In den Nachkriegsjahren werkelt in Kirchdorf an der Iller, einem kleinen Ort nahe der württembergisch-bayrischen Grenze, der Baumeister Hans Liebherr im elterlichen Geschäft. Der 34-Jährige ist ein Tüftler. Als er einen Turmkran benötigt, konstruiert er ihn gleich selbst. 1949 wird aus dem Bauunternehmer ein Baumaschinenproduzent – und zwar ein erfolgreicher. Und da Hans Liebherr nicht nur ein pfiffiger Unternehmer ist, sondern sich mit fünf Kindern auch durch ein gerüttelt Mass an Fruchtbarkeit hervortut, bereitet er frühzeitig den Generationenwechsel vor. Ihm ist eines klar: Die Firma muss Familienbesitz bleiben. In Deutschland ein teures Unterfangen, denn der Fiskus macht mit allem anderen als einer erbenfreundlichen Steuerpolitik von sich reden.

So zieht der Ehrensenator, Ehrenbürger und mehrfache Ehrendoktor 1983 kurzerhand mit Familie, Vermögen und Topmanagement in die Schweiz, ins Freiburger Städtchen Bulle. In zweiter Generation dirigieren heute aus dem Herzen des Greyerzerlandes heraus die Geschwister Willi und Isolde Liebherr einen Weltkonzern, der mit Baumaschinen, Kühl- und Gefriergeräten sowie anderen Produkten einen Umsatz von 6,3 Milliarden Franken erzielt und über 20 000 Personen beschäftigt.

Liebherr-International - Finanzstark

Weshalb nimmt ein kühler Rechner wie Hans Liebherr die Mühsal des Auszugs auf sich, verlässt Heimat und Freunde, lässt sich vom deutschen Steuervogt mit einer so genannten Wegzugssteuer von 80 Millionen Mark piesacken – nur um sein Unternehmen vererben zu können? Liebherr ist beileibe keine Ausnahme. In der Schweiz haben viele grosse Familienunternehmen von Weltruf ihren Hauptsitz. Alleine die 20 führenden Privatfirmen kommen zusammen auf einen Umsatz von 134 884 Millionen Franken und beschäftigen 171 617 Personen.

Zwar ist dabei die Aussagekraft des Umsatzes mit Vorsicht zu geniessen, denn wer sich wie Glencore oder Onyx Oil mit dem Handel von Rohstoffen befasst, kommt mit wenig Personal auf Riesenumsätze. «Der Umsatz sagt in unserer Branche nicht viel aus», bestätigt Konrad Müller, Verwaltungsrat, Geschäftsführer und Mehrheitsaktionär der 1991 in Baar gegründeten Onyx Oil. Dennoch ist die Leistung beachtlich: Im vergangenen Jahr erwirtschaftete jeder der 49 Angestellten mit Öltrading einen Umsatz von 103 Millionen Franken.

Die Aufstellung der grössten Privatfirmen jedenfalls zeigt, dass es hier zu Lande immer noch mächtige Unternehmen gibt, die dem Lockruf des schnellen Börsengelds zu widerstehen wissen. Dabei gilt doch der Familienbetrieb bei Betriebsökonomen und neuzeitlichen Managern als unternehmerisches Auslaufmodell. Firmenführung und Aufsicht rekrutiert man mit Vorliebe aus der Verwandtschaft, die Organisationsstrukturen sind handgestrickt, von Corporate Governance keine Spur. Mit anderen Worten: Familienunternehmen gelten als altbacken, reizlos, bestenfalls zu Durchschnittsleistungen fähig.

«Das sind Klischees, die sich in den Managerköpfen von börsenkotierten Unternehmen eingenistet haben», winkt Joachim Schwass, Professor am Lausanner International Institute for Management Development (IMD) mit Spezialgebiet Family-Business, ab. «Gerade das vergangene Jahr hat gezeigt, dass Familienfirmen sich oft durch einen stabileren Geschäftsverlauf auszeichnen als Publikumsgesellschaften.» Während ein grosser Teil der börsenkotierten Unternehmen für das fraglos schwierige Geschäftsjahr 2001 böse Gewinneinbrüche melden oder gar kolossale Verluste schreiben, hat sich das Gros der privaten Gesellschaften gut geschlagen.

Die auch über lange Perioden zu beobachtende Stabilität der Privaten ist primär eine Folge des wohl gewichtigsten Vorteils, den diese gegenüber Publikumsgesellschaften auszuspielen wissen: «Wir können weitaus längerfristiger planen und investieren», bringt es Michael Pieper, CEO und Mehrheitsaktionär der Aarburger Franke-Gruppe, auf den Punkt.

Franke - Heiss auf die Eins

Während mancher Topmanager, den Blick auf den Aktienkurs seines Unternehmens gerichtet, von Quartalsausweis zu Quartalsausweis hechelt, können Privatfirmen auch mal in Projekte investieren, die erst nach vielen Jahren Geld abwerfen.

Ein Beispiel liefert die Wicor Holding.

Wicor - Nie bereut

Seit langem arbeiten die Rapperswiler mit der ukrainischen Malin Paper zusammen, zu Zeiten der alten Sowjetunion das Starkonglomerat für Spezialpapier. Vor zwei Jahren über- nahmen die Schweizer die Aktienmehrheit. Eines der Probleme beschreibt Franziska Tschudi, die in vierter Generation die im Familienbesitz stehende Wicor lenkt: «Wie in den alten Zeiten stehen 1800 Namen auf der Lohnliste. Doch wir können lange nicht alle beschäftigen.» Wann das Papierkonglomerat wieder auf Vordermann gebracht werden kann, ist völlig offen. Ein zwar viel versprechendes, aber auch risikoreiches Investment, von dem Publikumsgesellschaften wohl die Finger lassen würden.

Einen massiven Mentalitätsunterschied beim Ertragsdenken ortet Jean-Pierre Jeannet, der am IMD in Lausanne halbjährlich einen Lehrstuhl für Global Strategy and Marketing hält. Kotierte Gesellschaften richteten ihr Wirken stark nach der Höhe des Gewinns pro Aktie aus; letztlich würden sie ja von Investoren und Analysten an der Entwicklung des Börsenkurses gemessen, und dieser wiederum werde hauptsächlich beeinflusst vom Kurs-Gewinn-Verhältnis. «Familienfirmen dagegen sind in erster Linie Cashflow-orientiert», so Jeannet.

Was nach Begriffsklauberei tönt, kann böse Folgen haben. Christoph Blocher, VR-Präsident, CEO und Mehrheitsaktionär der Ems-Chemie sowie Verfechter traditionellen unternehmerischen Denkens, beschreibt den Effekt: «Manager von Publikumsfirmen stehen unter Druck, schnell höhere Gewinne zu erwirtschaften. Also machen sie grosse Akquisitionen. Das bringt dem Unternehmen zwar ein kräftiges Wachstum und höhere Erträge. Doch gleichzeitig steigt die Fremdfinanzierung, die Bilanz verschlechtert sich.» Aktuelle Beispiele gibt es viele: ABB, Zurich Financial Services, Rentenanstalt. Und wenn sich der Ertragszufluss ausdünne, sei die Versuchung gross, «die Gewinne über die Bücher zu machen. Das einzig Kreative bei manchem Konzern ist noch die Buchhaltung», hält Blocher mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg.

Bei Familienunternehmen dagegen ist der Cashflow das Mass vieler Dinge. «Wir müssen unser Geld zuerst verdienen, bevor wir es ausgeben können. Da überlegt man es sich zweimal, ob eine Investition wirklich notwendig ist», erläutert Adrian Th. Keller, Vizepräsident bei Diethelm Keller.

Diethelm Keller - Vierte Generation

Den Leitsatz, «nur im Bereich der Cashflow-Entwicklung zu wachsen» (Jean-Pierre Jeannet), haben sich die meisten Privatunternehmen auf ihre Fahne geschrieben. Diese Praxis trägt der Firma zwar ein gemächlicheres Expansionstempo ein, hält dafür aber die Finanzen fit.

Exakt entgegengesetzt ist das Trachten beim Eigenkapital. Die Börsenkotierten haben sich einer möglichst hohen Eigenkapitalrendite verschrieben. Diese lässt sich über Ertragsfortschritte in die Höhe schrauben. Bleiben die Gewinne aus, greift der heutige Manager flott zur Hammermethode: Er baut einfach Eigenkapital ab. Der Familienunternehmer dagegen strebt ein hohes Eigenkapital an. Denn eine starke Eigenkapitalquote ist seine Visitenkarte, die finanzielles Wohlbefinden signalisiert. Bei Liebherr-International beispielsweise entsprechen die Eigenmittel rund 50 Prozent der Bilanzsumme, Franke kommt auf 52 Prozent. Bei der ABB dagegen ist die Eigenkapitalquote auf hauchdünne 6,2 Prozent zusammengeschmolzen.

In den letzten Monaten machten etliche Manager weniger durch Leistungen als vielmehr durch Gier von sich reden. In Familienunternehmen könnten sich die Kader noch ungehemmter bedienen: Schliesslich besteht bei ihnen kein öffentlicher Druck, Gehälter offen zu legen. Allerdings zeigen sich die von BILANZ besuchten Firmen in der Lohnpolitik eher knauserig – letztlich müssen die Familienunternehmer ja ihr Gehalt aus der eigenen Tasche begleichen. Franziska Tschudi von der Wicor Holding: «Wir bezahlen uns selbst keine Traumsaläre. Wenn ich viel Geld hätte verdienen wollen, wäre ich besser Anwältin geblieben.»

Im gleichen Kapitel stehen die Gewinnausschüttungen. Bei Publikumsgesellschaften, so wird immer wieder angeführt, spiele die Dividendenhöhe keine wichtige Rolle mehr; auch dem Aktionär sei daran gelegen, dass Erträge zurückgehalten und reinvestiert würden. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Viele Unternehmen führen ein Drittel bis zur Hälfte ihres Gewinns an ihre Anteilseigner ab. Im vergangenen Jahr zahlten die börsenkotierten Schweizer Gesellschaften laut einer Studie von Vontobel Equity Research 17,8 Milliarden Franken an Dividenden aus. Nicht selten müssen diese Abflüsse wieder teuer über den Kapitalmarkt refinanziert werden.

Bei den Familienaktionären dreht es sich auch in diesem Fall um die eigene Geldbörse. «Ich nehme gerade so viel an Dividende aus dem Unternehmen heraus, wie ich brauche, um die Steuern auf meinen Aktien bezahlen zu können», sagt Franke-CEO Michael Pieper. Auch bei Diethelm Keller, Wicor und Liebherr wollen die Aktionäre vom Gewinn so viel wie möglich im Unternehmen belassen. So sammeln sich über die Jahre erkleckliche Summen an, die quasi zum Nulltarif erneut eingesetzt werden können. Diethelm Keller beispielsweise vermochte mit den zurückbehaltenen Erträgen einst die Diethelms auszukaufen. Bei Liebherr sind die Kassen proppenvoll; per Ende 2000 stellten sich die flüssigen Mittel und Wertpapiere auf 1,4 Milliarden Franken. Dennoch hat die Liebherr-Sippe nicht zu darben. Jedenfalls bleibt genügend Flüssiges fürs kostspielige Familienhobby: den Kauf von Klassepferden für bis zu zwei Millionen Franken – pro Ross! – und ihre kostenlose Ausleihe an Schweizer Spitzenreiter.

Dem Familienkapitalismus sind aber auch Grenzen gesetzt. Eng wird es vor allem da, wo die nächste Generation «wenig Lust auf Erneuerung zeigt», so Joachim Schwass. Als heikel bezeichnet der IMD-Professor die Situation, «wenn zwei Generationen im Unternehmen aktiv sind oder die alte Garde ihre Führung zwar abgegeben hat, aus dem Hintergrund aber immer noch die Fäden zieht». Gesellen sich Marktturbulenzen oder Finanzprobleme hinzu, kommt es schnell zur Katastrophe. Wie beim ehemals mächtigen Lausanner Handelshaus André. In der vierten Generation schlich sich Zwist ein, gekoppelt mit schweren Spekulationsverlusten im Sojahandel und weiteren Einbussen. Das Aus für das Unternehmen kam vor einem Jahr.

Von solchen Abstürzen abgesehen, ist das Modell der Familienfirma absolut zeitgemäss. Dafür spricht schliesslich auch, dass der Börsengang bei kaum einem Privatunternehmen ein Gesprächsthema ist. «Die Beteiligung, die meine Brüder und ich übernommen haben, halten wir treuhänderisch. Eines Tages wollen wir die Aktien der nächsten Generation weitergeben», erläutert die Wicor-Chefin Franziska Tschudi den fehlenden Drang, Kasse zu machen. Gleich denkt die Familie Liebherr, wo angesichts von neun Kindern kein Mangel an frischen Familienmanagern herrscht.

Die Form der Familiengesellschaft scheint überhaupt wieder derart an Attraktivität gewonnen zu haben, dass sich manch gestandener Konzern am liebsten von der Börse verabschieden würde. «Ein Going-private wäre vielleicht wünschbar, doch wir haben das dazu nötige Geld nicht», meint Alfred N. Schindler, VR-Präsident des gleichnamigen Herstellers von Aufzügen und Rolltreppen; die Familien Schindler und Bonnard kontrollieren bereits ein Drittel des Kapitals und 62 Prozent der Stimmen.

Auch Swatch-Chef Nicolas G. Hayek, der 32 Prozent der Aktienstimmen sein Eigen nennt, würde lieber heute als morgen die Firma privatisieren.

(Interview mit Nicolas G. Hayek, «Die Falschen am Steuer»).

So auch Christoph Blocher: «Am liebsten wäre mir ein Going-private», sagt der Milliardär, der zwei Drittel des Kapitals und gut vier Fünftel der Stimmen an der Ems-Chemie besitzt. Für die dazu benötigte Summe von gut einer Milliarde Franken wäre der Milliardär zwar kreditwürdig. Von einer Fremdfinanzierung aber will Blocher, der unverändert «wie ein echter Familienunternehmer denkt», also vorsichtig, nichts wissen. Denkbar ist für den Ems-Chef dagegen ein Going-private mit Hilfe eines wohlsituierten Partners.

Geht es nach den Vorstellungen von Jean-Pierre Jeannet, wird bald einmal exakt an solch finanzkräftigen Partnern kein Mangel mehr herrschen. Denn der Professor weiss laut eigenem Bekunden von Investorenkreisen – Namen könne er keine nennen –, die dieser Tage Kapital poolten, um damit unterbewertete oder schlecht gemanagte Unternehmen mit kotierten Aktien zu privatisieren. Danach würden die Gesellschaften auf Vordermann und erneut an die Börsen gebracht oder in Einzelteilen weiterverkauft. Allerdings sei das nur bei Gesellschaften mit einer Börsenkapitalisierung von unter einer Milliarde Franken zu bewerkstelligen.

Jean-Pierre Jeannet prognostiziert «ein Jahrzehnt der Going-privates» und sieht darin einen gewichtigen Vorteil: «Private Unternehmen kann man effizienter – da widerstandsloser – reorganisieren, als wenn zigtausend Aktionäre mitreden wollen.»

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