Zum Vortrag des Finanzministers kamen mehr als 1000 Gäste. Der Saal war voll. Vermögensverwalter, Banker, Fondsmanager. Alle erwarteten eine klare Ansage, wie es mit dem Finanzplatz weitergehen solle. Am Ende waren sie enttäuscht. «Diese Rede ist ein finanzpolitisches Fiasko», schrieb ein Zeitungsleser zum Anlass. Das Land werde als «Musterschüler» vor den Karren gespannt – eine «Kapitulation unserer Politikergilde gegenüber dem massiven Druck deutscher Herr-kunft».

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Der Redner hiess nicht Merz. Der Anlass fand auch nicht in Zürich, Genf oder Lugano statt. Die Rede ist vom sogenannten Tag der Börse Anfang März auf dem Luxemburger Kirchberg. Dort, wo die Bankenkonzerne und Fondsgiganten ihr Quartier haben, sprach im neuen Konferenzzentrum der luxemburgische Finanzminister Luc Frieden über die neue Zeit. Und der Leserkommentar stammt nicht aus der «NZZ», sondern aus dem «Luxemburger Wort».

Die Schweiz steht nicht allein da. Ein Blick auf die miteinander konkurrierenden Finanzplätze liefert Déja-vu-Erlebnisse. Ob in Luxemburg oder Jersey, ob in Georgetown auf den Cayman-Inseln oder in der Londoner City: In den traditionellen Zentren für das diskrete Geldgeschäft herrschen Ratlosigkeit und Trübsal. Nicht nur in der Schweiz ist das Geschäft mit dem Bankgeheimnis in seiner traditionellen Form Geschichte. Seit die USA zum Kampf gegen Steueroasen aufgerufen haben und die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ihre Offensive gegen Steuerhinterziehung gestartet hat, sind von den betroffenen Staaten mehr als 300 Steuerinformations- und Doppelbesteuerungsabkommen unterzeichnet worden. Sind nun also alle gleichgestellt? Keineswegs. In den Offshore-Finanzplätzen wird fieberhaft nach neuen Geschäften und nach Wettbewerbsvorteilen mit unentdeckten Regulierungslücken gesucht.

Modellhafte Budgetreform. Luc Frieden stand am Rednerpult, vor ihm eine Tausendschaft in Businessanzug mit Krawatte. Das Bankgeheimnis bleibe ein wesentliches Instrument zum Schutz der Privatsphäre, versprach der Luxemburger Finanzminister. Doch die Grenzen steckte auch er unmissverständlich ab: «Wir wollen kein Platz sein, wo Kunden zum Nachteil ihres Heimatlandes hinkommen.» Das Grossherzogtum hat in den vergangenen Jahren 700 Millionen Franken anonyme Quellensteuern an die Herkunftsländer der Kunden abgeführt, doch das Wehklagen über die undankbaren Nachbarn hilft nicht weiter. Den Luxemburgern geht es verhältnismässig gut, noch. Aber die Staatsverschuldung steigt. Eine öffentliche Schuld von 30 Prozent des Bruttoinlandprodukts würde einen jährlichen Zinsdienst von 350 Millionen Euro kosten – zu viel für den Kleinstaat. «Es geht um die Souveränität Luxemburgs», sagt Frieden, «wenn wir verschuldet sind, dann sind wir nicht länger frei.» Der Finanzminister legte Ende April seinen Entwurf für ein ausgeglichenes Budget im Jahr 2014 vor. Seine Ideen: Die maximale Steuerrate steigt von 38 auf 39 Prozent, und wer mehr als 250  000 Euro verdient, bezahlt 42 Prozent Steuern; Unternehmen mit Bonusprogrammen und «goldenen Fallschirmen» bekommen eine Höchstgrenze für Steuerabzüge; Finanzgeschäfte werden mit einer neuen Abgabe belegt; und eine neue «Krisensteuer» soll eingeführt werden. So will Luc Frieden bis 2014 die Maastricht-Kriterien wieder erfüllen – es wäre eine mustergültige Einzelleistung innerhalb der EU, finden auch die Experten vom Internationalen Währungsfonds.

Die Luxemburger Diplomaten sitzen derweil in Brüssel an den Verhandlungstischen zur Gestaltung der neuen Direktiven und Regeln der EU für die Fondsindustrie. Still nehmen sie dort Einfluss auf ein Geschäft, das sie besser verstehen als viele ihrer Verhandlungspartner. Sie gestalten die Anforderungen für Hedge-Fund- und Private-Equity-Fund-Manager mit, und ganz gewiss werden sie wieder zu den Ersten gehören, die das neue EU-Recht in ihr nationales Regelwerk umgesetzt haben werden. Mit dieser «First Mover»-Strategie haben sie schliesslich den Grundstein für ihre weltweit führende Fondsindustrie gelegt. Sie waren damals die Ersten mit einem EU-kompatiblen Fondsgesetz und einer funktionierenden, effizient und schnell bewilligenden Aufsichtsbehörde, der CSSF. Sie beschäftigt mit mehr als 300 etwa so viele Mitarbeiter wie die schweizerische Finma, beaufsichtigt 3460 Funds mit 3,9 Billionen Franken Kundenvermögen, 150 Banken und 26  400 Beschäftigte in der Finanzindustrie.

Die Furcht der Luxemburger hat einen Namen: Deutschland. Die Beziehungen zum grossen Nachbarstaat sind «mehr als angespannt», sagt Kolumnist Ady Richard von der grössten Zeitung. Er spricht von einer «neonationalen Renaissance des metternichschen Systems». Und er denkt dabei auch an die Franzosen. «Zutiefst antieuropäisch!», schimpft Richard.

Der Ady Richard der Kanalinsel Jersey heisst Peter Body und schreibt für die «Jersey Evening Post». Ein stämmiger Mann mit einer Weltsicht wie in Stein gemeisselt. Er war stolz auf die britische Kronkolonie, weil sie unter den Kanalinseln die grösste Finanzindustrie beherbergte, weit erfolgreicher als Guernsey oder die Isle of Man. Doch nun beklagt Body die Krise, die hohe Arbeitslosigkeit und das Budgetdefizit. Sein erklärter Gegner: der britische Finanzminister und dessen Kabinettskollegen, die «offenkundig die Regeln des Spiels ändern, sodass die Steuerzahler bisher legitime Wege zur Minimierung ihrer Steuerlast nicht mehr nutzen konnten».

Kolumnist Body pflegte früher eine feine semantische Unterscheidung zwischen Steuervermeidung und -hinterziehung. Er berief sich dabei gerne auf Denis Healey, den legendären britischen Schatzkanzler der siebziger Jahre, der diesen Unterschied für so dick wie eine Gefängnismauer befunden hat. Und nun, so schreibt Body, sei nicht nur das Bankgeheimnis tot. «Auch die Steuervermeidung – die Industrie, die Jersey so prosperierend gemacht hat – scheint in ihren letzten Zügen zu liegen.» Dabei war doch eigentlich «alles völlig legal», resümiert er wehmütig.

Schatten über Jersey. Die Geldindustrie leidet. Die Zahl der Fondsgründungen geht dramatisch zurück. Für 2010 wird gesamthaft mit 20 Prozent weniger Unternehmensgründungen kalkuliert. Die 90  000 Inselbewohner stehen vor harten Einschnitten. Ende April marschierten die Lehrer durch die Inselhauptstadt St.  Helier zum Jersey Opera House. Sie wollen nicht mehr länger für eine Steuerpolitik bluten, die für die Ausländer und Gastarbeiter in der Finanzindustrie gemacht wurde: Unternehmenssteuern zwischen 0 und 10 Prozent, eine 20-prozentige Flat Tax auf alle persönlichen Einkommen und eine Mehrwertsteuer von 3 Prozent. In den Krisenmonaten wurde das lockere Steuerregime zum Bumerang, und noch weiss niemand, welche Folgen die Weissgeldpolitik haben wird. Schliesslich stammt mehr als die Hälfte der Bruttowertschöpfung aus der Finanzindustrie.

Die letzte Bastion der Insulaner sind die beliebten Trustvehikel. Sie sind amtlich nicht registriert und werden daher von keinem EU-Abkommen erfasst: Wo der Staat keine Informationen hat, da gibt es auch keinen Informationsaustausch. Daher weiss auch niemand, wie sich das Trustgeschäft entwickelt. Laut Marktschätzungen sind zwischen 300 und 400 Milliarden Franken Vermögen in den Trusts versteckt, wobei Jersey als Trustdomizil nur eine Satellitenfunktion für andere Bankenplätze wie London und Zürich hat. Ein Indiz für die Herkunft der Vermögen liefert die Bankenstatistik der Insel: Etwa 80 Milliarden Franken der Einlagen stammen aus London, aber fast 100 Milliarden – ein Drittel aller Depositen – aus «europäischen Nicht-EU-Ländern», ein Grossteil davon wohl aus der Schweiz.

Die Offshore-Plätze, die unter dem Schutz der britische Krone operieren, erhielten in den vergangenen Monaten Briefe von Premier Gordon Brown, in denen er zur Abkehr vom Schwarzgeldgeschäft aufforderte. Doch in London blüht das Geschäft nach wie vor.

Sepp Bududa ist ein gewöhnlicher Fall, er ist vom Tax-free-Virus angesteckt. In Malawi geboren, lebt er von Kindesbeinen an in London, seine Geschäfte betreibt er mit einer britischen Firma und einer zweiten in einer Freihandelszone in Dubai. «Idealerweise würde ich gerne weiterhin in England leben», vertraut er der Hotline einer beliebten Offshore-Webseite von Steuerexperten unter seinem Fantasienamen an, «aber ich habe nicht wirklich den Wunsch, in England Steuern zu zahlen.» Er fragt nach einem «absolut legalen Weg». Die Lösung kommt von einem seit zwölf Jahren etablierten Treuhänder aus Grossbritannien. Sein Tipp: eine komplexe Truststruktur mit Sitz in London.

Die City leidet weniger unter Weissgeldstrategien. Der Londoner Finanzplatz kämpft vielmehr mit den Folgen der Finanzkrise. Seit 2008 gingen die Bewilligungen der Aufsichtsbehörde für neue Finanzunternehmen um die Hälfte zurück. Im Verbriefungsgeschäft, das sehr stark in der City vertreten war, geht das Geschäft gegen null – ohne Anzeichen einer nennenswerten Wiederbelebung. In der Industrie fürchten sich vor allem die Einkommensmillionäre und Bonus-Barone vor harten Strafsteuern. Sie wollen wie Sepp Bududa am liebsten steuerfrei durchs Leben gehen. Und eines ihrer Vorbilder hat nun den Lösungsweg präsentiert: Alan Howard, Mitbegründer von Brevan Howard Asset Management, dem grössten europäischen Hedge Fund. Er, dessen Vermögen im vergangenen Jahr um 133 Prozent auf 1,4 Milliarden Franken wuchs, zügelt sein Fondsmanagement an den Genfersee. Ein bedeutsames Signal: Zwei Drittel aller europäischen Hedge Funds sitzen in London, mehr als 40  000 Personen beschäftigt die Industrie dort in den Fundgesellschaften, bei Beratern und Dienstleistern.

Die Herausforderung für die neue Regierung formuliert Ruth Sunderland, Wirtschaftskolumnistin beim «Observer», drastisch: «Nicht weniger als die Ersetzung des kaputten Wirtschaftsmodells.» Lord Peter Mandelson, Wirtschaftsminister in der Brown-Regierung, suchte in Deutschland nach neuen Modellen, damit das Land die Abhängigkeit vom Finanzplatz abschütteln kann. In Berlin liess er sich die Fraunhofer-Gesellschaft erklären, die einen vorbildlichen Brückenschlag zwischen universitärer Forschung und Wirtschaft praktiziert. Nun träumt London ausgerechnet von «Germany’s Mittelstand». Der letzte Stolz scheint vergessen, jedes Mittel zur Zerschlagung der «Höllenmaschine» willkommen zu sein. Die Banker verfolgen unterdessen eine alte Idee: der Schweiz Marktanteile bei der Vermögensverwaltung abzuwerben.

Georgetown, Cayman-Inseln, im Januar: Mit Salutschüssen wurde Duncan Taylor, der neue britische Gouverneur, im bedeutsamsten Finanzplatz der Karibik empfangen. Diplomatisch bedankte er sich für den «herzlichen Empfang», aber jeder Insulaner weiss, dass er der Regierung genauer auf die Finger schauen wird. Premier William McKeeva Bush hat eine schwere Budgetkrise zu meistern, die Caymans sind hoch verschuldet. Am 30.  April überraschte er sein Volk. Eine neue Lohnsteuer soll kommen, fünf Prozent für alle. Für die Caymans eine Revolution: Einkommens-, Unternehmens- und Umsatzsteuern waren bis anhin unbekannt. Das Land finanzierte sich über Lizenzen und Gebühren aus dem Unternehmensregister. 7500 Personen, mehr als 20 Prozent aller Beschäftigten, leben auf der Insel von der Finanzindustrie, die auch hier schrumpft. Der prominenteste Abgang wurde im Januar beklagt. Kurz und knapp verkündete der Rückversicherungskonzern XL Capital den Umzug des Holdingdomizils nach Irland und begründete dies mit «gewissen Risiken». Der Gouverneur muss nun auf der Insel sogar für Sicherheit und Ordnung sorgen. Die Polizei schafft es nicht, Drogengangs und kriminelle Banden in Schach zu halten. Die jüngste Idee von Premier McKeeva Bush: ein 25-Jahr-Visum mit Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung für Zuwanderer, die 2,4 Millionen Dollar investieren.

Die Schweiz hat gegenüber den europäischen und karibischen Konkurrenten einen grossen Vorteil: Sie hat keine nennenswerte Staatsverschuldung. Anders sieht es in Asien aus. Die Asiaten vermarkten ihre Souveränität nahezu ungerührt mit alten und neuen Businessmodellen. Wie die Schweiz investieren sie mit vollen Staatskassen in die Zukunft.

Kritik nur von Aussen. Singapur zum Beispiel verdankt den Aufstieg seines Finanzplatzes Lee Kuan Yew, der von 1959 bis 1990 Premierminister war. In seinen Memoiren erklärt er sein Prinzip: «Erlaubt ist, was nicht ausdrücklich verboten ist.» 2001 wurde dieses Prinzip mit einem neuen Bankengesetz gefestigt: Wer das Bankgeheimnis verletzt, muss mit einer Strafe von bis zu drei Jahren Gefängnis und bis zu 125  000 Dollar Geldbusse rechnen. Die Kundenvermögen wuchsen von 150 Milliarden Dollar 1998 auf 1173 Milliarden 2007. Ein kundenfreundliches Trustgesetz erlaubt Geldverstecke nach altem Stil. Auf die angloamerikanisch-europäische Diskussion hat auch die heutige Regierung eine Antwort: «Singapur ist keine Steueroase», sagt Aussenminister George Yeo, «wir sind nur ein Niedrigsteuerland.» Diskussionen erlebt das Land nicht. Die regierende People’s Action Party (PAP) besetzt 82 der 84 Parlamentssitze. Zaghafte Kritik kommt nur von aussen. Zum Beispiel vom OECD-Diplomaten Jeffrey Owens, dem grossen Vorkämpfer im Kampf gegen das Offshore-Finanzgeschäft: «Ich denke nicht, dass Singapur die politischen Signale richtig erfasst.» Aber Owens interessiert die Leute in Singapur wenig.

Die Einheimischen kuschen und arbeiten für Niedriglöhne, die ausländischen Gastarbeiter in der Geldindustrie geniessen Steueranreize: Wer 250  000 Franken verdient, zahlt maximal 33  000 Franken Steuern, es gibt Rabatte für Offshore-Geschäfte. Über die Wohnungssuche müssen sich die Zuwanderer – anders als in der Schweiz – keine Sorgen machen. Im Stadtteil Nepal Hill lässt der Stadtstaat für sie Häuser aus der Kolonialzeit herrichten.

In einer Studie erfasste die City of London die Zukunftsaussichten von Singapur. Das Fazit der Analyse: «Singapur will letztlich die Schweiz als weltführendes Zentrum für Vermögensverwaltung und Private Banking ablösen.»

Wilmington, eine Bürostadt im US-Bundesstaat Delaware. Firmensitz von 60 Prozent der 500 grössten US-Konzerne, weltgrösstes Domizil für Offshore-Firmen, die hier ihre Aktionäre nicht offenlegen müssen, keine Unternehmenssteuern zahlen und ihre Managermeetings überall auf der Welt abhalten dürfen. Jedes Jahr kommen 130  000 Firmen dazu. Delaware ist der bestgeschützte Ort für Finanzgeheimnisse. Es gibt keine Daten aus dem Register und keine staatlichen Hinweise über das tatsächliche Volumen der Vermögen, die mit Hilfe von Delaware-Firmen versteckt werden. Das laxe Angebot von Delaware wird weltweit nur noch von den US-Bundesstaaten Nevada und Wyoming übertroffen.

Was schreiben die Kolumnisten im Staate Delaware über die Steuerinformationsabkommen und den Kampf gegen das Tax-free-Geschäft? Die Antwort ist einfach: nichts. Die Debatte ist schlicht kein Thema. Nur im fernen Washington D.C. redet ein Senator darüber. Es ist Carl Levin, der die Interessen des Bundesstaates Delaware vertritt. Levin versteht sehr viel vom Thema, er ist der Experte der Demokraten für den Kampf gegen die Steuerhinterziehung. Er hat in zahlreichen Anhörungen mit seinen inquisitorischen Befragungen Banker, Anwälte und Treuhänder bis zur Weissglut gebracht, darunter Manager des Prüfkonzerns KPMG und der UBS. Sein geopolitischer Blickwinkel in Steuerfragen ist schnell umrissen: Es ist der Rest der Welt.