Gäbe es Osteuropa nicht, sässe ich nicht da», weiss Daniel Model. Er sitzt in der ehemaligen Villa seiner Grossmutter in Weinfelden. Von hier aus führt er sein Familienunternehmen als Verwaltungsratspräsident. Dieses ist im letzten Jahrhundert zur Schweizer Marktführerin herangewachsen, mit seinem Fabrikkanal, den Wohnblöcken für die Arbeitskräfte, einem der modernsten Werke der Welt, in dem Kartonverpackungen für Konsumgüter von bedeutenden Konzernen entstehen. Daniel Model sagt: «Ich kann mir nicht mehr vorstellen, mich nur auf dem Schweizer Markt zu tummeln. Wenn es so weitergeht, ist Model in zehn Jahren ein polnisch-tschechisches Unternehmen.» Und dies, wohlgemerkt, nicht wegen Abbaus am angestammten Standort, sondern dank Wachstum auf den neu zu erobernden Märkten.

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Der Unternehmenserbe, der auf höchstem Niveau Curling spielte, erkannte im Westen «eklatante Zeichen der Sättigung», als er Ende der Achtzigerjahre die HSG verliess. Als Berater bekam er hier denn auch keine Aufträge, sondern sanierte einen Skilift in der Tschechoslowakei oder die Wasserwerke im ostdeutschen Potsdam. Und dort erlebte er 1989 mit, wie die Mauer fiel: «Es lief mir kalt den Rücken hinunter», erinnert sich Daniel Model, «das war die Antwort auf alle meine Fragen.»

Als ihn 1991 der Vater zurückrief, um eine Grossakquisition in Frankreich durchzuziehen, erkannte er nach drei Tagen Analyse: Preis zu hoch, Wachstum zu gering. Er blies zum Entsetzen des Vaters zum Rückzug, schaute sich stattdessen im Osten um und fand 1992 im tschechischen Opava ein riesiges Werk, das die bedrängte liberale Regierung Klaus noch schnell vor den Wahlen in einer weltweiten Auktion versteigern wollte. «Ich musste im Verwaltungsrat kämpfen wie ein Stier», erzählt Daniel Model. «Ohne Vater hätte ich es nicht geschafft, denn alle dachten: Jetzt spinnt der Schnösel völlig.» Aber er machte, nur mit einem Anwalt, nach der Endrunde gegen zwölf Leute des globalen Marktführers International Paper aus New York schliesslich den Deal. Und er bereut ihn bis heute nicht.

Der Jungunternehmer gehörte so zu den Schweizer Pionieren in den Ländern des auseinander gebrochenen Ostblocks – wie Vetropack (Glas) und Rieter (Textilmaschinen) in Tschechien, Hiestand (Bäckerei) in Polen oder Novartis mit der Übernahme der Generika-Spezialistin Lek in Slowenien. Heute bekommt Daniel Model jede Woche einen Anruf von einem Schweizer Unternehmer: Soll ich nach Osteuropa gehen? Denn diese Länder gehören ab 1. Mai zur erweiterten EU. Allein aus dem ehemaligen Ostblock kommen 74 Millionen Menschen auf den europäischen Binnenmarkt: in der Schweiz für die Pessimisten billige Arbeitskräfte, die uns den Werkplatz wegnehmen, für die Optimisten Menschen, die um ein besseres Leben kämpfen, also unsere Produkte kaufen. Was überwiegt: Chance oder Risiko?

In den Osten zu gehen, sei «eine Gratwanderung für ein westliches Unternehmen», weiss Max Steiner von der Handelskammer Schweiz–Mitteleuropa. Es gebe viele Möglichkeiten, allerdings in einem halb rechtsfreien Raum, und zwar auch in den Ländern, die bald zur EU gehören werden. Die Schweizer halten sich bisher zurück, im Gegensatz zu den Deutschen, den Holländern, auch den Österreichern und vor allem den Franzosen, den grössten Investoren im Hauptmarkt Polen. In der Rangliste der Investorenländer steht die Schweiz erst auf Platz 8 in Tschechien (wo immerhin die Swisscom eine Beteiligung von fast einer Milliarde Franken an der Cesky Telecom hält), auf Platz 11 in der Slowakei und gar nur auf Platz 15 in Polen.

Ringiers Reich im Osten
Steigende Kurven


Ringier ist das grösste Verlagshaus in Tschechien, Ungarn und der Slowakei. BILANZ begleitete Ringier-Chef Michael Ringier auf einer Dienstreise.


Früher, sagt Michael Ringier, sei er ganz erstaunt gewesen, dass Prag oder Budapest nur etwas mehr als eine Flugstunde von Zürich entfernt lägen. Er sei losgereist und habe erwartet, dass der Trip hinter den Eisernen Vorhang unendlich lange dauern werde. Weit weg schien der Osten, den der staunende Zofinger erstmals mit 19 Jahren während seiner Maturareise 1969 besuchte.


Der gross gewachsene Schweizer Verleger schält sich aus dem Sitz der kleinen Privatmaschine, mit der er von Zürich nach Budapest eingeflogen ist. Der böse Feind kommt nicht mehr aus dem Osten. Ringier hat sich früh dem «neuen Europa» zugewandt – vor 15 Jahren noch allseits belächelt, heute geachtet für seine Weitsicht und seinen Durchhaltewillen. Am 1. Mai werden drei Länder aus Ringiers Konzernbereich – Ungarn, Slowakei, Tschechien – die jüngsten Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Rumänien und Serbien, die beiden anderen Länder Mittel- und Osteuropas mit Ringier-Blättern, verharren in Warteposition.


Der Verwaltungsratspräsident und Eigentümer Michael Ringier ist zu einer seiner beiden kurzen jährlichen Inspektionsreisen nach Zentral- und Osteuropa aufgebrochen. Budapest, Bratislava und Prag heissen die Destinationen. Die Tage sind ausgebucht durch die Präsentationen der Geschäftsführer und Chefredaktoren. Zu den Dinners lädt Ringier nationale Wirtschafts-, Polit- und Kulturgrös-sen. «Ich spreche nicht Tschechisch, Slowakisch oder Ungarisch und kann meine Zeitungen nicht lesen», sagt Ringier bei der Begrüssung in einem feinen Restaurant in Budapest. «Deshalb will ich wenigstens wissen, was die Menschen über meine Zeitungen denken.»


Ungarns Kulturminister István Hiller denkt darüber, am ersten Abend, nur Gutes. Zum Beispiel über die führende seriöse Tageszeitung «Népszabadság», an der Ringier seit 2003 offiziell 49 Prozent der Aktien hält. Weitere 17 Prozent sind Ringier-nah parkiert und warten auf das Zusammenführen. Kulturminister Hiller möchte vom Verleger wissen, wer neuer Chefredaktor des Blattes werde. Der Filmemacher und Oscar-Preisträger Lajos Koltai und der Romancier Miklós Vámos hören mit. «Es ist noch zu früh, darüber etwas zu sagen», sagt der Gastgeber.

Das liegt auch an der Politik. «Der Bund lebt immer noch in der Planwirtschaft», meint Max Steiner, «er ist nicht besser ausgerüstet als in der kommunistischen Zeit.» Er arbeitete früher selber für das Aussendepartement, für ABB und für Ringier (siehe «Steigende Kurven» auf Seite 68) in Osteuropa; jetzt betreut er, «mit einer halben Sekretärin», die Handelskammer Schweiz–Mitteleuropa, den 1999 vollzogenen Zusammenschluss der bilateralen Handelskammern von Estland bis Mazedonien, die zuvor vor sich hinserbelten. In den meisten Hauptstädten vertreten Honorarkonsule oder Handelskammerleute die wirtschaftlichen Interessen der Eidgenossenschaft, «und niemand kümmert sich darum, wer bezahlt». Eine befriedigende Lösung gibt es nur in Prag, wo die Handelskammer für ihre Leistungen eine Abgeltung bekommt, und eine für die Kritiker schon verschwenderische in Polen: In diesem wichtigsten Markt, der mit 39 Millionen Menschen mehr als die Hälfte der neuen EU-Bürger zählt, richtete die vom Bund finanzierte Exportförderin Osec vor einem Jahr einen ihrer 13 Swiss Business Hubs ein.

Chancen bei Lebensmitteln und Umwelt

In der Schweizer Botschaft in Warschau, gleich neben der scharf bewachten Festung der Amerikaner, arbeitet seither der junge Diplomat Reto Renggli. «Ich bin selber überrascht über die Bilanz», sagt er nach einem Jahr vor Ort. 2003 bearbeitete er mit seinen zwei Mitarbeiterinnen rund 125 Kurzanfragen zu Zoll-, Rechts- oder Steuerfragen, im laufenden Jahr hat sich die Frequenz verdoppelt. Von sieben Unternehmen, für die der Hub Marktstudien erstellte, konkretisieren sich bei vier die Pläne. Auch eine Dienstleistungsfirma, die eigentlich nach Ungarn gehen wollte, zieht nun – ausgestattet mit Informationen zum Markt und mit Kontakten zu möglichen Geschäftspartnern – bald ins polnische Wroclaw. «Es ist nicht meine Aufgabe, Polen zu promoten, sondern Unternehmen in der ersten Phase der Markterschliessung zu beraten und zu unterstützen», betont Reto Renggli allerdings. «Es kann auch ein Erfolg sein, dass jemand nicht kommt.»

Viele Schweizer sähen, wenn sie von Polen hörten, nur den Bauern mit dem Ochsenkarren pflügen, weiss er: «Das andere Polen geht vergessen. Dabei gibt es nichts, was es hier nicht schon gibt.» Die chancenreichsten Geschäftsfelder, die Reto Renggli für Schweizer Unternehmen sieht und zu denen er auch bereits umfangreiche Marktberichte liefert, eröffnen sich aber eben doch, indem noch weitgehend von der Landwirtschaft geprägte und mit ihrer Infrastruktur hinterherhinkende Länder zur EU stossen: die Verarbeitung von Lebensmitteln einerseits, weil in den Molkereien, Mühlen und Schlachthöfen auf Grund der neuen Normen ein Investitionsschub ansteht, die Umwelttechnologie anderseits, weil Kläranlagen, Kehrichtverbrennung, Luftreinhaltung sowie die alternative Erzeugung von Energie in den kommenden Jahren Milliardenaufwendungen erfordern. Um diese Aufträge können sich auch Schweizer bewerben, denn die Schweiz hilft den polnischen Ecofund zu äufnen, der Umweltprojekte mitfinanziert.

Dagegen fällt für die Eidgenossen im Alleingang kaum etwas ab von den Mitteln, mit denen die EU seit letztem Jahr die neuen Länder auf den Beitritt vorbereitete und die sich Polen, Tschechen oder Ungarn für ihre Infrastrukturprojekte erhoffen. «Ein Unternehmen, das seine Wertschöpfung ausschliesslich in der Schweiz schafft, hat keine Chance», weiss Reto Renggli, «das muss man so sagen.»

Die Schweizer Unternehmen können also von der Erweiterung der Europäischen Union keinen Wachstumsschub erwarten, wie übrigens auch die Menschen in den neu beitretenden Ländern nicht. Die Positionen sind weitgehend bezogen; selbst einheimische Konzerne wie etwa Skoda in Tschechien verlagern auf Grund der gestiegenen Lohnkosten Arbeitsplätze auf den Balkan, und wagemutige Unternehmer, darunter auch Schweizer, suchen ihre Chancen bereits ausserhalb der Grenzen der zukünftigen EU. Ein Vorbild ist der Zürcher Urs Angst, der schon seit einem Jahrzehnt in Rumänien fünf Metzgereien samt eigener Schweinezucht betreibt.

Dennoch bleiben die beitretenden Ländern attraktiv, denn mit dem richtigen Produkt lassen sich immer noch Nischen finden. Die Aarauer Sicherheitsdruck-Spezialistin Trüb versorgt so mit einer Filiale in Tallinn die Esten mit Identitätskarten. Die Türenfabrik Brunegg beschafft nicht nur ihren Rohstoff in Polen, sondern verkauft auch ihre Produkte dorthin. Und die Schienenfahrzeugbauerin Stadler arbeitet mit einem Zulieferer in der Slowakei zusammen, was ihr einen Staatsauftrag eintrug. Zwar träumt niemand vom Boom auf Grund des EU-Beitritts, doch dürften einerseits die Märkte vor allem für Konsumgüter noch stark wachsen und anderseits die Lohnkosten angesichts einer hohen Produktivität vergleichsweise niedrig bleiben.

Auf das Wachstum der Märkte setzen die Konsumgüterhersteller, also aus der Schweiz natürlich Nestlé, die Nummer eins in Polen vor allem dank den verbreiteten Nescafé-Shops. Die Osteuropäer, die sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs für die Markenprodukte aus dem Westen begeisterten, ziehen inzwischen allerdings häufig nationale Erzeugnisse vor.

Maschinenbauer orten neue Märkte

Gute Geschäftsmöglichkeiten ergeben sich jedoch für die Schweizer Maschinenbauer, allen voran für Bühler aus Uzwil, die weltweit Produktionsanlagen für Mehl, Schokolade, Teigwaren oder Tierfutter baut. In Polen läuft noch eine Mühle, welche die Schweizer in den Dreissigerjahren einrichteten, weiss Jacek Kerber, der Bühler in Warschau vertritt. Das grösste Auftragsvolumen kam zwar 1992 bis 1996 zu Stande, als die Multis den polnischen Markt eroberten – Bühler indes erneuert weiterhin jährlich eine Mühle, und die EU-Erweiterung könnte nochmals einen Schub für die Anlagenbauerin bringen. «Viele lokale Kunden sind dabei, sich auf die Qualitätsstandards der EU vorzubereiten», weiss CEO Calvin Grieder. «Da kommen wir mit unserem Expertenwissen zum Zug.» Die Schweizer machen zwar nicht das günstigste Angebot, aber auch ihnen nützt der Fall der Grenzen, indem er zu Erleichterungen in der Logistik, bei der Zollabfertigung und bei den lokalen Bewilligungsverfahren führt. «Bei Problemen kann ein Techniker aus der Schweiz noch am gleichen Tag vor Ort sein», betont Jacek Kerber: «Es gibt aber mit unseren Anlagen kaum Probleme.»

Daniel Model glaubt ebenfalls noch an ein kräftiges Wachstum der Konsumgütermärkte im Osten. Vom tschechischen Opava aus lieferte Model erst auch über die Grenze nach Polen. 1996 baute das Unternehmen dann im Südosten des Landes ein Werk, um auf dieselbe Art die Ukraine zu erobern. Daraus wurde allerdings nichts: «Das Land ist eine Enttäuschung», sagt Daniel Model. In Polen aber bleibt er und strebt auch hier beim Marktanteil von der sechsten Stelle an die Spitze. Dafür erweitert Model ein vor zwei Jahren erworbenes Werk bei Warschau mit Schlaglöchern in der Zufahrtsstrasse und Discogeflacker bei Stromunterbrüchen. Das Unternehmen beschäftigt zahlreiche Behinderte: Sie schneiden Kartons und formen Schachteln, entlöhnt durch staatliche Zuschüsse. Eine Investition von 15 Millionen Euro soll die Kapazität vervierfachen, sodass das Werk weiterhin von Hand Kleinserien herstellen, aber auch mit modernsten Maschinen Grossaufträge übernehmen kann. «Polen wird uns noch fünf, vielleicht auch zehn Jahre beschäftigen», meint Daniel Model, «es ist der umkämpfteste Markt mit den tiefsten Preisen, aber das macht uns resistent wie Vitamintabletten bei Grippe.»

Der promovierte Ökonom freut sich sogar über die Inflation in den Ländern, wo er geschäftet: «Ich zahle gerne jedes Jahr mehr Lohn, dann braucht es dank der steigenden Kaufkraft auch mehr Schachteln.» Als Model 1992 einstieg, verbrauchten die Tschechen jährlich zehn Kilo Wellkarton pro Kopf; inzwischen hat sich der Wert bereits verdoppelt und wird wohl weiter auf das Schweizer Niveau von dreissig Kilo ansteigen. Noch rasanter schnellten die Löhne hoch. Anfangs zahlte Model einen Durchschnittslohn von 3600 Kronen (180 Franken). Die beiden Leiter des früheren Staatsbetriebs – «Kommunisten, wie sie im Buche standen» – feuerte er umgehend, weil sie Jahreslöhne von 150 000 Franken forderten. Heute beträgt der durchschnittliche Monatslohn 15 000 Kronen (750 Franken), Tendenz steigend. «Allein wegen der Lohnkosten», meint Daniel Model, «sollte niemand da hingehen.»

Gerade deswegen erzielten aber bisher einige Schweizer Unternehmen Erfolge. So auch die erste grössere Firma, die in den Osten zog: Vetropack kaufte sich bereits 1991 in Tschechien ein, erwarb weitere ehemalige Staatsbetriebe in Kroatien und in der Slowakei hinzu und löschte 2002 nach 111 Jahren die Glashütte in Bülach endgültig. Seither lagerten etliche Schweizer Maschinenbauer oder Textilhersteller ihre Produktion in diese Länder aus oder suchten zumindest günstigere Zulieferer. «Wir werden die Herstellung von Produkten, die nicht als Schlüsselmaschinen definiert sind, konsequent näher zu den zukünftigen Märkten hin verlagern», sagt auch CEO Calvin Grieder bei Bühler. Sein Unternehmen lasse bereits heute viele Teile in Osteuropa fertigen und suche weiter gute Zulieferfirmen. Fürchten die Gewerkschaften also zu Recht, dass auf Grund der Erweiterung der EU nicht nur billige Arbeitskräfte nach Westen drängen, sondern auch der Werkplatz in den Osten zieht?

Lohnniveau attraktiv – je nach Branche

«Der globale Wettbewerb um Arbeitsplätze findet statt», sagt Hans-Rudolf Widmer bei Rieter. «Wir führen diese Diskussion tagtäglich mit den Leuten vom Binnenmarkt – sie haben null Verständnis dafür.» Der ehemalige Finanzchef betreut noch die Werke des Winterthurer Konzerns in Osteuropa, vor allem in Tschechien. Da der Maschinenbau, vor allem für die Textilindustrie, zu den Schlüsselbranchen der auseinander brechenden Tschechoslowakei gehörte, konnte Rieter dort erst 1994 einsteigen, als das Konglomerat Elitex per Kabinettsbeschluss in fünf Unternehmen aufgeteilt und verkauft wurde. Das Werk im ostböhmischen Usti, in einer sanften Hügellandschaft mit Hainen von Apfelbäumen gelegen, sieht zumindest von aussen immer noch so aus wie vor zehn Jahren; nicht einmal ein Namenszug von Rieter prangt an der grauen Fassade des Verwaltungsgebäudes. «Wir treten bescheiden auf, nicht wie der reiche Erbonkel aus der Schweiz», betont Hans-Rudolf Widmer. «Wenn wir einmal wirklich Geld verdienen, machen wir die Fassaden, aber bis dahin investieren wir in die Anlagen und vor allem in die Leute.»

Diese arbeiten immer noch vergleichsweise günstig – weit weg von der Metropole Prag mit ihren westlichen Salären herrscht bei zehn Prozent Arbeitslosigkeit kaum Lohndruck. Bei moderaten drei bis fünf Prozent jährlicher Steigerung erkennt der Zahlenspezialist angesichts der markanten Tariferhöhungen, welche die Gewerkschaften in Deutschland durchsetzten: «Die Schere in der Lohnentwicklung schliesst sich nicht, sondern öffnet sich sogar wieder.» Dabei bringen die Werktätigen eine ausgezeichnete Ausbildung mit, und die Jüngeren arbeiten inzwischen auch in Teams just in time. Die Älteren lernten im früheren Staatsbetrieb, auf das Optimieren ihrer Privatzeit bedacht, einfach auf Planerfüllung zu achten: Bei der Übernahme des Werks warteten auf dem Parkplatz 130 fertige Maschinen in Kisten auf Abnehmer. Die Vorschriften hielten sogar fest, wer das Licht löschte, und die Lautsprecheraufrufe zu «freiwilligen» Einsätzen an jedem Wochenende verleideten den Werktätigen die Teamarbeit.

Inzwischen produzieren die tschechischen Unternehmen von Rieter dieselbe Qualität wie der ganze Konzern, das Autozulieferwerk zählt unter den weltweit 45 Standorten zu den besten. «Die Tschechen werden im Unternehmen sehr kritisch beäugt», weiss Hans-Rudolf Widmer: Die Leute in Winterthur oder im bayrischen Ingolstadt beklagen sich sofort, auch bei Verwaltungsräten, wenn die abgelieferte Qualität angeblich nicht genügt. Allerdings zeigte eine Nachprüfung bei einer Beanstandung: Nicht die tschechischen Komponenten stimmten nicht, sondern die deutschen Messmethoden. Angesichts von Löhnen, die ein Drittel bis ein Siebtel jener in der Schweiz betragen, erhält Rieter dieselbe Leistung in Tschechien also weit günstiger. Ist deshalb zu befürchten, dass die hoch qualifizierten Berufsleute in den Westen abwandern, sobald die Grenzen fallen? Hans-Rudolf Widmer erwartet es, wie die meisten Experten, nicht: «Die Leute sind sehr heimatverhaftet.»

Auch eine andere Beobachtung bei Rieter gilt für die meisten Unternehmen: Die Schweizer gehen nur widerwillig in den Osten, dabei liessen sich dort – wie gezeigt – noch Märkte erobern und Produktionsanlagen zu niedrigen Kosten betreiben. Einer der wenigen Pioniere, die gleich beides mit Erfolg machten, war Fredy Hiestand. Schon bevor sich der Eiserne Vorhang hob, hatte er 1989 in Warschau eine Bäckerei gekauft, von Anfang an Gipfeli ins «Marriott» als einziges Hotel mit westlichem Standard geliefert und mit den Baguettes in seinem Laden lange Schlangen angelockt. Damals kannte niemand in Polen tiefgekühlte Backwaren, heute setzt Hiestand damit 62 Millionen Zloty (rund 20 Millionen Franken) um.

Vor vier Jahren eröffnete das Unternehmen deshalb ein Werk dreissig Kilometer ausserhalb von Warschau in Grodzisk Mazowiecki, wo auch die Aromenproduktion von Firmenich und, gleich neben Hiestand, die Kartoffelchipsfabrik der amerikanischen Partnerin Frito-Lay stehen. Elzbieta Siatkowska fährt mit dem Journalisten die stark befahrene Strasse hinaus, vorbei an den Hoteltürmen von Accor, den Tankstellen von BP und den riesigen Malls von Carrefour, mit denen zusammen der Bäcker aus der Schweiz wuchs. Die junge Finanzfrau suchte vor sieben Jahren nach dem Studium Praxiserfahrung im Laden, wo ihre Mutter Brot verkaufte. «Ach, das arme Mädchen muss in einer Bäckerei arbeiten», meint die liebe Verwandtschaft deshalb noch heute: Das arme Mädchen führt, seit Urs Jordi nach seiner beispielhaften Aufbauarbeit als neuer COO des Konzerns in die Schweiz zurückgekehrt ist, die Geschäfte von Hiestand Polen als Präsidentin.

Ela, wie sie alle im Unternehmen rufen, scheut sich nicht, mit rot lackierten Fingernägeln in die Strudelfüllung hineinzugreifen oder am Band im Sekundentakt Brezeln zu schlingen. Aber sie lässt sich auch die Zahlen auf der Zunge zergehen: 60 000 Brezeln und 70 000 Brötchen stösst das auf die doppelte Kapazität ausbaubare Werk pro Acht-Stunden-Schicht aus – an sieben Tagen rund um die Uhr. 30 Prozent davon gehen in den Export. Und vom Mehl bis zu den Äpfeln kommen die Rohstoffe aus einheimischer, von Hiestand streng kontrollierter Produktion. «Die Rohmaterialien aus Polen sind zum Teil besser als jene aus Deutschland», betont Ela Siatowska: Mindestens ihr Unternehmen ist für den europäischen Markt bereit.

Nicht alle in den Ländern von Estland bis Ungarn können dem Fall der Grenzen so zuversichtlich entgegenblicken. Aber die Experten meinen unisono, die Schweizer sollten nicht nur die Chancen im europäischen Osten nutzen, sondern auch den Menschen in diesen jungen Staaten eine Chance geben. «Es ist positiv, dass sie ein nationales Selbstverständnis entwickeln können», sagt Hans-Rudolf Widmer, der sich, bisher nur als ausgebuffter Finanzer bekannt, als einfühlsamer Geschichtskenner erweist. Denn ob im k.k. Österreich-Ungarn oder im Kommunismus, unter den Reichsdeutschen oder den Sowjets – immer waren diese Menschen Untertanen ohne eigenen Staat. Polen, rechnet André von Graffenried als Schweizer Botschafter in Warschau vor, war in den letzten zwei Jahrhunderten ganze 35 Jahre lang unabhängig. Gerade als Schweizer, meint er, «sollten wir diesen Menschen nicht das Gefühl geben, sie seien in Europa nicht willkommen.»