Liebe Leserin, lieber Leser

Als am 29. Mai die Franzosen die EU-Verfassung an der Urne abgelehnt hatten, wehte ein Hauch von Revolution durch die Metropole an der Seine. Auf der geschichtsträchtigen Place de la Bastille feierten die Neinsager, 216 Jahre nachdem am selben Ort die Tyrannei besiegt worden war. Diesmal haben die Franzosen gegen die Diktatur der EU-Bürokraten im fernen Brüssel den demokratischen Aufstand geprobt und ein zweites Mal den Siegerlorbeer errungen. Die EU also am Ende, der Moloch Europa geschleift an der Urne in Frankreich und den Niederlanden? Die Vision eines geeinten Europa, die mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) im Jahr 1958 ihren Anfang genommen hat, zerstört vom europäischen Souverän?

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In diesen elektrisierten Zeiten sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass die europäischen Einigungsbestrebungen seit Ende des Zweiten Weltkrieges – der Europarat in Strassburg wurde im Jahr 1949 gegründet – den historischen deutsch-französischen Dualismus überwanden, der dem alten Kontinent zwischen 1870/71 und 1945 drei Kriege beschert hatte. Nicht in Vergessenheit geraten sollte auch, dass nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1989 die EU in dem daraus resultierenden Machtvakuum zumindest indirekt stabilisierend wirkte, indem sie den ehemals sowjetischen Gürtelstaaten von Slowenien bis Estland eine Zukunft innerhalb der Union in Aussicht stellte. Und schliesslich gilt es auch nicht zu vergessen, dass es die Menschen in den Oststaaten waren, die den tönernen Riesen Sowjetunion in einer unblutigen Revolution von unten zu Fall brachten. Insofern ist es in der historischen Perspektive durchaus folgerichtig, dass der Souverän in verschiedenen Mitgliedsstaaten den EU-Bürokraten nun an der Urne die gelbe Karte gezeigt hat. Das Verdikt der Wähler bedeutet für die zukünftige Entwicklung der EU zweierlei: Die politische Vereinigung der 454 Millionen Menschen in den 25 Mitgliedsländern ist ohne EU-Verfassung nicht machbar, und das ist gut so, denn die Union ist für diesen finalen Schritt (noch) nicht reif. Die wirtschaftliche Integration jedoch wird weitergehen, und das ist auch gut so, denn ohne wirtschaftliche Stabilität droht der Zerfall der Vision Europäische Union.

Und die Schweiz? Hierzulande versucht die SVP die Schengen-Abstimmung in ihrem Sinn umzudeuten und fordert nun einen Rückzug des seit Jahren in Brüssel vor sich hinschlummernden EU-BeitrittsGesuchs. Die Partei um ihren polternden Chefhistoriker Christoph Mörgeli ist noch nie durch geschichtliche Differenziertheit aufgefallen. Es sollte aber nicht in Vergessenheit geraten, dass es diese Partei war, die im Jahr 1992 den Beitritt des Landes zum EWR federführend verhinderte und die Schweiz auf den bilateralen Weg zwang. Inzwischen wurden im Rahmen der Bilateralen I und II 16 Abkommen mit der EU abgeschlossen, die unser Verhältnis mit der EU auf eine tragfähige Basis gestellt haben. Wenn im Herbst die Personenfreizügigkeit mit der EU zur Abstimmung gelangt, ist der Urnengang in diesem grösseren Zusammenhang zu sehen. Sollte ein Nein resultieren, wäre das Verdikt zu respektieren, und die SVP hätte für die wirtschaftlichen und politischen Folgen die Verantwortung zu übernehmen: Unser Verhältnis zur EU stünde wie nach dem EWR-Nein wieder am Nullpunkt.

In eigener Sache

Als neuen Kollegen auf der BILANZ-Redaktion begrüsse ich Dirk Ruschmann (33). Nach dem Studium der Politologie hat Ruschmann die Georg von Holtzbrinck-Schule für Wirtschaftsjournalisten besucht und für renommierte Titel wie die «WirtschaftsWoche», die «Süddeutsche Zeitung» oder «Die Zeit» geschrieben. Bei BILANZ führt er sich in der aktuellen Nummer mit einem «Machtnetz» über die Kanzlerkandidatin Angela Merkel ein.