Dieser Tage wurde in meiner Bankunternehmung ein IT-gestütztes System in Betrieb genommen, das dem Kundenberater erlaubt, die Bewirtschaftung von Vermögen nach individuellen Rendite- und Risikovorstellungen der Kunden vorzunehmen. Das Besondere daran ist, dass keinerlei Kategorisierung der Anleger (gross oder klein, ertrags- oder wachstumsorientiert und dergleichen) notwendig ist und dass die Risikofrage nach dem Stand der finanztheoretischen Erkenntnisse gelöst ist. Asymmetrische Instrumente wie Wandelanleihen oder Optionsscheine werden ökonomisch korrekt berücksichtigt, Schuldnerrisiken werden sinnvoll aggregiert, und irgendwelche Abweichungen zwischen den Absichten des Anlegers und dem Ist-Zustand in der Vermögensdisposition werden farbenfroh wiedergegeben. Je farbiger, desto grösser die Abweichung.

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So weit nichts Besonderes, möchte man sagen. Ein solches Instrumentarium sollte doch zur seriösen Arbeit eines Vermögensverwalters gehören! Ja, allerdings mit der Einschränkung, dass, da diese Dinge ökonomisch, finanztheoretisch und in Bezug auf die Programmierung alles andere als trivial sind, eine solche umfassende, konsistente Anlagemethode kaum irgendwo ihre konsequente Anwendung findet. Die Brücke zu schlagen zwischen dem buchhalterischen Ist eines Konto- und Depotauszugs und den von Wahrscheinlichkeiten geprägten, szenarioorientierten Darstellungen von einzelnen, zu Portfolios aggregierten Finanzinstrumenten mit höchst unterschiedlichen spezifischen Eigenschaften, war und ist eine Herausforderung erster Güte. Dahinter stecken eine hochkomplexe Datenhaltung und eine sehr aufwändige Bewirtschaftung, die von einem exakt arbeitenden Bankenorganismus täglich unterhalten werden muss.

Nun: Die Freude über die erfolgreiche Einführung eines solchen Systems ist das eine, das Nachdenken über dessen Zustandekommen das andere. Die Anfänge des Systems reichen nämlich gut zehn Jahre zurück. Von der SBG herkommend, stellte ich als junger Wegelin-Teilhaber in der damaligen Minibank mit ihren rund 25 Mitarbeitern drei blutjunge HSG-Studenten ein, um sie in Teilzeit mit einigen finanztheoretischen Projekten zu betrauen. Aus den Arbeiten wurden drei Dissertationen, eine Produktelinie für die eigene Bank (die «Strukturierten Produkte») und eine eigenständige Software- und Beratungsfirma. Sodann flossen die damaligen Überlegungen in die Evaluation einer neuen Bankensoftware für Wegelin ein. Danach wurde während beinahe zehn Jahren konzipiert, gestritten, gebaut, verworfen, verbessert – und schrittweise interne Überzeugungsarbeit geleistet. Denn so klar, sinnvoll, weiterführend den Initianten die Vision einer konsistenten Anlagemethode von Beginn an erschien, so unnütz, teuer, umständlich, ja bedrohlich wurde sie von vielen Praktikern und Führungskräften wahrgenommen. Überzeugen statt überreden oder befehlen hiess die Losung in diesem Langzeitprojekt.

Gab es je eine Budgetierung des Gesamtaufwands, gab es je einen Businessplan, gab es je konkrete Vorstellungen zum betriebswirtschaftlichen Gewinn aus der ganzen Übung? Gab es je detailbesessene Pflichtenhefte, terminlich genau umschriebene Meilensteine? War man sich von Beginn an bewusst, welche personellen Konsequenzen das Projekt nach sich ziehen würde? Welche organisatorischen Veränderungen? Nichts von alledem. Wir wussten im Wesentlichen selber nicht, worauf wir uns einlassen würden. Wir verhielten uns wie regelrechte Antihelden der Transparenz und der Corporate Governance – die wahren Absichten immer ein wenig verschleiernd, die effektiv zu erwartenden Kosten systematisch unterschätzend, die nächsten Entwicklungsschritte als Sachzwang vorwegnehmend. Aber von einer Vision beseelt, wie sie ein Business- oder Projektplan nie und nimmer wiedergeben könnte. Die Bulletpoints von PowerPoint-Präsentationen sind ja ohnehin die grossen Motivationskiller der Neuzeit. Eine Vision ist kein lineares Gedankengebäude, das mir nichts, dir nichts in logische Teilschritte aufspaltbar ist, sondern hat mehr mit einem Gesamtkunstwerk als mit einer gefühlskalten Checkliste gemeinsam.

Wenn die Pharmaindustrie ihre Zahlen präsentiert, dann spricht man neben dem quantitativ leicht Fasslichen über die Produktepipeline, gelegentlich über kommende Blockbuster, und männiglich ist sich im Klaren, dass diese künftigen Ertragsbringer das Entscheidende sind für die Bewertung der Gesamtunternehmung. In den meisten anderen Bereichen der Wirtschaft – namentlich im Dienstleistungssektor – tut man so, als gebe es die langsam anfahrenden, schwer zu wendenden Ozeandampfer der Produkteentwicklung nicht. Vermutlich trifft es sogar zu, dass es sie nicht beziehungsweise viel zu wenige davon gibt. Weil nämlich allzu viel Augenmerk auf die kurzfristigen Erfolge (Einsparungen von Personalkosten, Steigerung der dem Kunden abgezwackten Kommissionserträge) gelegt wird, und weil die durchschnittlichen Finanzanalysten auch nur solch kurzfristige Aspekte zu berücksichtigen, ja zu verstehen in der Lage sind.

Zugegeben, ein Privatbankier befindet sich in einer Art geschützter Werkstatt, weil er keine Jahres-, Semester- und Quartalszahlen veröffentlichen muss. Nicht vorzustellen, wie wir vor versammelter Analystengemeinde und nachgelagerter Hyänenmeute der Finanzmedien unsere jährlichen Aufwendungen für ein sehr, sehr lange nicht fertig werdendes System hätten rechtfertigen können. Die Finanzwelt hat Mühe im Umgang mit allem, was nicht Instant-Erfolge erzielt. Mühe mit Führungskräften, die nicht jedes Quartal – jedes Quartal, so ein Unsinn! – noch bessere Zahlen vorweisen können. Mühe im Umgang mit visionären Projekten, die meistens halt etwas länger dauern, mit Durststrecken versehen sind, Zweifel aufkommen lassen und während langer Zeit alles andere als attraktiv erscheinen. So gesehen ist es mir äusserst wohl als Teilhaber einer Kommanditgesellschaft, in der fernab von jeglichen geschriebenen Corporate-Governance-Regeln gelegentlich sogar kleine Wunder vollbracht werden können.

Geduld und Gelassenheit sind der Schlüsselfaktor in der Genese von Wundern. Geduld und Gelassenheit – Gelassenheit auch gegenüber der Möglichkeit, dass man einmal scheitern könnte! – sind nun aber Eigenschaften, die kaum je zuoberst auf den Qualifikationserfordernissen von Führungskräften stehen. Vielmehr wünscht man sich normalerweise «harte», «durchgreifende», «begeisternde» Typen mit Sinn für Glamour und Geschwindigkeit. Zweifler, Skeptiker, schwierige Menschen haben offenbar in der Scheinwelt des praktizierten Kapitalismus keinen Platz. Vielleicht liegt darin ein Grund für den immer wieder erstaunlichen Erfolg der relativ kleinen Mitbewerber und die immer wieder enttäuschenden Resultate der auf «economies of scale» ausgerichteten Grossen. Die Kleinen können es sich leisten, Zeit zu haben. Kleine können es sich auch leisten, ohne pseudogenaue Datenerhebungswut auszukommen. Wenn man seine Unternehmung und – vor allem – die in diesem und für diesen Organismus arbeitenden Menschen kennt, dann braucht man viel weniger Listen, Quotienten und Kennzahlen. Gefühle, zeitweilig durchaus auch ungute, sind oft bessere Ratgeber als zentimeterdicke Dokumentationen. Wenn auch nur ein Teil der Zeit, die dem Studium meist belanglosen Datenmaterials geopfert wird, der unternehmerischen Kreativität gewidmet würde: Um wie viel farbiger und innovativer ginge es in vielen Unternehmungen doch zu und her!

Das Bewirtschaften der weichen Erfolgsfaktoren, der langfristig wirksamen Aspekte der Unternehmensführung überhaupt hat gegenwärtig keine Hochkonjunktur. Alles schreit nach «control» und glaubt, damit sei die Zukunft von Unternehmungen zu gewinnen. Von Verantwortung spricht niemand. Langfristige Ausrichtung, eindeutige Verantwortlichkeit und Vertrauen in eine Unternehmensführung, die, unbeirrt von Moden, Kursschwankungen und Anfechtungen, ihren Weg geht: Solche Qualitäten muss die Finanzwelt, müssen deren Analysten und deren Anleger erst wieder finden. Ihre Berücksichtigung könnte Wunder wirken.