gewissenhaftigkeit, teils aber auch beeinflusst von Partikularinteressen, Opportunismus und unter den Zufällen der Präsenz an Abstimmungen. Die eidgenössischen Räte sind der politische Machtfaktor der Schweiz, soweit diese Macht nicht schon unter dem Titel des autonomen Nachvollzugs an Brüssel abgegeben worden ist. Sie haben die Macht, über die normative Dichte und das Budget zu entscheiden. Sie sind letztlich für das Defizit verantwortlich. Ich bin stets der Meinung gewesen, dass die eidgenössischen Parlamentarier für die Bundesfinanzen wie Privatbanquiers unbeschränkt haften sollten …

Daneben gibt es die ganze Machtfülle der Wirtschaft, die heute weitgehend international denkt und deshalb mit Ausnahme der KMUs mangels Interesse die Innenpolitik weniger beeinflusst als früher. Sie zu beschreiben, ist hier nicht der Ort. Der Einfluss der Künste, aber auch des Intellektuellen auf Politik und Wirtschaft ist relativ gering, ausser es handle sich – wie beim neuen Aktienrecht oder bei der Definition der Richtlinien zur Corporate Governance – um die Erarbeitung eines Gesetzes oder von Verhaltensvorschriften. Hier hat die reine Intelligenz als solche Macht ausgeübt.

Der politische Einfluss der Medien ist bekannt. Wird ein Magistrat vor die Wahl gestellt, seinem Untergebenen Treue zu beweisen oder von der Presse geliebt zu werden, wird er in manchen Fällen Letzteres vorziehen. Chefbeamte werden, wie etwa der Fall Jagmetti zeigt, leicht zum Verbrauchsmaterial der Politiker.

Ich komme zum Schluss: Es ist der Wille, der die Macht schafft; es ist der Wille, der uns erlaubt zu können. Es besteht in unserem Lande gewiss die kollektive Macht des Souveräns; aber existiert auch ein kollektiver Wille zum Können? Alle grossen Neuerungen sind uns vom Ausland aufgedrängt worden, die Neutralität im Jahre 1515, die parlamentarische Demokratie, die Nichtdiskriminierung der Juden im 19. Jahrhundert und kürzlich die Globalisierung der Wirtschaft. Auch der EU-Beitritt wird uns wohl, wie die Mediationsverfassung vor 200 Jahren, von aussen aufgezwungen werden, statt aus dem freien Willensentscheid eines souveränen Landes zu erwachsen: Zwang zum Beitritt, Beitritt aus Fatalismus.

Die Verzettelung der Macht hat uns in Selbstblockierungen und Widersprüche geführt, welche die Schweiz vermehrt unvorhersehbar machen. Es ist somit höchste Zeit, in unserem Lande über den Gebrauch der Macht nachzudenken, jenes notwendigen Übels, um etwas Konstruktives zeitgerecht aufzubauen. Was wollen wir können? Was können wir wollen? Dies sind die entscheidenden Fragen.