Die Genugtuung stand ihm ins Gesicht geschrieben, als er Anfang November in Dietikon ZH vor die Medien trat. Doch Coop-Chef Hansueli Loosli wiegelte ab. Dass Coop die Migros beim Umsatz nun eingeholt habe, interessiere ihn nicht, diktierte er den Journalisten ins Mikrofon. «Ich bin am Geschäft interessiert, nicht am Rennen gegen die Konkurrenz.»

Basel versus Zürich. Looslis Understatement wirkte etwas aufgesetzt. Coop hat in einer seit Jahren andauernden Aufholjagd das Ziel endlich erreicht. Mit der Übernahme des international agierenden Gastrogrosshändlers TransGourmet, dem grössten Deal ihrer Geschichte, wird Coop auf einen Schlag von 19,7 auf 25 Milliarden Franken Umsatz wachsen. Der Coup ist für Loosli eine doppelte Erfolgsgeschichte. Die Basler Detailhandelskette ist einerseits zu einem international agierenden Konzern geworden. TransGourmet bearbeitet die europäischen Märkte von Frankreich bis Russland. «Strategisch macht der Deal Sinn, da Coop in der Schweiz nicht mehr sehr stark wachsen kann», sagt Daniel Rupli, Obligationenanalyst bei der Credit Suisse. Andererseits liegt Coop nun mit Migros gleichauf. Beide generieren rund 25 Milliarden Franken Umsatz.

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Basiskapitalismus. Der Kampf unter Giganten ist kein singuläres Phänomen, umso erstaunlicher ist: Die beiden Schweizer Detailhandelsriesen sind Genossenschaften. Mehr als jeder zweite Schweizer ist bei Coop oder Migros Mitglied. Sie sind Teil zweier mächtiger Gruppen, die in der hiesigen Wirtschaft seit Jahren eine immer grössere Rolle spielen. Migros und ab jetzt auch Coop sind die grössten inländischen Arbeitgeber. Die Genossenschaften wachsen zumeist überdurchschnittlich, zehn Prozent aller Schweizer Beschäftigten arbeiten bei ihnen, im Detailhandel und im Gewerbe, bei Banken und Versicherungen oder im Immobilienbereich. Und doch werden die Genossen von der Öffentlichkeit nicht so richtig zur Kenntnis genommen. Sie repräsentieren einen Basiskapitalismus, der hierzulande tief verwurzelt ist und weit in die Geschichte der Eidgenossenschaft zurückreicht. Daraus ein Aufhebens zu machen, liegt den Genossenschaften indessen fern. «Wir arbeiten lieber im Stillen», heisst es unisono in den Unternehmenszentralen.

Auch Hansueli Loosli sucht das Scheinwerferlicht nicht unbedingt. Er hat sich immer den Anschein gegeben, als sei die Aufholjagd mit der Migros für ihn kein Thema. Er hatte auch gute Argumente. Die Basler waren in den letzten Jahren um einiges agiler als die Zürcher. Sie lancierten ihre Bio- und Ökolinie, die Migros war gezwungen nachzuziehen – und trägt in dieser Sparte seither die Zwei auf dem Rücken. Nach der Übernahme von Waro (2003) und Carrefour (2007) forcierte Coop den Bau grosser Ladenflächen, die Zürcher mussten später nachziehen.

Bei den Zukäufen hatte die Nordwestschweizer Detailhandelskette in jüngster Zeit erst recht die Nase vorn. Damals, als Coop Epa, Waro, Carrefour, Interdiscount oder Fust akquirierte, rümpfte man in der Branche die Nase. «Das kann nicht gut gehen», war die vorherrschende Meinung. Es ging gut. Seit der letzten Übernahme 2007 hat Loosli die Schulden wieder zurückgeführt. Der hohe Free Cashflow, den der Detailhändler Jahr für Jahr erarbeitet, machte dies möglich.

«Migros hat auch einiges zugekauft», sagt Analyst Rupli, «aber in jüngster Zeit vorab in die Läden investiert.» Insgesamt aber sei die Migros weniger stark fremd finanziert als Coop. Die finanziellen Kapazitäten des orangen Riesen seien ungleich grösser als jene der Basler. Die Migros hat insbesondere weniger hohe Nettoschulden und eine markant bessere Eigenkapitaldecke. Im letzten Jahr betrug das Verhältnis bei der Migros 25 Prozent, Coop hatte so viel Schulden wie Eigenkapital – ein ungünstiges Verhältnis (siehe «Behäbige Migros – agile Coop» im Anhang).

Deutlich besser stehen die Basler bei den Margen da. Im letzten Jahr generierte Coop eine Gewinnmarge vor Zinsen und Steuern von 3,8 Prozent. Gemäss Schätzungen der CS-Analysten steigt diese im laufenden Jahr auf 4 Prozent, während sich die Marge des Konkurrenten von 2,6 auf 2,3 Prozent verringert. Sehr dramatisch sieht es bei den freien Mitteln aus. In diesem Jahr dürfte Coop 860 und die Migros nur 260 Millionen Franken erwirtschaften.
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Mehr Schlagkraft. Noch vor Jahren hätte man Coop das fulminante Wachstum nicht zugetraut. Die Grossgenossenschaft galt als verschlafen. Anstelle der Betriebswirtschaftler hatten die Politiker das Sagen, das Geschäft lief unter diesen Prämissen leidlich. Dann kam Loosli mit Coop Forte. Der neue Chef formte den Detailhändler zur schlagkräftigen Organisation. Er redimensionierte das Filialnetz, schuf grössere Einheiten, straffte die Logistik. Aus 18 regionalen Genossenschaften wurde eine nationale, die zur professionellen Organisation umgebaut wurde. Die Zahl der Coop-Mitglieder wuchs auf 2,5 Millionen.

Anders die Migros. Strukturell hat sich in den letzten Jahren nicht viel bewegt. Noch immer haben die zehn regionalen Genossenschaften das Sagen. Reformversuche haben es in diesem Umfeld schwer. Welche Geschäftspolitik Migros verfolgt, entscheidet in letzter Instanz nicht die Zentrale in Zürich, sondern die Regionen. Sie schicken ihre Delegierten an die Generalversammlung des Migros-Genossenschafts-Bunds (MGB), der Dachorganisation, welche die Gesamtinteressen der Migros-Gemeinschaft wahrt. «Die Migros», sagt CS-Analyst Rupli, «ist einiges konservativer als Coop.»

Coop und Migros: zwei typische Schweizer Genossenschaften mit insgesamt rund 4,5 Millionen Mitgliedern bei einer Bevölkerung von 7,8 Millionen. Laut dem Marktforscher GfK Switzerland beherrschen sie 50 Prozent des Schweizer Detailhandels – eine Dominanz ohnegleichen. Doch sie sind nicht die alleinigen marktmächtigen Genossenschaften. Insgesamt sind hierzulande rund 9600 Genossenschaften im Handelsregister eingetragen. Davon erwirtschaften die grössten 448 einen Umsatz von einer Million und mehr Franken, wie die auf Wirtschaftsinformationen spezialisierte Dun & Bradstreet für BILANZ analysiert hat. Dabei zeigte sich, dass die zehn grössten Genossenschaftsgruppen auf eine Bilanzsumme von 233 Milliarden Franken kommen, wobei sich hier die Bank- und Versicherungsbilanzen stark auswirken. Der Reingewinn der zwölf grössten Gruppen beträgt 2,8 Milliarden Franken.

Krisenrestistent. Die Krisenjahre 2008 und 2009 scheinen spurlos an den Genossenschaften vorübergegangen zu sein. Die grossen Gruppen haben nur Gewinne geschrieben, die Einzelgenossenschaften in ihrer grossen Mehrheit. 123 Einzelgenossenschaften kamen 2009 kumuliert auf 642 Millionen Franken – oder 5,2 Millionen pro Firma. 2008 betrug der Reinverlust bei zwei Genossenschaften eine Million Franken, 2009 waren es drei Genossenschaften, die mit 23 Millionen Franken in den roten Zahlen standen – darunter die Hagelversicherung mit einem Fehlbetrag von 22 Millionen.

Dass die Genossenschaften ohne grössere Havarien durch die Krise steuerten, hat viel mit ihrer Geschäftsphilosophie zu tun. Genossenschaften gelten als bodenständig mit starker regionaler Verwurzelung. Wachstum um jeden Preis ist nicht ihr Ding. Diesem Geschäftsmodell folgt beispielhaft Raiffeisen. «Unsere Bank gehört den Kunden», sagt CEO Pierin Vincenz. Die Zentrale in St.  Gallen – auch sie eine Genossenschaft – gehört den einzelnen Raiffeisenbanken in den Regionen. «Wir leben das dezentrale Modell», sagt Vincenz und fügt an: «Die Kunden schätzen das sehr.» Er verhehlt aber nicht, dass damit Nachteile verbunden sind: «Unsere Entscheidungsprozesse brauchen mehr Zeit, und die Führung unseres Netzwerks ist zuweilen schwierig.»

Der Erfolg gibt Raiffeisen recht. Im Retail Banking ist sie mit einer Bilanzsumme von 143 Milliarden Franken Nummer drei, ihr Marktanteil bei den Kundengeldern beträgt 20, bei den Hypotheken 15 Prozent. «Wir fokussieren uns ganz klar auf Geschäftsfelder, die wir verstehen», sagt Vincenz. «Das begrenzt uns auf die Schweiz.»

Zu den Big Five unter den Genossenschaften nach den beiden Detailhändlern gehört der Landwirtschaftskonzern Fenaco mit einem Umsatz von über fünf Milliarden Franken. Eigentümer der Fenaco sind die Landi-Genossenschaften mit 46 000 Mitgliedern – zumeist Bauern. Auch Fenaco will sich dem Diktat der Kapitalrentabilität nicht beugen. «Immer mehr Firmen suchen einen Ausweg», sagt Willy Gehriger, CEO des Landwirtschaftskonzerns. Für ihn ist der Genossenschaftsgedanke nicht veraltet. «Man hat ihn in der jüngsten Vergangenheit eher ein wenig vergessen», sagt er. Gehriger sieht sich einer Gratwanderung ausgesetzt. Die Branche ist vielfältigen politischen Pressionen unterworfen. Für drei von vier Bereichen, in denen Fenaco tätig ist, sagt er für die nächsten fünf Jahre schwierige Zeiten voraus. Der Bereich Landwirtschaft (Dünger, Saatgut) dürfte eher stagnieren, die Verwertung von Gemüse, Obst und Fleisch steht ebenso unter grossem Margendruck wie die Energiesparte Agrola, derzeit eine Cash Cow der Landi-Gruppe.

«Im Segment Detailhandel müssen wir das Wachstum holen», sagt Gehriger. Die Landi-Läden und Volg seien gut unterwegs. Er positioniert diese gezielt an exponierten Standorten auf dem Land. Die Flächen sollen grösser werden, die Zahl der Läden wird von 400 auf 250 sinken. Die Entwicklung scheint Gehriger recht zu geben. Fenaco ist in den letzten fünf Jahren um insgesamt 23 Prozent gewachsen. «Dank der genossenschaftlichen Struktur», sagt er, «haben wir eine grosse Flexibilität am Markt.»

Überdurchschnittlich gewachsen ist auch die Mobiliar, die grösste Schweizer Versicherungsgenossenschaft. Im ersten Semester 2010 legte der Schweizer Markt im Nichtleben-Geschäft um 0,7 Prozent zu, die Mobiliar gewann 3,6 Prozent. «In den letzten sieben Jahren sind wir über alle Bereichen am stärksten gewachsen – und das bei sehr guter Rendite», sagt der scheidende CEO und künftige Präsident Urs Berger. Der Marktanteil im Nichtleben-Geschäft ist von 13 auf 14,5 Prozent gestiegen. Auf den Erfolg angesprochen, relativiert Berger: «Die Genossenschaft ist nicht automatisch ein Erfolgsmodell.» Bei einem stark expansiven Kurs sei es für eine Genossenschaft nicht einfach, genügend Kapital zu beschaffen.

Langfristig denken. Dafür hat eine Genossenschaft, wie Berger betont, andere Vorteile. «Wir können langfristig denken und disponieren», sagt er. In den starken Jahren baut die Mobiliar bewusst Polster auf. «Deshalb», so der Chef der Mobiliar, «sind wir die mit Risikokapital am besten dotierte Versicherung in der Schweiz. Ziel der Mobiliar ist es, langfristig die Hälfte des Gewinns an ihre Kunden, die 1,5 Millionen Versicherten, weiterzugeben.» Jüngst waren es 110 Millionen Franken – trotz Finanzkrise und Wertpapierverlusten.

Selbstredend hat die Wertediskussion im Nachgang der Finanzkrise der Mobiliar Auftrieb gegeben. «In den Krisenjahren sind die traditionellen Unternehmerwerte wieder wichtiger geworden», sagt Berger. «Da sind wir durch unsere Kundennähe und die vergleichsweise bescheidenen Spitzenlöhne gut positioniert.»

Die Mobiliar hat wie viele Genossenschaften eine lange Tradition. Sie wurde 1826 als erste private Versicherung in der Schweiz gegründet. Bei den damals häufigen Bränden verloren viele Hauseigentümer ihre bewegliche Habe – mit meist ruinösen Folgen. Abhilfe versprach die neue Genossenschaft. Erstmals richtig gefordert wurde sie 1861 beim Brand von Glarus, als sie als einzige Versicherung eine Million Franken auszahlte – eine für damalige Verhältnisse hohe Summe.

Im 19.  Jahrhundert entstanden viele Genossenschaften. Es herrschte ein Gründerboom. Raiffeisen wurde damals aus der Taufe gehoben, es wurden Handwerks- und Konsumgenossenschaften wie Coop und die ersten Wohnbaugenossenschaften gegründet. Hilfe zur Selbsthilfe, das war damals der Grundgedanke. Die ersten entstanden im Mittelalter und waren bäuerlichen Ursprungs, Alp-, Käse- und Weidegenossenschaften. Sie bestehen zum Teil heute noch. Aber sie müssen nun auch den Erfordernissen der modernen Marktwirtschaft genügen.

Denn: Wollen Genossenschaften in den sich permanent wandelnden Märkten bestehen, können sie sich den aktuellen Wirtschaftstrends nicht entziehen. Auch wenn der Rentabilitätsdruck nicht derart gross ist wie bei einer Aktiengesellschaft. So sind Zusammenschlüsse und Zukäufe zu grösseren schlagkräftigen Einheiten unabdingbar. Coop etwa hat durch die Schaffung der Einheitsgenossenschaft an Schlagkraft gewonnen. Auch realisiert sie nach der neusten Übernahme nur noch 50 Prozent des Umsatzes im traditionellen Coop-Bereich. Die andere Hälfte geht aufs Konto der Akquisitionen wie Interdiscount, TransGourmet oder Fust – lauter Aktiengesellschaften.

Vorbei ist es auch mit der Behäbigkeit, die den Genossenschaften lange eigen war. Wer nicht wächst, ist zum Sterben verurteilt. Dies dürfte früher oder später das Schicksal vieler Wohnbauträger sein, vor allem der mittelgrossen. Sie sind auf dem Immobilienmarkt nicht mehr konkurrenzfähig. Gegen die grossen Immobilien-AG, die Fonds und die Pensionskassen haben sie kaum mehr einen Stich. Die schnappen ihnen das oft zu teure Bauland weg. «Die Wohnbaugenossenschaften verlieren Marktanteile», sagt Louis Schelbert, Nationalrat der Grünen und Präsident des Schweizerischen Verbandes für Wohnungswesen. Bis zu 2500 Wohnungen müssten die Gemeinnützigen jährlich bauen, um den Marktanteil zu halten. «Aber das erreichen wir nicht.» Jetzt müsse der gemeinnützige Wohnbau wieder vermehrt gefördert werden.

Innovationen gehören heute zu einer erfolgreichen Genossenschaft wie der traditionelle Anteilschein. Die Schweizer Reisekasse (Reka) oder das Carsharing-Unternehmen Mobility sind, was Informationstechnik und modernste Marketingtools anbelangt, an der Spitze. Der Markt dankt es mit Wachstum. Reka steigerte den Umsatz in zehn Jahren um 70 Prozent. Mobility wächst noch schneller. Ende Juni hatte sie 93 700 Kunden, 2350 Fahrzeuge an 1200 Standorten in 450 Gemeinden. Im ersten Semester 2010 kamen 3000 Kunden, 50 Fahrzeuge und 50 Standorte dazu.

Vielen Marktbeobachtern galten Genossenschaften als überlebte Gesellschaftsform, die früher oder später absterben würde. Nicht so Franco Taisch. Der Professor für Wirtschaftsrecht an der Uni Luzern verfolgt die Szene seit geraumer Zeit und sitzt im Verwaltungsrat von Raiffeisen. Er sagt, es habe schon immer unternehmerisch erfolgreiche Genossenschaften gegeben, man habe sie nur nicht als Genossenschaften wahrgenommen.

Neues Spiel. Die Finanzkrise und ihre Folgen haben dazu geführt, dass die Karten neu gemischt werden. Der Fokus der Unternehmen geht wieder weg vom reinen Gewinnstreben. So hat auch eine aktuelle Umfrage bei erfolgreichen Firmen gezeigt, dass unternehmerische Motivation nicht in erster Linie aus Gewinnmaximierung ensteht. «Die Gesellschaft», sagt Taisch, «erwartet heute von einer Firma mehr als einen maximalen Gewinn.»

Mobiliar-CEO Urs Berger bringt es auf den Punkt: «In den Krisenjahren sind die Unternehmenswerte wieder wichtiger geworden.» Nicht der schnelle Profit stehe im Vordergrund, sondern der Nutzen für Kunden und Gesellschaft. Viele Genossenschaften sind in diesem Umfeld sehr gut positioniert.