Die Aare-Tessin AG für Elektrizität, kurz Atel, bereinigt per 1. Mai ihre Führungsstrukturen und legt die Bereiche Energieservice Nord-/Osteuropa sowie Süd-/Westeuropa zusammen. Verantwortlich für den neuen, nicht mehr in geografische Zonen unterteilten Geschäftsbereich zeichnet Giovanni Leonardi, der bereits zwei Tage zuvor das Amt des CEO antritt. Leonardi wird damit Nachfolger von Alessandro Sala, dem Mann, der ihn einst als Assistenten und Betriebsleiter zum grössten Schweizer Energiedienstleister geholt und mit seiner Forderung nach einem neuen Kernkraftwerk vor Wochenfrist aufhorchen liess.

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Das Blackout

Olten am frühen Morgen. Behäbig fliesst die Aare dem Bahnhofquai entlang. Die Gassen der Altstadt werden von Putzkolonnen auf Vordermann gebracht. Langsam erwacht der Alltag. Im Haus mit der Nummer 12 brennt längst schon Licht genauer: es ist gar nie ausgegangen. Denn in der Schaltzentrale der Atel wird generell rund um die Uhr gearbeitet, 7 Tage die Woche. Es herrscht eine fast unheimliche Ruhe im Raum, von dessen Fenstern aus der Blick über die Dächer der Stadt geht.

«Herr Leonardi, was haben Sie am Sonntag, 28. September 2003, um 03.25 Uhr getan?» «Geschlafen.» «Und später?» Der 43-Jährige überlegt kurz, dann verrät seine Miene endgültige Erkenntnis: «Dann bin ich aufgestanden, habe wie jeden Sonntag Morgen den Teletext aufgeschaltet und bin erschrocken.» Italien hatte in dieser Nacht sein bis dahin dunkelstes Blackout der Geschichte erlebt. Und das, weil bei Brunnen ein Baum geknickt und auf eine Leitung gestürzt war. Auf eine, die von Atel betrieben wird.

Für Giovanni Leonardi, zu diesem Zeitpunkt Leiter des Geschäftsbereiches Energieservice Süd-/West-Europa, war klar: «Das wird Probleme geben.» Die Frage nach der Schuld für den massiven Stromausfall im südlichen Nachbarland ist denn auch bis heute nicht geklärt. Erst letzte Woche hat Italien den Schwarzen Peter der Schweiz zugeschoben. «Verlangen Sie nicht von mir, dass ich mich dazu äussere», winkt der ansonsten so redegewandte Nordtessiner ab, um dann, nach einigen Ausführungen zur Komplexität des Übertragungsgeschäftes («es gibt so viele Punkte, an denen man eingreifen kann»), doch noch einen spitzen Pfeil über den Gotthard zu schiessen. «Meiner Ansicht nach», sagt er mit Bestimmtheit, «hat es an diesem Morgen ein Problem in der Kommunikation gegeben.» Sein kurzes Kopfwippen in Richtung Süden verrät, dass er dieses wohl eher am Po denn an der Aare ortet.

Theorie statt Praxis

Giovanni Leonardi ist Energiemensch durch und durch. Mit dem Strom verhalte es sich wie mit der Kunst, holt der eben von einem Mexiko-Aufenthalt zurückgekehrte Globetrotter aus, «man muss sich ein Bild machen von etwas, das man gar nicht sieht, so, als ob man aus dem Kopf spontan ein Werk malt. Oder Schach spielt und in Gedanken Zug um Zug durchgeht». Die Affinität zur Materie liegt den Leonardis im Blut. Schon der Vater stand in Diensten der Atel und verdiente sein Brot als Freileitungsmonteur in der Leventina. «Eine harte Arbeit, und reich wird man dabei auch nicht», erinnert sich Giovanni Leonardi, der mit drei Geschwistern in Giornico aufgewachsen ist.

Der Vater, darauf bedacht, dass es die Kinder dereinst besser haben sollten als er, ermöglichte allen das Studium. Mit 14 Jahren trat Giovanni Leonardi ins Kollegium Altdorf ein, um ein Jahr später wieder ins Tessin zurückzukehren, wo er in Bellinzona die Matura machte. «Das Kollegi war schlimmer als die RS, die richtige Rekrutenschule im Vergleich dazu ein Ferienlager», erinnert sich der mit einer Tessinerin verheiratete Vater einer bald erwachsenen Tochter an seine erste Begegnung mit der Deutschschweiz.

Als es nach dem Schulabgang nicht wie erhofft mit einer Lehre als Elektromonteur bei Landis & Gyr klappte, schrieb sich Leonardi an der ETH Zürich ein statt in der Praxis wollte er sich theoretisch mit dem Thema Energie beschäftigen. Ein weiser Entscheid, lacht er heute, «ich bin zwar Techniker, glaube aber, dass es für alle sicherer ist, wenn ich mich mit Papier beschäftige denn mit Bohrern». Einer, der zu Hause an Steckdosen herumbastle, sei er sowieso nicht. «Wenn ich am Wochenende nach Bodio komme, die Krawatte ausgezogen habe, dann schalte ich ab und bin Privatmensch. Ich mähe den Rasen, gehe mit meiner Tochter Tennis spielen und auswärts essen. Ich kenne da so ein paar kleine Grotti, in denen man ausgezeichnet bekocht wird.» Leonardi schnalzt mit der Zunge.

Konsolidieren und Kommunizieren

Der Strommarkt befindet sich in einer Umbruchphase, das Monopol ist gefallen, die Liberalisierung in vollem Gange. Das einstige regionale Unternehmen Atel hat sich in den letzten Jahren zum europaweit operierenden Konzern mit 8000 Angestellten und Produktionsstätten in Italien, Ungarn und Tschechien gewandelt. Giovanni Leonardi tritt sein Amt zudem in einer Zeit an, in der Atel Rekordergebnisse schreibt.

Sein vordringlichstes Ziel ist es denn auch, diesen Erfolg zu konsolidieren. Mehr will der neue CEO zu strategischen Fragen zum jetzigen Zeitpunkt nicht verlauten lassen, auch nicht, wie er zur Forderung seines Vorgängers nach einem neuen Kernkraftwerk in der Schweiz steht. Zuerst, so Leonardi, müsse er sich nun im neuen Umfeld einleben bis anhin befand sich sein Büro in Zürich, die Zweitwohnung in der Agglomeration, nun ist Olten unter der Woche Lebensmittelpunkt und Gespräche mit seinen Mitarbeitern führen.

Als Chef, sagt Leonardi, sei er einer, der die Türe offen halte; «im Minimum eine Minute bekommt ein jeder, um sein Problem zu schildern oder ein Anliegen vorzubringen, es können aber auch zwanzig daraus werden, wenn es wichtig ist». Und was kann er, der er so ungemein frisch und kommunikativ wirkt, auf den Tod nicht ausstehen? «Vertrauensmissbrauch ist etwas, das mir sehr nahe geht.» Es habe dies in seiner Laufbahn auch schon gegeben, und je mehr er darüber nachdenke, desto öfter komme er zum Schluss, dass die Bereitschaft dazu, jemanden zu hintergehen, wohl eine angeborene Sache sei. So wie die Fähigkeit, logisch zu denken oder gottbegnadet Eishockey zu spielen. Etwas im Übrigen, das Giovanni Leonardi als junger Mann gerne selber auch gekonnt hätte. Was Wunder auch, als Leventiner, mit einem Klub talaufwärts, der zu den beliebtesten der ganzen Schweiz gehört. Letztlich aber sei er wohl zu bequem fürs harte Training gewesen oder Ambri-Piotta doch zu weit entfernt vom elterlichen Haus in Giornico.

Und so konzentrierte er sich in seiner Freizeit bald einmal aufs Geld verdienen. Zuerst als Heidelbeerpflücker (für das Kilo Beeren gabs damals 5 Fr.; der junge Leonardi brachte es an schönen Tagen auf gut und gerne 20 Kilogramm), später als Schneeschaufler in Diensten der Gemeinde. «25 Franken die Stunde verdiente man damit im Winter, investiert wurde das Geld in Sommerferien in Rimini», lacht der neue Atel-Chef, der sich ansonsten augenzwinkernd als Geizkragen bezeichnet. «Ich drehe heute noch jeden Franken zweimal um, bevor ich ihn ausgebe, und kann jahrelang warten, bis ich mir einen Traum erfülle; eine schöne Uhr zum Beispiel, ein neues Auto vielleicht», sagt Leonardi und bemerkt, dass dieser Zug wohl einen Zusammenhang mit seinen Kindertagen in der Leventina habe, zu der Bescheidenheit und Sparsamkeit ebenso gehörten wie der Drang, dem engen Tal den Rücken zu kehren und sein Glück draussen in der Welt zu suchen.



Profil: Steckbrief

Name: Giovanni Leonardi

Funktion: Per 29. April CEO der Atel

Alter: 43

Wohnort: Bodio/Olten

Familie: Verheiratet, eine 17-jährige Tochter

Hobbys: Sport, u.a. Tennis

Karriere:

1991-1993 Aare-Tessin AG, Bodio, Leiter Fernübertragungs-/Fernsteuerungssysteme und Büroinformatik

1994-1997 Sarr SA, Lugano, Direktor

1998-2004 Atel Installationstechnik AG, Zürich, Direktor



Firma

Atel (Aare-Tessin AG für Elektrizität), Olten, ist ein europaweit tätiges Energieunternehmen mit Kernkompetenzen Stromhandel und Energieservices. Atels Anteil am Schweizer Übertragungsnetz beträgt rund 17%; 42% der Kapazitäten SchweizItalien werden vom 1894 als Elektrizitätswerk Olten-Aarburg AG gegründeten Energiedienstleister abgedeckt. Atel verfügt als Stromproduzentin auch in Italien, Ungarn und Tschechien über Produktionsstandorte. Die von der UBS kontrollierte Gruppe beschäftigt 8000 Personen und erzielte 2003 bei einem Umsatz von 5,3 Mrd Fr. einen Rekordgewinn von 272 Mio Fr.