BILANZ: Herr Hummler, Sie bezeichneten Steuerhinterziehung einst als einen Akt der Notwehr gegenüber einem gefrässigen Staat. Eine Fehleinschätzung?

Konrad Hummler: Wir erkannten nicht, dass die moderne Technologie einen unglaublichen Schub in Richtung Transparenz möglich gemacht hat und heute fast globale fiskalische Nachforschungsübungen zulässt. Und wir überschätzten die Wirksamkeit der Schweizer Territorialität.

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Warum das? Waren die Banker nicht technologieaffin genug?

Hummler: Wir waren zu stark in unserem Wunschdenken verhaftet, unsere Sicht auf das Bankgeheimnis war zu idealistisch. Wir dachten, es sei aus Granit.

Da haben Sie also eindeutig einen Denkfehler begangen?

Hummler: Ja, das muss ich zugeben. Allerdings: Noch schlimmer ist, wenn man überhaupt nicht denkt.

Rolf Dobelli: Da muss ich widersprechen: Manchmal ist es besser, gar nicht zu denken und dem Bauchgefühl zu vertrauen. Die Grossbanken stützten sich vor der Finanzkrise bei ihrem Risikomanagement auf hochkomplizierte Modelle, die Tausende von gut ausgebildeten Spezialisten konstruiert hatten. Diese Leute hätten besser nichts gedacht und wären an den Strand gegangen.

Sind Denkfehler in der Wirtschaft besonders verbreitet?

Dobelli: Sie sind überall verbreitet, wo wir uns in einem System bewegen, das nicht mehr jenem der Jäger und Sammler entspricht. Wir dürfen nie vergessen: Wir sind Jäger und Sammler in Hugo-Boss-Anzügen. Wir sind für eine Welt gemacht, die vor 10 000 Jahren existierte, hier im Raum Schweiz sind wir bis vor 8000 Jahren als Jäger und Sammler unterwegs gewesen. Darauf ist unser Hirn programmiert, und sobald man es in ein komplexes System steckt, wie es die Finanzmärkte sind, macht es systematisch Fehler.

Der Mensch ist doch eine evolutionäre Erfolgsgeschichte. Warum passt er sich nicht an?

Dobelli: Der Wandel ist zu schnell. Unser Hirn befindet sich auf dem Stand von vor 500 000 Jahren. Die letzten 8000 Jahre der Zivilisation mit der Entstehung von Dörfern, Städten und Finanzmärkten sind so kurz, dass sich unser Hirn nicht anpassen konnte.

Sind Sie auch daran gescheitert, sich mit Ihrem Hirn den Finanzmärkten anzupassen, Herr Hummler?

Hummler: Man versucht das immer wieder und ertappt sich, dass man die gleichen Fehler wiederholt. Bei den Jägern und Sammlern sind alle aus Angst vor dem Mammut in eine Richtung gerannt, das war rational. Das ist heute auch bei den Finanzmärkten so. Dann kommt es zu diesen Übertreibungen, diesen Blasenbildungen. Der für mich begnadetste Ökonom, Mordecai Kurz, hat dafür den Ausdruck «rational beliefs» geprägt. Interessant ist: Wenn ich diese Defekte erkenne, wie verhalte ich mich, damit ich ein kleines Geschäft mache?

Die Finanzkrise hat auch das Nichtwissen der Mächtigen und Klugen offenbart. Wessen Urteil kann man überhaupt trauen?

Dobelli: Man kann sich nur selbst vertrauen. Im Gegensatz zur Steinzeit ist heute unabhängiges Denken angesagt – egal, was die anderen tun oder Autoritäten predigen.

Hummler: Die Frage müsste eher lauten: Wem kann man nicht trauen? Das sind all jene, die Eigeninteressen verfolgen. Und das sind sehr viele in der aktuellen Schuldenkrise: die Politiker, die wiedergewählt werden wollen, die Notenbanker, die sich als Retter profilieren wollen, die Grossbanken, welche die Geldflut der Notenbanken für die eigene Profitmaximierung nutzen. Das alles stimmt mich pessimistisch.

Welchen Prognosen lässt sich trauen?

Dobelli: Keinen. Es gibt etwa eine Million ausgebildete Ökonomen auf diesem Planeten, und von ihnen hat keiner die Finanzkrise vorhergesehen. Auch hat kein Historiker oder Politikexperte den Zerfall der Sowjetunion vorhergesagt. Es gibt eine wunderbare Studie des amerikanischen Professors Philip Tetlock. Er untersuchte 28 000 Prognosen von Experten. Sein Fazit: Würfeln hätte das gleiche Resultat gebracht.

Bei der Bank Wegelin gab es auch zahlreiche Mitarbeiter, die mit Prognosen arbeiteten.

Hummler: Wir nahmen nie für uns in Anspruch, Prognosen abzugeben. Ich habe das in meinem Anlagekommentar auch immer vermieden.

Was haben Sie denn sonst gemacht?

Hummler: Ich habe versucht, Geschichten zu schreiben. Ich sagte mir: Ich nehme als Ausgangspunkt eine grauenvolle Geschichte, in der ich gerade noch überleben kann. Und von dort entwickle ich dann etwas positivere Geschichten.

Aber Unternehmen müssen doch planen und Budgets erstellen.

Dobelli: Ich war Mitgründer und lange Chairman des Buchzusamenfassungsdienstes GetAbstract. Da machten wir schon für ein Jahr ein Budget, aber alles darüber hinaus war für uns verschwendete Lebenszeit. Wichtig ist: schauen, dass wir agil bleiben, dass wir wie ein Virus mutieren können. Es geht bei der Unternehmensführung vor allem darum, interne Resilienz zu haben, um auf externe Schocks zu reagieren.

Ein sehr verbreiteter Denkfehler ist der «authority bias»: der Glaube an Autoritäten. Wenn zum Beispiel Fed-Chef Alan Greenspan etwas sagte, galt das vielen Börsianern fast als Gotteswort.

Dobelli: In der Präsenz einer Autorität tendieren wir dazu, unseren gesunden Menschenverstand herabzusetzen. Wir sind ja immer in der Präsenz von Autoritäten. In der Jugend hatten wir Rockstars, im Mittelalter Bischöfe und Päpste, heute sind es die Notenbankpräsidenten. Es gibt immer eine neue Autoritätsmode.

Woran erkennt man übersteigerten Autoritätsglauben?

Hummler: An der Wortwahl. Immer wenn es pseudoreligiös wird, bedeutet das, dass die Bevölkerung verunsichert ist, und die Autoritäten greifen zu Emotionen. «Euro-Rettung», «Rettungsmechanismus»: Das ist messianische Sprache, es wird so getan, als gäbe es ein Wundermittel, das uns rettet. Ja meine Güte: Irgendjemand muss zahlen.

Wie wichtig ist der tägliche Nachrichtenfluss?

Dobelli: News machen krank, sie bilden eine falsche Risikokarte im Kopf ab. Man muss die versteckten Generatoren verstehen, die zu den News führen.

Aber sind Finanznews nicht für das Bankgeschäft elementar?

Hummler: Ich glaube nicht. Eine gesunde längerfristige Strategie ist besser. Ich hätte am liebsten meinen Anlageberatern den Bildschirm auf Schwarz gestellt. Doch da wäre auch meine Autorität ans Ende gekommen. Dann versucht mancher noch zu erklären, warum der Dow Jones an einem Tag gestiegen oder gefallen ist. Das ist aus den Fingern gesogen.

Was halten Sie von Aktienempfehlungen?

Hummler: Sie sind vollkommen unmöglich. Ich habe immer den Tageskurs als Prognose genommen, das ist ein bezahlter Kurs.

Die Kurse sind in den letzten Wochen stark gestiegen, fast alle sind optimistisch. Ein Fall von Herdentrieb?

Dobelli: Ich habe kein intuitives Gefühl für Finanzmärkte, das kann man nicht haben. Ein gefährliches Signal ist immer, wenn alle einer Meinung sind. Das scheint jetzt der Fall zu sein, deswegen wäre ich vorsichtig.

Wie gefährlich ist der Herdentrieb?

Hummler: Der ist immer da, aber ich halte ihn für nicht so gefährlich. Wer Aktien kauft, muss damit leben, dass seine Anlage am nächsten Tag nur noch die Hälfte wert ist. Wenn er das nicht kann, soll er dieses wunderbare Instrument nicht kaufen. Heute gibt es keine risikolose Anlage mehr, das hat die Finanzkrise gezeigt. Selbst Staatsanleihen sind nicht mehr vollkommen sicher.

Was würden Sie heute einem jungen Menschen raten, der wirtschaftlich erfolgreich werden will?

Dobelli: Er sollte auf keinen Fall Betriebswirtschaftslehre studieren. Ich habe das vier Jahre lang gemacht und mich gelangweilt. Um Erfolg zu haben, braucht man unternehmerisches Flair und soziale Kompetenz, um die Menschen zu gewinnen, um gemeinsame Ziele zu erreichen. Das lernt man nicht im Studium.

Was würden Sie machen, wenn Sie noch mal jung wären?

Dobelli: Biologie studieren und dann Unternehmer werden. In der Biologie lernt man am ehesten, wie komplexe Systeme funktionieren. Ein Ökosystem ist fast wie ein Finanzmarkt, es gibt so viele Abhängigkeiten.

Herr Hummler, sind Sie auch skeptisch gegenüber dem Ökonomiestudium?

Hummler: Ich wäre der Jurisprudenz gegenüber noch kritischer, obwohl ich sie selbst studiert habe. Die Juristen denken viel zu normativ – immer in Kategorien: Wie sollte es sein? Mit Verordnungen oder Gesetzen lassen sich keine wirklichen Veränderungen bewirken. 95 Prozent dessen, was in Gesetzesbüchern steht, sind irrelevant.

Wie wichtig ist Glück für den Erfolg?

Dobelli: Erfolg an der Börse ist 90 Prozent Glück, beim Schriftsteller sind es 70 Prozent, beim Unternehmer deutlich weniger, und beim Zahnarzt spielt Glück fast keine Rolle.

Hummler: Glück wird unterschätzt. Und viele, die Glück haben, stellen das fälschlicherweise als ihre Leistung dar.

Das ist in Ihrer Industrie besonders verbreitet. Sie verkauft ihre Anlageexpertise als Können.

Hummler: Ja, das stimmt. Im Übrigen ist das aber gar nicht mehr meine Industrie. Ich bin gerade im Begriff, mich davon zu lösen.

Wie sieht Ihre Zukunft aus?

Hummler: Ich baue in St. Gallen eine kleine Organisation auf, die wieder alle sechs bis acht Wochen einen Anlagekommentar produzieren wird. Ich stelle auf das Holprinzip um: Wer den Kommentar beziehen möchte, muss bezahlen.

Wie viel?

Hummler: Die Kosten müssten gedeckt werden.

Herr Dobelli, Ihre beiden Sachbücher sind ein riesiger Erfolg. Was kommt jetzt?

Dobelli: Ich arbeite an einem Buch.

Sachbuch oder Roman?

Dobelli: Das nächste wird ein Sachbuch sein. Ein Roman ist eine unheimliche Arbeit. Vier, fünf Jahre schreiben Sie sich die Finger wund, dann werden Sie von den Kritikern zerhackt, und das Honorar entspricht umgerechnet dem Stundenlohn einer Migros-Kassiererin. Trotzdem werde ich wieder mal einen Roman anpacken.

 

Konrad Hummler: Der heute 60-Jährige war 23 Jahre lang geschäftsführender Teilhaber der St. Galler Privatbank Wegelin, die im Februar 2012 nach der Anklageerhebung durch die USA zum Grossteil an die Raiffeisenbank verkauft wurde. Er verfasste sechs Mal im Jahr seinen Anlagekommentar, der mit einer Auflage von 100 000 Exemplaren in vier Sprachen gedruckt wurde.

Rolf Dobelli: Mit der «Kunst des klaren Denkens» und der «Kunst des klugen Handelns» landete der 46-jährige Luzerner zwei Bestseller. Dobelli ist Mitgründer des Buchzusammenfassungsdienstes GetAbstract und Gründer der Veranstaltungsreihe Zurich Minds. 

Dirk Schütz
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