Sollte Christoph Marthaler demnächst ein neues Stück von Thomas Hürlimann einstudieren, müsste er des Bühnenbilds wegen ins hinterste Entlebuch fahren. Das «Jägerstübli» des Gasthauses Rössli in Escholzmatt mit seinen Hirschgeweihen, der petrolfarbenen Holzverkleidung und dem rustikalen Riemenparkettboden atmet exakt jenes listig-doppelbödige, schräg kalkulierte Heimatgefühl, das des Meisters Inszenierungen prägt.

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Mehr noch: Christoph Marthaler müsste im «Rössli» auch gleich das Gourmetmenü bestellen, denn mit dem Koch Stefan Wiesner wirkt dort ein Verwandter im Geiste.

Stefan Wiesner ist ohne Zweifel einer der originellsten, eigenständigsten, unverwechselbarsten Köche der Schweiz. Er wurzelt im Entlebuch, in dieser schattigen Voralpenlandschaft, deren Bewohner im Jahr 2000 als erste Schweizer Region den Beitritt ins Biosphärenreservat-Programm der Unesco vollzogen. Er ist im «Rössli» aufgewachsen, hat in Luzern gelernt und seine Sporen abverdient, ist 1986 wieder in den elterlichen Gasthof zurückgekehrt und hat das unauffällige Haus 1989 zusammen mit seiner Frau Monika übernommen.

Produkte und Inspirationen holt sich Wiesner aus der nahen Umgebung. Er begann ganz bodenständig mit der Perfektion der Bratwurst, mittlerweile ist sein saisonal wechselndes Repertoire auf gegen 30 Wurstsorten angewachsen. Dann entdeckte er die Ingredienzen der Natur – Stein, Heu, Holz – und begann mit ihnen zu kochen: Suppen vorzugsweise, in denen die Essenz des Materials, geschmacklich in stets vollendeter Harmonie wahrnehmbar, gespeichert ist. «Spagirik» nennt Wiesner diese Methode – ein Begriff aus der Alchemie, der die Dinge im Denken und dann im Kochen auseinander nimmt und sie als Gericht wieder ganzheitlich zusammenfügt.

So schollenverbunden Wiesner ist, so frei über den Mikrokosmos hinaus schweifen seine Gedanken. Wiesner ist ein Reisender im Kopf mit beneidenswerter Imaginationsgabe, er durchforstet die ganze kulinarische Welt, besucht in der Literatur die stilbildenden Köche und materialisiert mit seinen drei Lehrlingen und der jungen Souschefin in der kleinen «Rössli»-Küche die gewonnenen Erkenntnisse.

Ein liebenswürdiger Spinner? Vielleicht. Aber einer, der mit diesem Markenzeichen höchst virtuos und kulinarisch überzeugend spielt. Da isst man zum Beispiel bei ihm eine Ochsenschwanzsuppe mit Cohiba-Zigarren-Einlage, die mit whiskygetränkten Eichenholzstücken gekocht wurde. Oder einen Hechtknödel mit
Apfel-Zwetschen-Chutney und einem blattgoldbedeckten Krebs vom Soppensee.

Gasthaus Rössli
Stefan und Monika Wiesner, 6182 Escholzmatt, S 041 486 12 41, www.gasthofroessli.ch, 15 «Gault Millau»-Punkte, Menüs 99 bis 109 Franken, montags und dienstags sowie drei Wochen im Januar geschlossen.

Dann ein Steinbockwürstli auf Trüffelpolenta – die schwarze Trüffel stammt von der Rigi – mit hausgemachtem Kuhkäse, getrockneten Tomaten und reduziertem Madeira. Darauf ein Köpfchen von selbst geräuchertem Rohschinken, darin eingewickelt Gämspfeffer, Blaukraut und Knöpfli. Als Hauptgang Rehrückenscheibchen an einer Milchsauce mit caramelisiertem Sardellenpüree, Rosenkohlblättern, Kartoffelstock und Zitronengras. Schliesslich das süsse Kürbisölparfait im frittierten Knuspermantel mit Dattel- Rum-Coulis.

Ein grandioses Mahl, subtil abgestimmt und zum Erstaunen aller leicht verdaulich. Nach Stefan Wiesners Einschätzung war das jedoch auf der «Spinnereiskala» bloss «ein zahmes Menü».

Für alle, die Stefan Wiesners «alchemistische Naturküche» kennen lernen möchten, ist eben ein prächtig bebildertes und gut geschriebenes Buch herausgekommen, das ein originelles Kochbuch und gleichzeitig viel mehr ist: ein Philosophie- und Naturbuch, eine Hommage an das Entlebuch und all seine Bewohner, die mit ihrem Wissen und ihren Produkten Stefan Wiesner auf seinem eigenwilligen Weg begleiten: Gold – Holz – Stein. AT Verlag, Fr. 98.–.