Auch Tage nach dem Auftritt kann er es kaum fassen. «Es hat mich fast vom Stuhl gehauen, als ich mit anhören musste, wie sich Rudolf Wehrli in der Rundschau um Kopf und Kragen redete», erzählt eines der profiliertesten Vorstandsmitglieder des Wirtschaftsdachverbands Economiesuisse. Und ein anderer meint: «Wir haben Wehrli gewählt, weil er glaubwürdig erschien. Und nun das.»

Rudolf Wehrli, gerade mal seit sechs Monaten Präsident des wichtigsten Verbands der Schweiz, hat sich im Nachgang zur Abstimmung über die Abzocker-Initiative von Thomas Minder im Fernsehen den Fragen des Moderators gestellt. Sein knapp achtminütiger Auftritt hat gereicht, die vernichtende Abstimmungsniederlage von Economiesuisse in ein gewaltiges Fiasko zu verwandeln. Damit nicht genug. Im normalen Leben ist Wehrli Verwaltungsratspräsident des Chemiekonzerns Clariant. Dessen CEO Hariolf Kottmann streicht für 2012 ein Vergütungspaket von 7,4 Millionen Franken ein. Wie sagte doch Wehrli an der Economiesuisse-Pressekonferenz von Anfang Jahr treffend: «Masslosigkeit bei den Löhnen schadet der Schweiz und setzt langfristig den sozialen Zusammenhalt aufs Spiel.»

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Bei Economiesuisse wurde dem Vorstand signalisiert, Zweckoptimismus zu verbreiten. Aus diesem Grund lässt sich keines der immerhin 66 Vorstandsmitglieder mit kritischen Voten zitieren. Wer sich dazu durchringt, ein Statement abzugeben, spielt die Probleme herunter. «Wir haben eine Abstimmung verloren, das ist doch nicht so schlimm. Nur wird die ganze Schuld nun der Economiesuisse in die Schuhe geschoben», meint Werner Hug, Mitglied im Vorstandsausschuss sowie Präsident des gleichnamigen Guetslibäckers aus dem luzernischen Malters. Und für Werner Messmer, Vorstandsmitglied sowie Präsident des Schweizerischen Baumeisterverbands, steckt Economiesuisse «nicht in der Krise. Vielmehr sieht sich der Verband grossen Imageproblemen ausgesetzt.»

Niederlage vorausgesehen. Doch im Kreis des Vorstands gärt es. Zumal sich die umstrittenen Grossverdiener zuhauf in den eigenen Reihen tummeln. «Klar fehlt es uns an Glaubwürdigkeit. Das ist doch kein Wunder bei einem Verband, wo viele Firmen, die Abzocker beschäftigen, vertreten sind», wettert einer, der sonst ein mittelgrosses Unternehmen leitet. Dabei zielt er auf Manager wie Urs Rohner von der CS, Rolf Dörig von der Swiss Life, Gottlieb Keller von Roche, Remo Lütolf von ABB oder Lukas Gähwiler von der UBS.

Auf Unverständnis im Economiesuisse-Zirkel gestossen ist die Politik der UBS. «Da schreiben die einen Riesenverlust von 2,5 Milliarden, schütten aber dessen ungeachtet gleich viel an Boni aus. Wie ist so etwas möglich? Dass dann Leute wie Gähwiler im Vorstand von Economiesuisse sitzen, untergräbt unsere Glaubwürdigkeit zusätzlich», wettert ein Ausschussmitglied. Zur Erleichterung nicht weniger Vorstände ist immerhin das Paradigma für Abzockerei, Ex-Novartis-Lenker Daniel Vasella, bei Economiesuisse ausgetreten.

Ein schiefes Licht auf die Glaubwürdigkeit des Wirtschaftsverbands wirft im Weiteren, was zwei Vorstände erzählen – unabhängig voneinander. Schon Monate vor der Minder-Abstimmung «war den meisten im Vorstand klar, dass wir diesen Urnengang nicht gewinnen können». Eigentlich hätte man angesichts der höchst bescheidenen Chancen entscheiden müssen, «wir machen keine Kampagne und sparen Millionen. Doch dann hätten uns die Mitglieder eingeheizt», meint ein Vorstand. Dass die Abstimmung kaum zu gewinnen war, das hat wohl auch Gerold Bührer schon früh erkannt. Der gewiefte Politiker führte 2006 Economiesuisse aus einer schweren Krise, wollte sich im Herbst 2012 jedoch nicht mehr wählen lassen. Der Vorstand «hat bis zuletzt gehofft, dass Bührer noch ein Jahr anhängt», erinnert sich ein Mitglied. Nun ist klar, weshalb dieser sich endgültig verabschiedete.

Bei Economiesuisse täte eine offensive Kommunikation not. Dies haben denn auch mehrere Vorstandsmitglieder angeregt. Doch Rudolf Wehrli ist ganz offensichtlich überfordert. Zudem ist er in Sachen Economiesuisse auf Tauchstation gegangen. Gegenüber BILANZ wollte er partout nicht reden, meinte dafür flapsig: «Da können Sie genauso gut einen Ziegenbock zu melken versuchen.»

Also musste Economiesuisse-Direktor Pascal Gentinetta in die Lücke springen. Nur ist dieser solche Auftritte nicht gewohnt. Das Reden und Draufhauen besorgte einst Ex-Präsident Gerold Bührer, die beiden waren das perfekte Gespann. Gentinetta selbst, so ein Vorstand, könne zwar «auch forsch auftreten, wirkt aber schnell arrogant».

Business as usual. Bei den meisten Vorständen herrscht Ratlosigkeit darüber, wie die angeschlagene Glaubwürdigkeit wiederhergestellt werden kann, ja wie es überhaupt weitergehen solle. Von solchen Zweifeln will Pascal Gentinetta nichts spüren. Am Abend des 18. März, gleich nach der Vorstandssitzung, meldete sich telefonisch ein unüberhörbar aufgekratzter Economiesuisse-Chef. Von Krisensitzung habe er nicht die kleinste Spur festgestellt, die Stimmung sei entspannt, die Vorstandsmitglieder locker gewesen. «Es war eine seit über einem Jahr geplante ordentliche Sitzung», versucht Gentinetta Routine zu signalisieren. «Der Vorstand hat sein Vertrauen in die bestehenden Strukturen und Personen bekräftigt», meint er in gedrechseltem Verbandsdeutsch. Im Klartext: Kein Vorstand hat gefordert, dass Rudolf Wehrli zurücktreten solle. Oder gar Pascal Gentinetta.

«Ich finde nach wie vor, Rudolf Wehrli ist die richtige Person für diesen Job», stärkt ihm auch Hans Hess, Vizepräsident von Economiesuisse und Swissmem-Präsident, den Rücken. Werner Hug möchte den Economiesuisse-Präsidenten ebenfalls nicht mit dem Bad ausschütten – wenn auch eher aus pragmatischen Gründen: «Es ändert sich nichts, wenn man einfach Köpfe rollen lässt. Wir leben doch nicht in der Welt des Fussballs, wo der Trainer nach Niederlagen seinen Koffer packen muss.» Andere Vorstände murren zwar, hüten sich jedoch davor, öffentlich als verkappte Königsmörder aufzutreten. Damit herrscht offiziell breiter Konsens, Wehrli noch eine Chance einzuräumen. Zumal er im Herbst 2015 seinen Stuhl sowieso räumen muss; aus Altersgründen kann der 63-Jährige nur eine Amtsperiode absolvieren.

Der Präsident ist damit allerdings noch lange nicht aus dem Schneider. Für manches Vorstandsmitglied hat Wehrli lediglich etwas Zeit gewonnen. Diese Zeit sollte er nutzen, um an Statur zuzulegen. Zwar gilt der doppelte Doktor der Theologie und Philosophie als Brückenbauer, wird als umgänglich und integer gelobt. Nur reichen diese Eigenschaften nicht aus, um den wichtigsten Wirtschaftsverband der Schweiz, der die Interessen von etwa 100 000 Unternehmen mit rund zwei Millionen Beschäftigten vertritt, durch die stürmische See zu steuern. «Wehrli ist alles andere als das Idealbild eines entschlossenen Leaders», merkt eines der bedeutendsten Vorstandsmitglieder an.

Verlorene Leadership. Rudolf Wehrli jedoch bietet sich kaum mehr so schnell eine weitere Gelegenheit, sich derart in Szene zu setzen wie bei der Minder-Initiative. Zwar stehen weitere, für den Wirtschaftsstandort Schweiz und damit für Economiesuisse noch bedeutungsvollere Urnengänge an als die Abzocker-Initiative. Beispielsweise die im Herbst zur Abstimmung gelangende 1:12-Initiative der Jungsozialisten (Juso), mit der die höchsten Managersaläre auf das Zwölffache des tiefsten Lohns im Unternehmen gedeckelt werden sollen. Eine nicht minder wichtige Volksbefragung ist aber auch jene über die Personenfreizügigkeit oder die Erbschaftssteuer-Initiative, für die noch keine Termine angesetzt sind.

Dieser Tage laufen die Diskussionen zwischen Economiesuisse, dem Schweizerischen Arbeitgeberverband und dem Schweizerischen Gewerbeverband, wer mit Blick auf die Abstimmungen bei den Kampagnen den Lead übernehmen solle. Sogar in den Reihen der Economiesuisse ist klar, dass der Wirtschaftsdachverband zurückstehen soll. Die Glaubwürdigkeit ist zu schwer angeschlagen. «Würde Economiesuisse die Kampagnenführung für 1:12 übernehmen, wäre die nächste Katastrophe vorprogrammiert», sagt ein Vorstandsmitglied.

Die Linke schaut dem Hauen und Stechen der Spitzenverbände amüsiert zu. Sie nutzt die Schwäche von Economiesuisse, um deren Bedeutung noch weiter zu untergraben. So fordert die Winterthurer SP-Kantonsrätin Mattea Meyer mittels eines Postulats, dass die Volkswirtschaftsdirektion des Kantons Zürich aus dem Wirtschaftsverband austreten solle; sie ist übrigens schweizweit als einzige Volkswirtschaftsdirektion dort Mitglied. Die Zürcher Kantonsregierung sieht keinen Grund für einen Austritt. Meyer lässt sich nicht beirren, sieht «sehr gute Chancen für das Postulat, zumal ich auch positive Rückmeldungen von der SVP erhalten habe», wie sie gegenüber BILANZ ausführt. Der SP-Frau geht es nicht um den lächerlichen Jahresbeitrag von 1000 Franken, sondern um den Verband selbst. «Economiesuisse ist ein Interessenverband der Abzocker und Grossunternehmen, der sich finanzkräftig an Abstimmungskampagnen beteiligt und dabei oft fragwürdige Instrumente anwendet. Das Stimmvolk hat seiner Politik eine klare Abfuhr erteilt.»

Die Flinte auf die Economiesuisse angelegt hat auch Marco Kistler, Glarner Landrat (SP/Juso). Er reichte beim Landrat eine Interpellation ein. Kistler findet es stossend, dass der Verband Schweizerischer Kantonalbanken (VSKB) Mitglied bei Economiesuisse ist. Denn die Glarner Kantonalbank, zu 100 Prozent im Besitz des Kantons, ist über ihre Mitgliedschaft beim VSKB ebenfalls mit dem Wirtschaftsdachverband liiert. «Damit werden Economiesuisse und deren Millionen-Kampagnen indirekt durch Geld der Glarner Bevölkerung mitfinanziert.» Der Jungpolitiker hat bislang zwar nur Fragen gestellt. Doch die Interpellation stösst überkantonal in Juso-Kreisen auf Beifall. Auch die Juso Thurgau will mit einer Anfrage nachziehen. «Es wäre wünschenswert, wenn wir schweizweit eine Welle losgetreten haben», sagt Marco Kistler.

Absetzbewegung. Solche Scharmützel mögen für den mächtigsten Verband der Schweiz drittrangig sein; dem Image sind sie nicht zuträglich. Weitaus schwerer wiegt der – vorderhand erst angekündigte – Austritt des Verbands der Schweizerischen Uhrenindustrie FH, von Economiesuisse «mit Bedauern zur Kenntnis genommen». Da sind immerhin mehr als 200 Unternehmen vereinigt. Einige Vorstände bei Economiesuisse schliessen weitere Austritte vor allem von kleineren Verbänden oder Unternehmen nicht aus. Diese scheuen zunehmend, mit dem Wirtschaftsdachverband und damit mit der Abzockermentalität in Verbindung gebracht zu werden.

Derweil übt man sich bei Economiesuisse in ungewohnter Demut. «Wir haben die Botschaft des Stimmvolkes verstanden und wollen die entsprechenden Konsequenzen ziehen», sagt Verbandsdirektor Pascal Gentinetta nachdenklich. Und fügt leise an: «Wir müssen aus jeder Niederlage lernen.» Doch die stille Einkehr dauert nur Sekunden, dann schwimmt der Schweiz oberster Wirtschaftslobbyist wieder im alten Fahrwasser: «Aber auch aus jedem Erfolg. Nur so konnten wir bis jetzt bei Abstimmungskampagnen eine Erfolgsquote von etwa 90 Prozent sicherstellen. Eine Quote, um die uns im Übrigen viele beneiden.»

Da ist er wieder, der altbekannte Übermut. Economiesuisse hat vielleicht aus der Niederlage doch nichts gelernt.