Er war 16 Jahre alt. Wochenlang hatte er auf Mittagessen, Tramfahren und sonstiges Verputzen des Sackgeldes verzichtet und so 400 Franken gespart. 400 Franken für eine Hose, eine Masshose. Reto Roffler wusste genau, wie sie aussehen musste: tiefer Bund, tiefe Bundfalte und schmales Bein. Doch das, was beim Schneider im Regal hing, konnte, wie er sich erinnert, «unmöglich meine Hose sein». Falsche Falte, falscher Bund, falsche Beinweite. Er wollte sie geändert haben, begehrte auf. Doch der Kleidermacher liess ihn abblitzen: «Ich bin vierzig Jahre im Beruf und weiss, wie eine Hose auszusehen hat.» Sie wurde ein einziges Mal getragen, danach hat sie der damalige Schüler verschenkt.

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Das ist über dreissig Jahre her, aber noch präsent wie gestern. Reto Roffler, heute Besitzer der Massschneiderei Reto’s in Zürich, weiss seither eines ganz genau: «Bei mir gibt es kein ‹Es geht nicht!›.» 1986 hat er sein eigenes Schneideratelier eröffnet und bietet seither «bespoke tailoring» an. Das ist der englische Fachausdruck für Feinmass und bedeutet so viel wie «auf Bestellung». In nur drei Jahren hat sich der detail- und qualitätsbesessene Roffler einen Namen gemacht. Heute werden Anzüge von Reto’s in ganz Europa getragen.

Damit ist der Zürcher in den illustren Kreis eines immer kleiner werdenden Gewerbes hineingekommen. In Zeiten, in denen im Modebusiness das grosse Geschäft bei H&M, C&A und Mango gemacht wird, sind Massschneider zu Exoten geworden, ihre Kunden zu Liebhabern. Nur einer von 10 000 Männern, erklärte der Chef des bekannten italienischen Herrenausstatters Brioni, Umberto Angeloni, kürzlich in einem Interview, leiste sich den Luxus eines Bespoke-Anzuges. Tendenz fallend. «Mein Grossvater», sagt Angus Cundey, Besitzer in sechster Generation der Londoner Massschneiderei Henry Poole, «produzierte 12 000 Anzüge im Jahr. Heute sind es noch 1600.» Die Namen der in Europa relevanten Schneidereien sind in der breiten Öffentlichkeit wenig bekannt. Wer kennt schon Caraceni in Mailand, Gieves & Hawkes in London, Smalto in Paris, Knize in Wien, Reto’s in Zürich oder Max Dietl in München?

Der Letztgenannte findet sich in der Bayernhauptstadt an nobelster Lage, in der Residenzstrasse gegenüber der Oper. Stuckdecken, helle Teppichböden und goldumrahmte Spiegel dominieren das Ambiente der Verkaufsräume über drei Stockwerke. Eigentümer Max Dietl, der die Geschäfte von seinem Vater übernommen hat, empfängt formvollendet: eine klassisch-elegante Erscheinung in dunkelblauem Nadelstreifenanzug mit hellblauem Hemd und einer IWC-Fliegeruhr am Handgelenk. Der Betriebswirt, der zuvor eine Banklehre absolviert hat, managt die Geschäfte und ist das lebende Aushängeschild des Hauses, das Herren- und Damenmode im obersten Segment verkauft.

Doch das eigentliche Herz des Familienbetriebes schlägt im dritten Stock hinter einer unscheinbaren Tür: Dahinter liegt das Schneideratelier. 25 Angestellte realisieren dort an Nähmaschinen und Zuschneidetischen die Wünsche der anspruchsvollen Kundschaft. Beispielsweise Giuseppe Costantino. Der Italiener arbeitet seit vielen Jahren im Münchner Bekleidungshaus, ein Meister seines Fachs und mit «einem Fünfsternekoch» vergleichbar, wie Dietl sich ausdrückt. Perfekt ausgebildete Schneider sind inzwischen so rar, talentierte Lehrlinge so selten, dass sie via Insidertipps gehandelt werden. Und entsprechend gut bezahlt werden.

Ein versierter Schneider muss mehr können als Massnehmen und Nähen. Er braucht auch Fingerspitzengefühl für die Eitelkeiten und Eigenheiten seiner Käufer. Nur so und durch geschicktes Erfragen ihrer Lebensart kann er herausfinden, wo ihre Bedürfnisse liegen. Schliesslich formt die entspannte, intime Atmosphäre, die während der Interaktion zwischen dem Schneider und dem Kunden entsteht, die Kontur und Beschaffenheit des Anzuges, noch bevor er fertig ist.

Kein Wunder, ist für die Liebhaber des Massanzuges der Gang zum Schneider mehr als nur ein Einkauf. «Meine Kunden», sagt Roffler im behaglich schummrigen Verkaufsraum im Zürcher Kreis 1, «kommen gerne her und unterhalten sich mit mir stundenlang über alles Mögliche, nur nicht über Kleidung.» Sie schätzen die Anonymität des Verkaufsraumes, der von aussen nicht einsehbar ist. Hier wird ausgesucht, ausgemessen, verhandelt. Denn schon der Entstehungsprozess eines Feinmass-Anzuges ist das Zelebrieren von Lifestyle auf höchstem Niveau.

Das fängt bei der Stoffauswahl an. Bei Reto’s können regalweise Musterbücher konsultiert werden, bei Dietl liegen auch Stoffballen auf. Feinstes Tuch, etwa von Herstellern aus Italien wie Loro Piana oder von Drapers, Tweed von W. Bill und englische Wollstoffe von Holland and Sherry oder Smith & Co.

 
Der Feinmass-Anzug
Was der Kennerblick sieht



1. Der Veston weist einen faltenfreien Sitz auf.


2. Die Schulterpartien sind organisch geformt.


3. Der Kragen schliesst am Hals an.


4. Die Rückenpartie liegt glatt am Körper.


5. Alle Knopflöcher sind von Hand genäht.


6. Die Knopflöcher am Ärmel lassen sich aufknöpfen.


7. Das Revers zeigt, wenn man es umdreht, auf der Innenseite kleine Einstiche. Das ist ein Zeichen für Handarbeit, die Rosshaareinlage wird so festgenäht (piquiert).


8. Die Nähte sind meist umgelegt und von Hand durchstochen (gekappt).


9. Die Ärmellänge sollte in einem akkuraten Verhältnis zum Hemdärmel sein. Die Manschette sollte gut sichtbar sein.


10. Der Veston hat eine korrekte Länge, er schliesst auf der Höhe des Daumens ab, wenn man die Arme hängen lässt.

Ist der Stoff ausgesucht, beginnt das eigentliche Prozedere. Der Schneider nimmt Mass und fertigt dann nach den Wünschen und Vorstellungen des Kunden ein individuelles Schnittmuster an. Bei Henry Poole in London liegen 6000 solcher Schnittmuster in den Schubladen, die bei Bedarf für die einzelnen Kunden wieder herausgezogen werden können. Erst danach entsteht aus einem eindimensionalen Stoff eine dreidimensionale Skulptur, angefertigt auf einer Schneiderpuppe und bestehend aus Futterstoff, diversen Einlagen wie Filz und Rosshaar sowie dem ausgesuchten Tuch.

Drei Anproben und rund 45 Nähstunden später ist der Veston fertig, etwa 60 Stunden braucht es für einen kompletten Anzug mit Hose. Jedes Knopfloch, das Innenfutter, sogar die Einlage am Revers wird von Hand genäht, piquieren nennt man das. Ein Revers von hinten betrachtet, das winzige Einstiche aufweist, ist untrügliches Zeichen für Bespoke Tailoring. Neben anderen Details natürlich, ein Profi wie Max Dietl siehts auf Anhieb, «an der perfekten Schulterlinie». Ein Massanzug schlägt keine Falten am Rücken, er passt auf den Zentimeter genau.

Die Stile der einzelnen Anbieter variieren nach Ländern. Ein Bespoke-Anzug ist mit Vorteil zwar klassisch, nicht aber zwingend konservativ geschnitten. Auch die Schneider haben die Möglichkeit, modische Themen aufzunehmen. Italiener schneiden traditionell schmaler, Engländer wie beispielsweise Gieves & Hawkes in London, die neben Henry Poole, Anderson & Sheppard oder Huntsman die berühmtesten Schneider an der Savile Row sind, bevorzugen einen «sanduhrförmigen Schnitt», bei dem die Rockschösse weich und lang über die Hüften fallen, wie bei Uniformjacken. Roffler hat im Laufe der Jahre einen Schnitt entwickelt, «der ein bisschen von allem hat». Erfahrungswerte eben.

Feinmass-Anzüge höchster Qualität kommen traditionell aus Mitteleuropa, aus Italien, England, Deutschland, der Schweiz oder Frankreich, nicht aus den USA und schon gar nicht aus dem Fernen Osten. Weil das in den entsprechenden Kreisen bekannt ist, pilgern Connaisseurs aus der ganzen Welt in die europäischen Modezentren, um sich bei ihrem Schneider einkleiden zu lassen. Oder aber sie profitieren vom Flying Service der Anbieter. Henry Poole etwa entsendet mehrmals pro Jahr seine Schneider nach New York, Tokio oder Deutschland, wirtschaftlich wichtige Märkte für das Traditionsunternehmen. «Wir haben in den letzten zwanzig Jahren deswegen überlebt, weil unsere Kunden aus der ganzen Welt kommen», sagt Angus Cundey.

Konkurrenz bekommen haben die Feinmass-Schneider nicht nur durch die Konfektion ab Stange, sondern auch durch die so genannte Masskonfektion, wie sie von Brioni, Kiton und Attolini angeboten wird. Diese Anzüge sind nicht nur qualitativ oberste Liga, sie kommen auch in ihrer Verarbeitung nahe an die Bespoke-Qualität heran. Ben Weinberg von Weinberg in Zürich, weltweit einer der grössten Vertreter von Brioni, beschreibt die Vorteile der Masskonfektion folgendermassen: «Die Anzüge werden individuell angepasst, fast alles entsteht in Handarbeit, auch die Knopflöcher, nur hat der Kunde am Ende den Vorteil, dass er den Anzug schon fertig vor sich liegen hat, wenn er ihn aussucht.»

Tatsächlich wird die Masskonfektion nachträglich dem künftigen Besitzer angepasst, Ärmel werden verlängert, Knopflöcher von Hand genäht, Nähte versetzt. Die Brioni-Anzüge kommen aus einer Fabrik im abruzzischen Bergdörfchen Penne, wo bis zu 900 Angestellte die hochwertigen Teile zusammennähen. Noch 18 Stunden brauchen sie, um einen Anzug fertig zu stellen. Seit gut einem Jahr bietet das Haus darüber hinaus in Mailand auch Bespoke-Anzüge an. Ein marketingtechnischer Zug, um die Exklusivität der Marke zu unterstreichen.
Wie aber setzt sich die verschworene Gemeinde von Männern zusammen, die weder Zeit noch Aufwand scheut, einen Massanzug anfertigen zu lassen? «Unsere Kunden kommen aus der ganzen Welt», meint Angus Cundey von Henry Poole, es sind Banker, Broker, Anwälte aber auch die alten englischen Aristokraten, die nach wie vor Bespoke tragen.

Selbstverständlich arbeitet das traditionelle englische Haus auch für den Königshof, «wir liefern Uniformen für die Bediensteten». Reto Rofflers Kunden, «meistens Geschäftsleute», kommen ebenfalls aus ganz Europa, altersmässig sind sie inhomogen, «es gibt 25-Jährige, die bereits Massanzüge tragen, aber das Gros ist zwischen 45 und 65».

Das war früher anders. Bevor die Konfektionsware ihren Siegeszug rund um den Globus antrat, gab es für den Herrn von Welt keine andere Möglichkeit, als sich beim Schneider individuell einkleiden zu lassen. Und weil die Konfektionsanzüge noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg meist schlecht sassen, war der Massanzug bis in die Siebzigerjahre hinein ein Must. Bei Dietl senior gab sich in den Fünfzigerjahren die Crème de la Crème des deutschen Filmbusiness wie Curd Jürgens, Heinz Rühmann oder Johannes Heesters die Klinke in die Hand. Selbstverständlich kamen die Kunden auch aus dem Ausland, wie die signierten Fotos an der Wand zeigen: Luciano Pavarotti, Billy Wilder und in jüngster Zeit auch Michael Douglas.

Der zeitgenössische Kunde jedoch liebt es diskret. Zwar ist bekannt, dass sich amerikanische Filmstars wie Jack Nicholson oder der spanische König bei Caraceni in Mailand einkleiden lassen, doch im Allgemeinen trägt der Kenner Mass und schweigt. In Zeiten, in denen offen zur Schau getragener Luxus als verpönt gilt, hält man sich mit Geständnissen bezüglich aufwändiger Bekleidung lieber zurück. Schliesslich kosten Feinmass-Anzüge von Reto’s in Zürich ab 3500 Franken, bei Dietl ab 3600 Euro, Bespokes von Henry Poole ab 4000 Pfund, Brioni verlangt für seine Bespokes 4000 Euro. Kunden, die das Dietl-Schildchen «rechts und links ins Sakko eingenäht haben wollen», sind laut Max Dietl «eher die Ausnahme».

Und dann gibt es natürlich auch jene Menschen, die nur Mass tragen können, solche mit «orthopädischen Problemen». Ein guter Schnitt lässt Hühnerbrust und füllige Taille verschwinden, relativiert zu schmale und zu breite Schultern, lässt den Mann grösser oder kleiner erscheinen. «Ein Schneider kann zwar nicht hexen», sagt Cundey, aber «er kann vieles kaschieren.» Roffler jedenfalls, der Quereinsteiger in der Szene, scheint mit seinem Angebot ein Bedürfnis geweckt zu haben. Denn wer einmal einen Bespoke-Anzug getragen hat, so hat er festgestellt, «will nie wieder darauf verzichten».