Die erste Fahrt auf dem Motorrad mit Seitenwagen endete für den Finanzunternehmer Gerold Schlegel dort, wo die erste Fahrt auf einem Motorrad mit Seitenwagen fast immer endet: im Acker. Manchmal endet sie auch im Strassengraben, an einem Baum oder in einem Gartenhag. Nur selten dort, wo der Fahrer wirklich hinwollte.

Gerold Schlegel hat seinen brandneuen «Hari», wie er die Harley Electra Glide Ultra mit Seitenwagen nennt, eben abgeholt. Ist vorsichtig die ersten Meter gefahren. Hat dann, etwas verwegen vielleicht, eine Extrarunde fahren wollen. Also Gas auf. Rechtskurve. Plötzlich Hektik. Der Seitenwagen steigt in die Luft. Panik. Das Gefährt kippt nach links. Gas zu. Gefährt gerät ausser Kontrolle. Ab in die Pampas. Kein Baum zum Glück, kein Auto, kein Stein. Die Weisswandreifen versinken in der Erde eines frisch gepflügten Ackers.

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Gespannfahren ist etwas Besonderes. Gibt man Gas, zieht es die Fuhre nach rechts. Tritt man auf die Bremse, kriegt das Gespann Linksdrall, vor allem, wenn der Seitenwagen keine Bremse hat und so das Motorrad quasi mit Schwung überholen will. Asymmetrisches Fahrverhalten nennen das die Physiker – erfahrene Gespannfahrer nennen es ganz einfach Spass und nutzen die Kräfte, um flott durch die Kurven zu kommen.

In Rechtskurven kann es schon mal vorkommen, dass sich der Seitenwagen wegen der Fliehkräfte in die Luft anhebt. In Linkskurven kann es das Hinterrad des Motorrades lüpfen – im Extremfall überschlägt sich das Gespann. Darum darf objektiv gefolgert werden: Gespanne sind Krüppelfahrzeuge. Würden sie heute erfunden, man liesse sie nie und nimmer für den Strassenverkehr zu.

Genau das kuriose Fahrverhalten macht aber den besonderen Reiz aus. Nestlé-Chef Peter Brabeck und ABB-CEO Fred Kindle mögen Harley-Motorräder fahren, Novartis-Lenker Daniel Vasella eine schnelle BMW – das letzte Abenteuer auf der Strasse aber ist nicht das Motorrad, es ist das Motorrad mit Seitenwagen.

Und eben dies entdecken zunehmend auch Frauen und Männer, die in der Wirtschaft führende Positionen einnehmen.

Zum Beispiel Bruno Wittwer, oberster Chef der Zürcher Gebäudeversicherung. Sein Gespann hat er vor zehn Jahren an einem Wettbewerb des Kredikartenanbieters Eurocard gewonnen. Sieger wurde, wer die schönste Traumreise beschrieb, und Bruno Wittwers Traumreise war eine Fahrt von der Dnepr-Gespannfabrik in Kiew nach Hause.

Die Dnepr 16 TWD steht heute in der Tiefgarage der Versicherung. Farbe: Feuerrot. Hubraum: 750 Kubik. Leistung: 26 PS. Sie hat Baujahr 1995, sieht aber schwer nach Baujahr 1938 aus – pure Nostalgie. «Die Faszination der Mechanik im Zeitalter der Chips», sagt Wittwer über das, was für ihn den Reiz des Fahrzeuges ausmacht. Die Bremsen sind eher eine Entschleunigungsanlage. Doch wirklich schnell fährt man mit dem Russen, oder genauer: Ukrainer, sowieso nicht.

Bruno Wittwer öffnet den Benzinhahn unter dem Tank, lässt die Vergaser fluten, zieht den Choke, tritt energisch auf den Kickstarter, und schon bollert der Boxermotor los.

Erinnerungen kommen hoch. An seine erste Fahrt, damals 1995. Wittwer holte die Maschine selber in Kiew ab. Vorher musste er die Bürokratie besiegen, drei Tage um die Zulassung kämpfen, Schlange stehen, Nummer holen, wieder Schlange stehen, sackweise Geld wechseln – und endlich losfahren. Bis ihn nach 40 Metern die erste Panne zum ersten Stopp zwang.

Russentreiber, so heissen die Fahrer von solchen Maschinen in der Szene, müssen mit Imponderabilien leben können. Und mit öligen Fingern: Bruno Wittwer hat rasch gelernt, wie man einen Vergaser auseinander nimmt und wieder korrekt zusammensetzt. Oder wie man einen defekten Kupplungshebel repariert. Bruno Wittwer kaufte übrigens das letzte rote Modell – dann ging dem Werk die Farbe aus, und es gab die Dnepr nur noch in Schwarz. Später wurde die Produktion gänzlich eingestellt.

Gespanne, heisst es, vereinen die Nachteile des Töffs mit den Nachteilen des Autos. Und wer schon mal bei Regen im Stau stand, weiss nur zu gut, was damit gemeint ist. Doch Gespannfahrer sehen die Sache ein bisschen verspielter: «Das Gespann vereint in sich die Vorteile von Motorrad, Auto, Geländewagen, Motorboot, Sportflugzeug und Achterbahn», schreibt einer im einschlägigen Internetforum (www.motorrad-gespanne.de).

Und wenn der Vergleich mit dem Sportflugzeug auch etwas gar verwegen klingen mag – Gespannfahrer wissen, was damit gemeint ist: Kein anderes Fahrzeug verhält sich derart eigenwillig, wendig und dynamisch. Im Schnee schlägt der Töff mit Seitenwagen locker den Schickimicki-Geländewagen; wegen des geringen Gewichtes ist das Dreirad viel leichter zu manövieren. Und über die Lenkstange hat der Fahrer unmittelbar Kontakt zum Boden – er spürt sofort, wenn es rutschig wird. Wer will, kann das Gefährt leicht zum Schleudern bringen. Driften heisst das dann, und es bleibt kontrollierbar.

Auch Zahnarzt Urs Jäger ist dem Charme der dreirädrigen Fahrzeuge erlegen. «Mein Traum!», wusste er, als er seine Harley mit Seitenwagen an einem Töfftreffen zum ersten Mal sah und überraschend günstig ersteigern konnte. Eine Harley Flathead von 1942 mit Seitenwagen. Ursprünglich ein Armeemodell, in der Zwischenzeit rot gespritzt, 750 Kubik, 27 PS. Will er flott Motorrad fahren, nimmt Jäger die BMW aus der Garage, eine 1150er GS, zum gemütlichen Cruisen aber das Gespann. Und wenn er damit zum fahrenden Verkehrshindernis wird, übel genommen hat es ihm bisher noch kein Automobilist.

Im Gegenteil, auch das ist Alltag für Fahrer von Gespannen. Hupt einer auf der Autobahn, ist er meist nicht etwa sauer, sondern winkt beim Überholen vielleicht sogar freundlich aus dem Seitenfenster. Und stellt ein Gespannfahrer seine Fuhre auf einem Parkplatz ab, kann der Besitzer der daneben stehenden chromblitzenden Materialschlacht auf zwei Rädern einpacken – alles schaut auf den Seitenwagen.

Einmal wollte Zahnarzt Urs Jäger mit seiner Tochter im Seitenwagen ausfahren, als plötzlich mit ohrenbetäubendem Knall die Kerze aus dem Zylinder schoss. Ende. Es sollte nicht die letzte Panne sein. Aber Urs Jäger würde sein Gefährt nie wieder hergeben. «Es knattert, lärmt und stinkt», sagt er, «aber es fährt. Mir gefällt diese urtümliche Form der Fortbewegung.»

Natürlich gibt es auch die modernen Hightechgeräte. Der Berner Unternehmer Peter Ellenberger zum Beispiel fährt eine Yamaha FJ 1200 mit Sidebike-Wagen – ein Geschoss auf drei Rädern. Manchmal fährt er mit Gerold Schlegel aus, der zu seinem «Hari» ebenfalls inzwischen eines der modernsten Hightechgeräte gekauft hat: die französische Zeus. Das Ding hat mit traditionellen Gespannen nichts mehr zu tun. Der Motor eines Peugeot 206 steckt im Heck des Seitenwagens, beim Lenken dreht auch das Hinterrad, Robotertechnik unterstützt das Schalten, und selbstverständlich ist ABS auf allen Rädern vorhanden. «Technologie, Kraft und Wendigkeit», sind die Vorzüge, die Gerold Schlegel faszinieren. Das Gespann hat der Finanzunternehmer (www.gutberaten.ch) zu seinem Markenzeichen gemacht. Kunden besucht er mit der Zeus – wem das nicht passt, der passt eben nicht zu Schlegel.

Früher wäre Schlegel wohl bemitleidet worden. Das Gespann war in den Sechzigerjahren das Auto des armen Mannes. Heute ist es ein Freizeitgerät mit wachsender Fangemeinde. Die Firma Armec in Emmenbrücke, die Hightechlösungen im Gespannbau anbietet, stellt zurzeit jedenfalls einen Boom fest: Zehn Gespanne werden dieses Jahr gebaut – doppelt so viele wie in den Jahren zuvor. Armec hat den so genannten Schwenker entwickelt, einen Seitenwagen, der beweglich montiert ist und sich in Kurven mit dem Motorrad neigt. Schweizer Hochtechnologie hat allerdings ihren Preis: 50 000 bis 100 000 Franken kostet ein Armec-Gespann.

Gerold Schlegel fährt mit seiner Zeus auch im Winter. Und da die Kabine beheizt ist, kommen Frau und Tochter immer gerne mit. Das Kind war seinerzeit auch der Grund zur Anschaffung eines Seitenwagens. Immer wenn Schlegel auf dem Töff wegbrausen wollte, gab es daheim Tränen bei der Tochter und beim Vater «ein schlechtes Gefühl».

Wobei es mit einer Vorstellung aufzuräumen gilt: Gespann fahre man, so die vorherrschende Meinung, um einen Passagier mitzunehmen. Tatsächlich kaufen zwar viele Töfffahrer ein Gespann, weil sie den inzwischen angekommenen Nachwuchs mitnehmen wollen. Doch Gespann fährt alleine deswegen keiner sehr lange. Man fährt, wie der Berner Unternehmer Peter Ellenberger sagt, «aus Faszination am asymmetrischen Fahrverhalten».

Wie gesagt: So reden eher Physiker. Gespannfahrer geniessen es einfach.