Der Tod war eine Erlösung. Nicht nur für den Verstorbenen, sondern auch für die engsten Angehörigen, die sich längst von ihm entfremdet hatten. «Duttis» Erben an der Spitze der Migros mochten über den Landesring, die Politfiliale des grossen Gründers Gottlieb Duttweiler, schon seit 20 Jahren nicht mehr froh werden. Jetzt ist sie tot, doch den Schatten der Vergangenheit wird die Migros so schnell nicht los.

Wer am Limmatplatz in Zürich anklopft, wo die Landesring-Akten am Migros-Hauptsitz unter Verschluss sind, wird abgewimmelt. An Zeitgeschichte interessierten Journalisten könne «grundsätzlich kein Zutritt zu den ohnehin unerschlossenen Archivmaterialien gewährt» werden, lässt der Migros-Genossenschafts-Bund mitteilen.

Zu peinlich erscheinen den Migros-Chefs die internen Vorgänge, die sich während der letzten zehn Leidensjahre der maroden Partei abspielten und nun auch die Justiz beschäftigten. Zum Eklat kam es 1998. Der damalige Finanzchef der Partei hatte 53 681 Franken aus der Kasse der Landesring/EVP-Fraktion abgezweigt und einen Teil davon direkt an das Betreibungsamt Fraubrunnen überwiesen – zwecks Begleichung privater Schulden. In seinem Bericht über «Mängel auf der Landesgeschäftsstelle 1998» rechnete Ex-Nationalrat Walter Biel mit dem damaligen Parteichef Daniel Andres ab, der seine Führungsaufgabe «nicht wahrgenommen» habe. Die Finanzadministration sei, so Biel, «überaus liederlich» gewesen und «von Zahlungsmoral konnte nicht mehr die Rede sein». Die nötige Liquidität konnte «nur dank der Kulanz der Migrosbank gesichert werden». Die Zustände in der Parteizentrale waren angesichts der Auflösungstendenzen so chaotisch, dass auch noch die Bar-Kasse unter dubiosen Umständen abhanden kam.

Biels scharfe Worte hätten nach adäquaten Massnahmen gerufen. Doch er schonte nicht nur die damalige Fraktionschefin Verena Grendelmeier und Fraktionssekretär Rudolf Hofer; für den kritikfreudigen Expolitiker war das trübe Kapitel offensichtlich abgeschlossen. Wohl nicht ganz zufällig. Als langjähriger Präsident des LdU-Finanzausschusses besass der frühere Migros-Direktor die intimsten Kenntnisse über die Geldflüsse, die zwischen Konzern und Partei mäandrierten. Er kannte auch den Kontostand der geheimen Migros-Kasse, die neben der offiziellen, mit Bundeszuwendungen alimentierten Fraktionskasse existierte. Mit dem Migros-Batzen wurden von jeher schöne Fraktionsausflüge und üppige Essen finanziert – Veranstaltungen, die in andern Parteien von den Parlamentariern selbst berappt werden. Doch beim Landesring schöpfte man aus dem Vollen: Die Migros hats, die Migros zahlts.

Bezeichnenderweise sorgte ein Parteifremder dafür, dass die Sache nicht unter den Teppich gekehrt wurde: Ex-EVP-Nationalrat Max Dünki, der als Mitglied zweier parlamentarischer Untersuchungskommissionen ein waches Sensorium für Unregelmässigkeiten entwickelt hatte. Er klagte den fehlbaren Finanzchef auf eigene Faust ein. Dünki: «Die andern haben sich nicht darum gekümmert.» Am 13. Dezember 2000 verurteilte der Gerichtspräsident 13 des Gerichtskreises VIII Bern-Laupen den Exfunktionär wegen Veruntreuung und Urkundenfälschung zu drei Monaten Gefängnis bedingt – der Schuldspruch ist bis heute nicht publik geworden. Für die EVP, den früheren Bündnispartner des LdU, zieht Dünki gleich auch noch das Konkursverfahren gegen den Buchhalter durch, um den EVP-Anteil am veruntreuten Geld bestenfalls doch noch zurückzuholen.

Die Hartnäckigkeit des pensionierten Gemeindeschreibers bekommen noch andere zu spüren. Bis heute liegt noch immer keine Fraktionsabrechnung für 1999 vor; am Ende jenes Jahres hatte sich die Partei offiziell aufgelöst. Dünki droht als damaliger Fraktionschef dem Verantwortlichen ebenfalls mit einer Klage: «Schwamm drüber? Solange ich lebe, kommt das nicht in Frage.»

Welche Sitten beim Landesring herrschten, wird erst heute klar. 1991 richtete die einst stolze Partei gleich in vier Wahlkämpfen mit der grossen Kelle an. Regierungsrats-, Kantonsrats-, Nationalrats- und Ständeratswahl rissen ein gewaltiges Loch in die Kasse: Die Summe wird von internen Quellen auf über 400 000 Franken beziffert. Die Lage war so dramatisch, dass die nationale Partei den Zürchern mit einem Darlehen von 200 000 Franken unter die Arme greifen musste.

Sein Wahlkampfbudget besonders massiv überschritten hatte Nationalrat Roland Wiederkehr, der damals hoffnungsvoll zum Sprung in die Zürcher Regierung ansetzte. «Es war grauenhaft», erinnert sich ein ehemaliger Revisor an das Finanzgebaren von Wiederkehr und seinen Getreuen. Der Kandidat und sein in amerikanischen Präsidentschaftskämpfen erfahrener Promotor Guido Weber wurden zur Bezahlung einer bescheidenen Wiedergutmachungssumme von je 10 000 Franken verknurrt. Wobei Wiederkehr die Schuld «durch Realleistungen (PR-Arbeiten usw.)» hätte abgelten sollen. Doch die Zweifel überwiegen, dass er dies je getan hat. «Das war eine ganz lusche Sache», enerviert sich der frühere Revisor. Er habe für die Partei «genügend PR» gemacht, sonst sässe er heute nicht mehr im Parlament, verteidigt sich Wiederkehr kaltschnäuzig. Im Übrigen gehe ihn das alles nichts an, da er «mit den Finanzen nichts zu tun gehabt» habe.

Wiederkehr, wie er leibt und lebt: Jahre später festigte sich sein zweifelhafter Ruf im Umgang mit ihm anvertrauten Geldern. Das Grüne Kreuz Schweiz, das mit viel Prominenz und grossem Trara aus der Taufe gehoben wurde, geriet unter Führung des umtriebigen Gorbatschow-Spezis wegen intransparenter Verwendung von Spendengeldern und mangelhafter Rechnungsführung international in die Schlagzeilen. Für Wiederkehr hatten die Budgetüberschreitungen, die unter dem Deckel gehalten werden konnten, keine Konsequenzen. Als wäre nichts geschehen, durfte er 1995 erneut auf der LdU-Nationalratsliste kandidieren.

In Schweigen hüllt sich, von Erinnerungslücken geplagt, eine weitere entscheidende Zürcher Figur: die Landesring-Ikone Monika Weber. 1991 stand ihre Wiederwahl in den Ständerat an, und auch sie führte einen nicht eben billigen Wahlkampf. Bände über das Finanzgebaren gewisser Zürcher Sektionen spricht hingegen der Revisionsbericht der Migros-Tochter Mitreva: «Es fehlt an einer ordnungsgemässen Buchführung; absolute Minimalanforderungen sind nicht erfüllt.» Und dies seit Jahren. Konsequenzen aus dem Finanzdesaster mochte bei der Geldgeberin, die den Landesring zur ordnungsgemässen Verwendung der Mittel verpflichtet hatte, niemand ziehen. «Darum haben wir uns nie gekümmert», gibt Ex-Migros-Chef Jules Kyburz unumwunden zu. «Die Migros hätte mehr Einfluss nehmen müssen», bedauert im Nachhinein der damalige Zürcher Parteipräsident und Migros-Manager Alex Rüegg.

Die Revisoren der Migros-Treuhandfirma waren die Einzigen, die den Zustand der Zürcher Partei schonungslos aufzeichneten. Die Hälfte der Sektionen war nicht im Stande, die Jahresrechnungen fristgerecht einzusenden und die Mitgliederbeiträge zu überweisen. Die Mitreva-Leute mahnten denn auch die Parteileitung, «entsprechende Massnahmen zur Bereinigung der unbefriedigenden Situation einzuleiten» und einzelne Sektionen ganz aufzulösen – vergeblich. Aus dem Zürcher Landesring war bereits vor zehn Jahren eine ziemlich virtuelle Partei geworden.

Dass die Agonie noch verlängert wurde, hing entscheidend mit Monika Weber zusammen. Die ehemalige Konsumentenschützerin liess sich 1992 für das nationale Parteipräsidium einspannen. Ihre Bereitschaft habe «die Legitimation geschaffen, dass noch Geld geflossen ist», sagt sie heute. Ohne Migros-Direktorin Weber hätte die Migros dem Landesring den Geldhahn zugedreht. So kam es zu einem Schrecken ohne Ende. Und Monika Webers Politkarriere konnte, wie jene Wiederkehrs, fortgesetzt werden. Sie wechselte 1998 vom Ständerat in den Zürcher Stadtrat.

Geld und Köpfe – davon lebte der Landesring, seit ihn die Saftwurzel Gottlieb Duttweiler in den Dreissigerjahren gegründet hatte. Selbst als die Oppositionspartei in den Sechzigerjahren ihre grössten Erfolge errang, hatte sie laut NZZ nur 4000 Mitglieder; die Partei selbst bezifferte 1955 die Zahl auf 6500. Die Leute stürmten zwar die Migros-Läden, doch politisch wollten sie sich nicht binden.

Der Landesring hing also auch in seinen besten Zeiten völlig am Tropf der Migros. Als AG zahlte sie keine Dividenden, um die Partei finanzieren zu können. Später verwendete der Migros-Genossenschafts-Bund gemäss Statuten ein Prozent des Umsatzes «für wirtschaftspolitische, kulturelle, soziale und andere nicht geschäftliche Zwecke». Dies ergab schon 1960 stolze 3,6 Millionen Franken; 20 Prozent davon entfielen auf den Landesring, diverse Kampagnen und die Migros-Presse. Den Migros-Abhängigen sollen in den Sechzigerjahren rund 1,5 Millionen für direkte politische Aktionen zur Verfügung gestanden haben, was der Bewegung auch erlaubte, ein dickes Reservepolster anzulegen.

Solange Migros und Landesring ein Herz und eine Seele waren, floss der Rubel reichlich. Erst als die erlahmende sozial- liberale Kraft in den Achtzigerjahren, dem Trend folgend, markant grüne Züge annahm, kam es zum grossen Knatsch mit den Migros-Bossen. Der heutige SP-Nationalrat Paul Günter und der spätere Landesring-Präsident Franz Jaeger hatten die Macht übernommen und den LdU auf einen scharfen Anti-Atom-Kurs eingeschworen. Mit dem Expansionsdrang des Grossverteilers war die Ökopolitik des LdU jedoch nicht kompatibel. Die Migros baute auf der grünen Wiese Einkaufszentren mit grossen Parkflächen, während der Landesring-Abgeordnete Günter eine «sofortige Rationierung der Treibstoffe» forderte. Als die Partei dann auch noch die linke «Stopp dem Beton»-Initiative unterstützte, habe es «den Migros-Leuten endgültig ausgehängt», erinnert sich ein alter Landesringler.

Zur Strafe kürzte die Migros-Führung unter Pierre Arnold ihren Jahresbeitrag per 1985 von 3,4 auf 2,7 Millionen Franken. Später erhielt der Landesring noch jährlich drei Millionen Franken, musste damit jedoch auch alle Wahlkämpfe bestreiten. Als die Partei vollends zusammenschrumpfte, waren es noch 600 000 Franken.

Die 1979 getroffene Vereinbarung, wonach Migros und Landesring «im Sinne des gemeinsamen Gedankengutes» erfolgreich wirken wollen, war von Anfang an Makulatur. Die Partei zog mit der Ökowende neue, mitunter militante Mitglieder an, die sich primär eine rasche Karriere versprachen. Der «grüne Franz», der später zum Neoliberalen mutierte, wurde von der noch grüneren Basis überrollt. Elektoral zahlte sich Jaegers vorab taktisch bedingte Neuausrichtung nicht aus. Der Landesring verharrte in den Achtzigerjahren auf 8 oder 9 Nationalratsdeputierten; 1967 waren es noch 16. Migros und LdU, diese ungleichen Partner, hätten sich konsequenterweise schon vor 20 Jahren trennen müssen. Es passte eben nicht zusammen, was nicht mehr zusammengehörte.
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