Wenn Hans-Ulrich Doerig, Vizepräsident der Credit Suisse, einen Termin in seine Agenda einträgt, tut er das mit Bleistift. Falls der Termin platzt, kann er ihn wieder ausradieren. Hat die Verabredung hingegen stattgefunden, überschreibt er den Eintrag akribisch mit Tinte. So trennt der 64-Jährige Vergangenheit (Tinte) und Zukunft (Bleistift). Ende Jahr, meist am 24. Dezember, geht er sein «Instrument zur Gestaltung der Wachzeiten» nochmals durch und zieht Bilanz. Mit dem Taschenrechner addiert er die Stunden, die er in der Bank, auf Reisen und zu Hause bei der Familie verbracht hat.

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Dreissig von diesen zu Tagebüchern ausgewachsenen Terminkalendern, die der Vielflieger von der japanischen Fluggesellschaft JAL bezieht, stehen in seinem Bücherregal: die Chronik eines Berufslebens im Dienste der Credit Suisse. In dieser Zeit hat Doerig den Ruf erlangt, ein Manager zu sein, der sich für keine Aufgabe zu schade ist und dem das Wohlergehen der Bank mehr am Herzen liegt als die Pflege seines Ego.

Doerig ging hin, wohin auch immer er geschickt wurde. «Gab es irgendwo Probleme, musste Doerig ausrücken», sagt ein ehemaliger Credit-Suisse-Manager, «immer er.» Doerig sprang ein, wenn Spitzenpositionen kurzfristig verwaist waren, wie damals, als Josef Ackermann die Bank abrupt verliess. Und Doerig übernahm Aufgaben, die sonst keiner wollte. So war es auch Doerig, der im Herbst 2001 die Verhandlungen führte, als es ums Überleben der Swissair ging. «Ich wurde gebeten, das Dossier zu übernehmen», sagt er. Es bedeutete viel Arbeit: sieben Wochen, sieben Tage die Woche, siebzehn Stunden am Tag.

Als Belohung für seinen Einsatz wurde Doerig immer mal wieder befördert, ganz an die Spitze schaffte er es aber nie. Dort sonnten sich Männer wie Rainer E. Gut, Josef Ackermann oder Lukas Mühlemann. Selbst bei der wohl letzten Chance – bei Mühlemanns Abgang vor bald zwei Jahren – erhielt nicht Doerig die Krone. Präsident des Verwaltungsrates der Credit Suisse wurde Walter Kielholz. Doerig ist sein Vize. Wie ist das zu ertragen? «Ich wurde immer gut behandelt», sagt Doerig und fügt an, «wer immer höher und weiter will, ist oftmals nicht bei der Sache.» Und: «Wir brauchen Marathonläufer, nicht Sprinter.» Vertraute vermuten, dass es ihn insgeheim mit Genugtuung erfüllt, wie sich die Dinge bei der Credit Suisse entwickelt haben: Von den einstigen Starbankern ist heute kein einziger mehr da.

Spiritus Rector der Bildungsreform
Hans-Ulrich Doerig will die Schweizer Hochschulen zu Top-Unis machen. Und legt Rezepte dafür vor.


Wichtige Arbeiten schreibt Hans-Ulrich Doerig entweder am Klapptisch in der Swiss oder am Granittisch in seinem Ferienhaus in Pugema TI. Vergangenen Sommer war es wieder so weit. Mit schönster Aussicht auf den Lago di Lugano und den San Salvatore entwickelte der Ökonom ein Rechenmodell zur Bildungsreform. Als Mitglied des Universitätsrats und Lehrbeauftragter der Universität Zürich setzt sich Doerig schon seit Jahren für den Bildungsstandort Schweiz ein. «Bildung ist das Wichtigste, was man seinen Kindern mitgeben kann», sagt der Vater einer 18-jährigen Tochter und eines 17-jährigen Sohnes.


Mit dem 100 Seiten starken Reformpapier «Neue Wege zur Hochschulfinanzierung», das von der Denkfabrik Avenir Suisse und dem Wirtschaftsverband Economiesuisse unterstützt wird, will er die Schweizer Hochschulen vor dem Abstieg in die Bedeutungslosigkeit retten. Zu viele Studenten, zu lange Studienzeiten, zu hohe Abbruchquoten und zu viele abwanderungswillige Forscher sind schuld, dass die Schweiz im internationalen Vergleich den Anschluss verliert. Im Uni-Rating der Europäischen Union figuriert heute keine einzige Schweizer Universität unter den top 20. Die Spitzenplätze besetzen amerikanische Universitäten. Bereits laufen die Schweizer Gefahr, von osteuropäischen und chinesischen Unis überholt zu werden.


Doerig fordert mehr Wettbewerb unter den Bildungsstätten, intensivere Betreuung der Studenten und höhere Studiengebühren. Zur Finanzierung schlägt er vor, die Studiengebühren, derzeit überall unter 1500 Franken, auf 5000 Franken im Jahr zu erhöhen. 500 Millionen Franken stünden damit den Schweizer Universitäten zusätzlich zur Verfügung – genug, um 800 weitere Professoren zu engagieren und damit die Lehr- und Forschungsqualität zu heben. Um zu verhindern, dass Hochschulen zu Hochburgen für Reiche werden, hat er ein Modell für sozialverträgliche Studiendarlehen entwickelt.


Doerig versucht nun zu verhindern, dass das Papier das gleiche Schicksal ereilt wie das vor zwei Jahren erschienene «Manifest für den Denkplatz Schweiz», das in den Schubladen vergilbt. Er setzt die Hebel in Bern höchstpersönlich in Bewegung. Mit Bildungsminister Pascal Couchepin ist Doerig per du, seit er mit ihm im Verwaltungsrat der Elektrowatt sass. Wirtschaftminister Joseph Deiss kennt er ebenfalls persönlich, und mit Finanzvorstand Hans-Rudolf Merz hat er in St. Gallen studiert. Doerig schliesst nicht aus, dass seine Bildungsreform noch vor Ende Jahr auf der politischen Bühne zum Thema wird.

Doerig hingegen betritt wie eh und je morgens um sieben Uhr sein Büro am Zürcher Paradeplatz. Was steckt dahinter, wenn einer dreissig Jahre lang im Hintergrund Knochenarbeit verrichtet, ohne bei den Rochaden an der Spitze je berücksichtigt worden zu sein, und nun, am Ende seiner Laufbahn, sagt, er fühle sich «sehr glücklich»? Kolleginnen und Kollegen heben drei herausragende Eigenschaften Doerigs hervor: Loyalität, Bodenständigkeit und Fleiss.

Der Mann ist eine treue Seele. Für seine grenzenlose Identifikation mit der Credit Suisse wird Doerig bewundert und manchmal auch belächelt. Wagt es ein verdienter Mitarbeiter zu kündigen, bezichtigt ihn Doerig der Illoyalität und meint das auch so. Er hat nie einen Grund gesehen, die Bank zu verlassen. Nicht einmal, als Krisen wie der Chiasso-Skandal die Credit Suisse erschütterten: «Da sagte ich: Jetzt erst recht.»

Der Appenzeller hat in der Welt von Hedge-Funds und High-Level-Risk nie die Bodenhaftung verloren. Von seinen Mitarbeitern verlangt er einfache Lösungen, sei die Fragestellung auch noch so komplex. Gefragt sind knappe Analysen und zwei, maximal drei konkrete Lösungsvorschläge. Sind die Papiere für seinen Geschmack zu aufwändig, schickt er sie mit dem Kommentar «Jelmoli-Katalog» an den Absender zurück. Ähnlich pragmatisch verfährt er mit Äusserlichkeiten. Er trägt nicht Rolex, sondern Swatch oder Mondaine. Und während seine Kollegen den Schneider ins Büro kommen lassen, kauft er beim Herrenausstatter PKZ in zehn Minuten drei Anzüge und neue gelbe Krawatten, sein Markenzeichen. Nur eine extravagante Leidenschaft hat Doerig über die Jahre entwickelt: moderne Kunst. Kaufen tut er sie allerdings so spontan wie Kleider: «Meine Galeristen wissen: Wenn ich in den ersten fünf Minuten nichts gekauft habe, machen sie kein Geschäft.»

Hans-Ulrich Doerig ist ungeheuer fleissig. Seine Arbeitswochen zählen siebzig Stunden und mehr, phasenweise hat er jeden Abend einen Kundenanlass. Auch von seiner Entourage verlangt er vollen Einsatz. So hält Doerig die Dossiers schon bereit, wenn die Mitarbeiter morgens ins Büro kommen. Macht er in seiner Abteilung den Rundgang, hallt in breitem Ostschweizerdialekt «Wa lauft, wa goht?» durch die Räume. Duckt sich jemand, schmettert er: «Bei mir gibts Arbeit!»

In der Leistungsbereitschaft gibt es keine Kompromisse: Anfang der Achtzigerjahre, als Doerig interimistisch die Credit Suisse First Boston (CSFB) in London leitet, stellt sich Hansruedi Stadler bei ihm vor, ein junger Angestellter der Kreditanstalt in Zürich. Stadler möchte intern wechseln. Als er wünscht, zwischen seinem Job in Zürich und dem in London einen Monat Ferien zu nehmen, reagiert die «Respektsperson Doerig» (Stadler) scharf: «Wenn Sie den Job wollen, müssen Sie sofort anfangen.» Stadler fängt sofort an. Heute ist er Managing Director der Credit Suisse in Zürich.

Doerigs Einsatz für die Bank reicht bis zur Selbstaufopferung. «Er ist die gute Seele der Bank», sagt Hans Rudloff, ehemaliger Kollege von Doerig und heute Präsident der Barclays Capital in London, «einer, der sich konstant fürs Ganze einsetzt.» Hier liegt auch seine grösste Schwäche. Doerig kann nicht Nein sagen. Einem hat diese Eigenart ganz entscheidend genützt: Rainer E. Gut, Baumeister der Credit Suisse und Mentor Doerigs.

Nach dem Studium an der Hochschule St. Gallen nimmt Doerig 1968 bei der US-Investment-Bank JP Morgan in New York eine Stelle im Research an. Im Schweizer Club in New York begegnet er Gut – und muss nicht um dessen Sympathie werben: Doerigs Vater hatte Gut in der Kantonsschule in Zug Englisch unterrichtet. Eines Abends im Schweizer Club hält Doerig Gut das lukrative Jobangebot eines Schweizer Finanzdienstleisters hin und fragt, ob er wechseln soll. Gut, damals stellvertretender Generaldirektor der Schweizerischen Kreditanstalt, hakt ein und bietet dem 33-Jährigen den Posten eines Vizedirektors an.

Doerig sagt nicht Nein und wird zum jüngsten Vizedirektor, den die Bank bis dahin je engagiert hat. Er fühlt sich im Glück und wird für Rainer Gut zu einem wahren Glücksfall: Doerig übernimmt jede Aufgabe, die Gut ihm zuteilt. In Zürich steigt er in jenem Fach ein, das er bei JP Morgan von der Pike auf gelernt hat: im Firmenkunden- und Emissionsgeschäft. Zudem fasst er immer wieder Spezialaufträge, etwa 1978, als die Kreditanstalt durch den Chiasso-Skandal in die Krise stürzt. Kadermann Doerig muss die Grosskunden bei Laune halten und sich um notleidende Kredite kümmern. Doerig bezeichnet diese Zeit als die schwierigste, die er bei der Bank erlebt hat.

Wenig später, Anfang der Achtzigerjahre, schickt Gut seinen Gefolgsmann zur Credit Suisse First Boston in London. Dort behindern Querelen und Intrigen den Geschäftsgang. Doerig engagiert sich zwei Jahre lang als interimistischer Chief Executive Officer und glättet die Wogen; da holt ihn Gut bereits wieder nach Zürich und lässt ihn zum Generaldirektor aufsteigen. Das ist mehr, als sich Doerig je erhofft hat: «Ich wollte immer Direktor werden, aber Generaldirektor?» Er bleibt es zehn Jahre lang.

Später darf er sich noch zweimal CEO respektive Präsident der Generaldirektion nennen, wenn auch jeweils nur für kurze Zeit: Präsident der Generaldirektion wird er nach dem brüsken Abgang von Josef Ackermann – zwischen der entsprechenden Anfrage von Rainer Gut und der Antwort von Hans-Ulrich Doerig liegen exakt 24 Stunden. Als er den Posten wenige Monate später an Lukas Mühlemann abtreten muss, braucht er ein neues Aktionsfeld: Als Chairman und CEO der Credit Suisse First Boston fasst er die Aufgabe, die Credit Suisse International mit der Credit Suisse First Boston kulturell und betriebswirtschaftlich zusammenzuführen, für ihn «eine Chance, mich abermals zu bewähren». Chef der erfolgreich fusionierten Investment-Bank wird nach einem Jahr nicht etwa er, sondern der Amerikaner Allen Wheat. Doerig kehrt stattdessen zur Heimbasis zurück, diesmal als Vize von Konzernchef Lukas Mühlemann.

Rainer Gut fand ihn offenbar nicht gut genug, um ihn zum obersten Chef zu machen. Er selber hat ein entspanntes Verhältnis zu seiner Karriere: «Ich hatte das Glück, dass ich alle paar Jahre etwas Neues machen konnte. Ich bin überall lange genug geblieben, um Fehler machen zu können.» Kapitale Fehler sind ihm keine unterlaufen. Kleinere Misstritte – etwa Fehleinschätzungen in Japan und Russland – haben er und Rainer Gut im Ordner Berufsrisiko abgelegt.

In den Zeiten, in denen eine Reorganisation der nächsten folgte, war Doerig bald eine der wenigen Konstanten in der Bank. Drei Jahrzehnte im Kader haben ihn zudem zum grössten Insider der Bank gemacht. Und: Bei ihm laufen die wichtigen Kundenkontakte zusammen. Doerig ist gesellig und jovial und hat ein Flair für den Umgang mit anderen Mentalitäten. Anfang der Achtzigerjahre begann er, Kontakte nach Asien zu knüpfen und zu pflegen. Die bringen der Bank nicht nur Umsatz, sondern auch Prestige: Nächsten Herbst weilt eine Delegation von chinesischen Spitzenmanagern und Beamten in der Credit-Suisse-Zentrale zur Ausbildung. Die Credit Suisse wurde dafür als erstes Finanzinstitut von der chinesischen Regierung angefragt. Das Unterrichtsmaterial hat Doerig, der nebenbei auch Bücher und Zeitungsartikel publiziert hat, schon bereit. «Operational Risks in Financial Services» heisst der Titel seines 135 Seiten starken Handbuchs, das derzeit auf Mandarin übersetzt wird.

Seine Fähigkeit, «Eis zu brechen und Türen zu öffnen», wie ihn seine langjährige Sekretärin Ruth Mächler beschreibt, diente ihm auch beim Rekrutieren des Nachwuchses. «Nachwuchsförderung war mein professionelles Hobby», sagt Doerig. Mehr als tausend Hochschulabgänger hat er interviewt und viele davon angestellt, darunter Alex Widmer, bis vor kurzem Chef Private Banking der Credit Suisse, oder Rolf Dörig, heute Vormann der Swiss Life. Eine Leidenschaft, die Leiden schafft: Doerig verwandelt sich vom Gentleman zum Polterer, wenn er übers Niveau an den Schweizer Hochschulen zu reden anfängt. «Wir haben zu wenig motivierte Leute», schimpft er, «wenn nicht bald etwas passiert, haben wir ein Riesenproblem.» Damit etwas passiert, drängt Doerig nun mit einem Vorstoss zur Hochschulreform ins Rampenlicht (siehe «Spiritus Rector der Bildungsreform»).

Nicht dass es ihm in der Bank langweilig geworden wäre und er nun, ein Jahr vor dem offiziellen Pensionierungsalter, neue Arbeit im Hochschulwesen oder der Politik suchen würde. Im Gegenteil: Doerig strotzt vor Gesundheit («ich habe gute Gene») und sendet auch keinerlei Signale aus, in Rente gehen zu wollen. Für den Verwaltungsrat schreiben die Statuten der Credit Suisse ein Höchstalter von 70 Jahren vor. Wenn sie nicht extra für Doerig angepasst werden, bleibt ihm noch Zeit für sechs Agenden.