BILANZ: Wie schätzen Sie die Aussichten für die Weltwirtschaft in diesem Jahr ein?
Kenneth Rogoff:
Wir erwarten, dass die Wirtschaftsleistung in Japan abermals schrumpfen wird. Das Wachstum in den USA wird wahrscheinlich bei unter einem Prozent liegen, in Europa könnte es etwas höher als ein Prozent ausfallen. Aber die Zahlen sind irreführend: Sie verdecken, dass wir vor allem für die USA mit einem kräftigen Anziehen des Wachstums in der zweiten Jahreshälfte rechnen. Dann und wahrscheinlich auch im Jahr 2003 werden Nachholeffekte dafür sorgen, dass das Wachs-tum in den USA sogar höher ausfallen wird als im langfristigen Trend.

Wie bitte?
Die Industrieländer haben sich seit dem Zweiten Weltkrieg als sehr robust erwiesen. Rezessionen, die länger dauern als ein Jahr, sind sehr selten. Ich erwarte, dass sich die Volkswirtschaften in Nordamerika und Europa dieses Jahr wieder erholen.

Könnte den westlichen Industrieländern das Schicksal von Japan drohen: eine lange Stagnation und deflationäre Tendenzen?
Alles ist möglich, wenn die Rezession viel länger dauern sollte, als wir vorhersagen, und wenn die Geldpolitiker nicht reagieren. Aber ich glaube, dieses Szenario ist extrem unrealistisch.

Einige Analysten argumentieren, die Federal Reserve habe nach den Zinssenkungen nicht mehr genügend Spielraum für Zinssenkungen, um neuen Schocks wirksam entgegentreten zu können.
Eine Zentralbank kann jederzeit die Realzinsen senken, indem sie Inflation erzeugt. Und sie kann jederzeit Inflation erzeugen, indem sie in grossem Stil Staatsanleihen aufkauft, also Geld druckt. Das Problem ist nur, dass sich der Prozess nicht leicht kontrollieren lässt: Wenn die Zentralbank drei Prozent Inflation anstrebt, wird sie am Ende womöglich 13 Prozent bekommen.

Wie gross ist das Risiko, dass Alan Greenspans Zinssenkungen Inflation hervorrufen werden?
Sollte die US-Wirtschaft im Frühjahr schon boomen, auch das ist gut möglich, dann könnten wir in den USA binnen kurzer Zeit überraschend hohe Inflationsraten haben. Aber das ist meine geringste Sorge. Verglichen mit einer Rezession, wäre mir das Problem, wegen starken Wachstums vier Prozent Inflation zu haben, viel lieber.

Hätte sich die Krise verhindern lassen?
Wahrscheinlich nicht. Was wir in den vergangenen Jahren erlebt haben, war zum Teil eine «kreative Zerstörung» im schumpeterschen Sinne.

Ihr Vorgänger Michael Mussa hat kritisiert, dass die EZB die Zinsen nicht rasch genug gesenkt habe. Schliessen Sie sich dem Urteil an?
Ja, die EZB hätte früher handeln müssen. Die EZB sollte jetzt wachsam bleiben. Aber es dauert sechs bis neun Monate in den USA und wohl noch länger in Europa, bis die Effekte von Zinssenkungen in der Realwirtschaft spürbar werden. Deshalb sollte die EZB bei ihren heutigen Entscheidungen nicht darauf schauen, wie es jetzt um die Wirtschaft bestellt ist, sondern darauf, wie es im Sommer aussehen wird.

Wie sollten Regierungen in Europa auf die gegenwärtige Krise reagieren?
In einer Rezession sinken die Steuereinnahmen, während Staatsausgaben, zum Beispiel für Arbeitslosengeld, steigen. Diese so genannten automatischen Stabilisatoren dämpfen einen Abschwung. Ich empfehle, die Stabilisatoren wirken zu lassen und sie nicht durch Steuersenkungen oder Kürzungen bei Sozialleistungen zu unterminieren.
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