Einen Plan B im Falle eines Neins zur Personenfreizügigkeit gibt es nicht. «Weder wir noch die EU haben dann eine positive Alternative», heisst es in Schweizer Kreisen in Brüssel ohne Schnörkel. Der Weg zur Anwendung der so genannten Guillotine-Klausel, der Aufhebung der sechs anderen Verträge der Bilateralen I, wäre rechtlich vorgezeichnet. Verwiesen wird unter anderem auf Abschnitt 148.1 der Botschaft des Bundesrates vom Juni 1999. Darin hatte die Landesregierung selbst den «angemessenen Parallelismus» zwischen den Verträgen ausdrücklich festgehalten.
Alle Abkommen - oder keines
Die Forderung des Parallelismus zwischen den Abkommen ergibt sich aus folgender Einschätzung der EU: Nur die Gesamtheit dieser Verträge liegt im gegenseitigen Interesse. Demzufolge würden die Abkommen entweder gleichzeitig geschlossen in Kraft gesetzt, oder aber die Ablehnung eines einzigen Abkommens verhindere das Inkrafttreten der anderen sechs. Die Haltung der federführenden Europäischen Kommission hat sich seither in keiner Art und Weise geändert.
«Wir erwarten von der Schweiz ein Ja, zumal wir ihr in der Personenfreizügigkeit analog zu den Mitgliedstaaten ein Übergangsregime zugestanden haben», geben sich Vertreter der Brüsseler Zentralbehörde optimistisch. Tatsächlich haben die zehn neuen Mitgliedsländer in Ost- und Südosteuropa mit ihrem Beitritt sämtliche Rechte und Pflichten der bisherigen 15 EU-Staaten erhalten mit einer grossen Ausnahme: Der Personenfreizügigkeit. Ausser Grossbritannien, Irland und Schweden führten alle anderen zwölf alten EU-Länder per Mai 2004 Zulassungsbeschränkungen ein. Diese sind maximal bis 2011 verlängerbar.
Nach sechs Monaten wäre Schluss
Nicht nur die Europäische Kommission lässt über die Folgen eines Neins für die Schweiz keine Zweifel aufkommen. Auch der derzeitige EU-Vorsitz Grossbritannien als wichtigster politischer Regisseur hinter den Kulissen hat über Interviews seines Botschafters in Bern, Simon Mark Featherstone, gedroht: Die EU würde eine Ablehnung der Vorlage nicht akzeptieren. Im Falle eines Neins der Schweiz müsste deshalb die Kommission die Schweizer Regierung und die Mitgliedstaaten konsultieren, um die förmliche Ausserkraftsetzung von Bilateral I innerhalb eines halben Jahres einzuleiten.
Vor allem die Aufhebung des Vertrags für die Beseitigung technischer Handelshemmnisse träfe die Schweizer Exportindustrie, allen voran die Maschinenbauer, ins Mark. Mit einer Verlagerung zahlreicher Arbeitsplätze ins Ausland wäre laut Branchenverband Swissmem zu rechnen. Aber auch auf politischer Ebene rechnen Beobachter bei einem Nein mit einem Chaos. «Ein negatives Ergebnis würde die Schweiz für lange Zeit zu einem fernen Drittstaat diskreditieren wie beispielsweise Russland oder Südafrika, die weder für einen Beitritt noch für ein Assoziierungsabkommen bereit sind», fasst Jean Russotto zusammen.
Warnung vor Kollateralschäden
Der freie Verkehr von Personen gehöre eben neben der Kapital-, Dienstleistungs- und Warenfreiheit zu den vier fundamentalen Rechtsgrundsätzen der EU, begründet Russotto, der langjährige Schweizer Wirtschaftsanwalt in Brüssel. Die Aufhebung von Bilateral I werde möglicherweise auch Bilateral II zu Fall bringen. Zwar bestehe dafür keine rechtliche Grundlage. Politisch sei dieser Dominoeffekt indes mehr als wahrscheinlich. Als Hüterin der EU-Verträge werde die Europäische Kommission im Falle eines Neins einen Zustandsbericht der Beziehungen Schweiz-EU erstellen.
Darin werde sie feststellen, dass ohne die Personenfreizügigkeit auch der Schengenbeitritt der Schweiz in Bilateral II keinen Sinn macht. Und die Teilnahme der Schweiz am öffentlichen Beschaffungswesen und an den EU-Forschungsprogrammen werde ohne die Personenfreizügigkeit in der Praxis ebenfalls obsolet, warnt Russotto. Die politischen Kollateralschäden im Falle eines Neins wären beträchtlich und schüfen eine extrem aggressive Situation zwischen der Schweiz und der EU.
Dossier Personenfreizügigkeit
«Ich finde keine Schweizer für diesen Job.» Solche Aussagen stammen sowohl von Bauern, Hoteliers, Wirten als auch Hightechunternehmen, die Spezialisten brauchen. Das Freizügigkeitsabkommen mit den 15 alten EU-Ländern, das vor drei Jahren in Kraft getreten ist, erlaubt etwa Hoteliers, das Personal freier auszuwählen und Jahresverträge auszuhandeln. Die Personenfreizügigkeit hat bisher nicht zu Masseneinwanderungen geführt und auch die Arbeitslosenzahl nicht erhöht. Fälle von Lohndumping bleiben die Ausnahme. Die Kontingente für Daueraufenthalte wurden bisher ausgeschöpft, jene für Kurzaufenthalte nur zu 60%.
Dossier Landverkehr
Die Bilanz der möglichst umweltverträglichen gegenseitigen Öffnung im Landverkehr die Erhöhung der Gewichtslimiten für Lastwagen auf 40 t und die Erhebung der LVSA lässt sich sehen: Der Anteil transportierter Güter im alpenquerenden Verkehr hat sich 2004 das erste Mal seit 2000 zu Gunsten der Bahn verschoben, und zwar von 63 auf 65%. Die Zahl der schweren Strassengüterfahrzeuge nahm gegenüber dem Vorjahr um 3% ab, obwohl das Volumen der transportierten Güter um 5% zunahm. Die Gütertonnen auf der Schiene stiegen um 10%.
Dossier öffentl. Beschaffungswesen
Schweizer Unternehmen dürfen seit dem Abkommen bei Aufträgen aus dem Schienenverkehr, der Telekommunikation, der Gas- und Ölversorgung sowie im Seilbahn/Skiliftbau gegenüber europäischen Unternehmen nicht diskriminiert werden. Das ist eine Erweiterung der WTO-Regeln über das Beschaffungswesen. Zudem profitieren die Schweizer Unternehmen von gleichlangen Spiessen bei Ausschreibungen von Gemeinden (Wasser, Energie, Regionalverkehr und See-/Flughäfen). Vor den Bilateralen I mussten die Schweizer Angebote 3% billiger sein und 50% der Wertschöpfung musste im EU-Raum erfolgen.