Wenn Rafael Alducin Pérez seine Kolonnen in Bewegung setzt, ist höchste Präzision angesagt. Im Minutentakt rollen die schweren Lastwagen heran, werden mit ihrer zähflüssigen Fracht voll gepumpt und brausen nach einem kurzen Zwischenstopp wieder in alle Himmelsrichtungen davon.

Mit dem Walkie-Talkie, das permanent an seinen Lippen klebt, und dem faserverstärkten Plastikschutzhelm auf seinem gelockten Schädel ähnelt Pérez einem General, allerdings einem der freundlichen Sorte: Das Aufmarschgebiet seiner Genietruppen – über 600 rotierende Transportbeton-Trucks – liegt in Zentralamerika und umfasst eine Fläche, die rund 50-mal so gross ist wie das Territorium der Schweiz. Allein in der Hauptstadt Mexico City sind 90 rollende, mit dem neuen Holcim-Logo verzierte Betonmischaggregate beinahe Tag und Nacht unterwegs.

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

An einer sechsspurigen Einfallsstrasse im Süden der nach allen Seiten hin wuchernden Megalopolis befindet sich eine der wichtigsten Betonmischzentralen, die Rafael Pérez landesweit unterstellt sind. Mit Hilfe eines computergestützten Leitsystems und aktueller Verkehrsmeldungen aus dem lokalen Rundfunk werden die mobilen Transporteinheiten von hier aus durch das Häusermeer der mexikanischen Kapitale gelotst. Nicht selten werden die Camionneure per Funk angewiesen, von ihrer vorgegebenen Route abzuweichen, um spontan eine schneller erreichbare Lieferadresse anzusteuern. Maximal anderthalb Stunden stehen ihnen pro Wegstrecke zur Verfügung. Falls diese Limite von einem der Driver aus verkehrstechnischen Gründen nicht eingehalten wird, sind acht Kubikmeter Transportbeton futsch – weil bereits zu Klumpen erstarrt.

«Ich bin nicht gern die Nummer eins im Markt»
CEO Markus Akermann über den Vorbildcharakter Mexikos, Marktführerschaft und hohe Margen.


BILANZ: Jeder fünfte Franken, den Holcim verdient, stammt aus Mexiko. Wie lässt sich das erklären?


Markus Akermann: Wir verfügen in Mexiko über modernste Produktionsanlagen, was uns erlaubt, besonders günstig zu produzieren. In den letzten zehn Jahren konnten wir die Produktionskosten im Schnitt um 15 Dollar pro Tonne senken.


Wie viel kostet eine Tonne Zement?


Der Nettopreis pro Tonne Zement ab Werk beträgt derzeit rund 85 US-Dollar.


Unabhängige Quellen sprechen von bis zu 130 US-Dollar pro Tonne.


Darin sind Steuern, Transport- und Logistikkosten enthalten. 130 Dollar sehen wir nie. Zuerst gehen davon noch etwa 45 Dollar an Dritte weg.


Vier Fünftel des Zements wird in Mexiko in 50-Kilo-Säcken abgesetzt. Wo liegt der Durchschnittspreis dieser so genannten Sackware?


Wenn ich von Verkaufspreis spreche, rechne ich dies immer auf die Preise ab Werk zurück. Aber es gibt Sackkunden, die 130 Dollar bezahlen. In Mexiko sind Produktedifferenzierung und Kundentreue weit fortgeschritten, was das Land konzernweit zu einem Vorbild macht.


In Mexiko bilden die Zementanbieter ein implizites Kartell. Was sagen Sie zu dieser Interpretation?


In Bezug auf Mexiko möchte ich das Wort Kartell nicht hören. Es gibt absolut keine Preisabsprachen in diesem Land, genauso wenig wie ich es an anderen Konzernstandorten toleriere.


Cemex als Marktführer setzt einen Referenzpreis fest, und alle anderen halten sich daran. Richtig?


Es stimmt, dass es in Mexiko einen klaren Preisführer gibt. Cemex kontrolliert über 50 Prozent des Marktes und verfolgt eine Preispolitik, die einen vernünftigen Ertrag ermöglicht. Ende der Achtzigerjahre kontrollierte Cemex noch über 60 Prozent, hat inzwischen aber an andere Anbieter verloren. Zu behaupten, die Konkurrenz spiele nicht, ist doch absurd.


Sie meinen, in Mexiko existiert so etwas wie Preiswettbewerb?


Ja, natürlich. Jeder Akteur muss sich allerdings sehr genau überlegen, ob und mit welchen Mitteln er allenfalls Marktanteile dazugewinnen möchte. Wenn alle Anbieter über genügend grosse Kapazitäten verfügen, schaden sie sich bei einem Preiskampf letztlich nur selbst. Am Ende sind die Marktanteile wieder gleich verteilt, nur bei insgesamt tieferen Preisen.


Warum konnten neue Anbieter ihren Marktanteil vor allem zu Lasten von Cemex ausweiten?


Der Marktführer hat es doch immer am schwersten. Deshalb bin ich auch nicht gern die Nummer eins in einem Markt. Eine gute Zweitposition ist oftmals viel komfortabler.


Welche Konsequenzen hat Holcim aus den laufenden Verfahren wegen angeblicher Preisabsprachen unter anderem in Deutschland und Italien gezogen?


Wir haben die Problematik erkannt und nehmen diese auch sehr ernst: Preisabsprachen werden bei Holcim nicht geduldet. Wir sind daran, einen klaren Verhaltenskodex in Sachen fairen Wettbewerbs zu implementieren. Ein entsprechendes Ausbildungsprogramm wird auf Konzernleitungsebene koordiniert und überwacht. Selbst wenn sich ein Wettbewerbsvergehen irgendwo in einem Entwicklungsland abspielt und möglicherweise nur mit ein paar hunderttausend Franken gebüsst wird, darf man so etwas nicht als Lappalie abtun. Es geht um die Grundhaltung, und die versuchen wir bei Holcim derzeit ganz klar zu verankern.

Mit einem Verständnis erheischenden Lächeln deutet der Cheflogistiker der mexikanische Holcim-Tochter Apasco auf einen riesigen Stadtplan hinter sich an der Wand. In verschiedenen Farben sind darauf die aktuellen Einsatzschwerpunkte sowie alternative Zufahrtsrouten im Strassengewirr der 20-Millionen-Metropole markiert, vor allem Grossbaustellen, die «just in time» mit hohen Betonvolumen versorgt werden müssen. «Unsere Kapazitäten sind genügend gross, um sämtliche Aufträge zu erfüllen», beruhigt Pérez. «Kritisch sind nur das hohe Verkehrsaufkommen und die zahlreichen Staus.»

Obschon das Geschäft mit dem Transportbeton boomt, entfallen nur zwölf Prozent von insgesamt 7,3 Millionen Tonnen Zement, die Holcim in ganz Mexiko absetzt, auf diesen Absatzkanal. Vier Fünftel des vielseitigen Baumaterials werden in 50-Kilo-Säcken vertrieben und landen grösstenteils im so genannt informellen Sektor der Wirtschaft – mit ein Grund dafür, warum in der Heimat von Taco und Tequila bisweilen auch leicht euphemistisch vom «grauen Gold» die Rede ist. «In den Industrieländern gilt Zement als Rohstoff, ähnlich wie Kupfer oder Baumwolle», erklärt HSG-Ökonom Markus Akermann (57), der den Schweizer Zementmulti Holcim (vormals: Holderbank) seit zweieinhalb Jahren führt. «Hier in Mexiko ist Zement hingegen ein Konsum-produkt, fast schon wie Zahnpasta.»

Für Holcim mit administrativem Hauptsitz in Zürich Oerlikon und Tochtergesellschaften in über 70 Ländern rund um den Erdball ist der mexikanische Markt fürwahr eine Goldgrube:

20 Prozent des letztjährigen Betriebsgewinns stammten aus dem aufstrebenden Schwellenland im Süden der USA, obschon der Umsatz im gleichen Zeitraum keine acht Prozent der weltweiten Zementverkäufe von Holcim ausmachte. Gemessen am Reingewinn des Konzerns, sprudelte 2003 sogar mehr als jeder vierte Franken aus dem lukrativen Tequila-Markt. Kurz: Nirgends auf der Welt verdient der Schweizer Zementgrossist so üppig wie in Mexiko, was sich unter anderem an einer traumhaften Gewinnmarge (Ebitda) von 44 Prozent ablesen lässt.

Erklärungsansätze für die ausserordentliche Profitabilität gibt es verschiedene. Sie reichen von straffer Kostenkontrolle, cleverem Vertriebskanalmanagement und ausgeklügelter Logistik bis hin zum Verdacht, der Preismechanismus im mexikanischen Zementmarkt spiele nur sehr eingeschränkt. Nicht zu vernachlässigen ist mit Sicherheit der Einfluss von Marktführer Cemex, der über 50 Prozent der nationalen Zementverkäufe kontrolliert und eine ausgeprägte Hochpreispolitik verfolgt. Gleichsam im Windschatten von Cemex segelnd, bringt es Holcim/Apasco in Mexiko derzeit auf einen Marktanteil von rund 23 Prozent (siehe «Ich bin nicht gern die Nummer eins im Markt»).

Das war nicht immer so. Bis Mitte der Achtzigerjahre dominierte Cemex die nördliche Landeshälfte als eigentlicher Monopolist. Doch damit wollten sich die expansionshungrigen Schweizer nicht abfinden. «Wir gingen sehr aggressiv vor und begannen im Norden, also quasi im Feindesland, mit dem Bau eines brandneuen Werks. Cemex hat dies damals gar nicht gern gesehen», erinnert sich Holcim-CEO Akermann an diese wettbewerbsintensive Phase. Als Ende der Achtzigerjahre mit Tolteca ein grosser nationaler Mitbewerber zum Verkauf stand, spitzte sich die Lage zu: Cemex blätterte für Tolteca über 800 Millionen Dollar auf den Tisch, entschied die Ausmarchung damit für sich und gebot auf ihrem Heimmarkt fortan über einen Marktanteil von über 60 Prozent. «Dass wir von Cemex ausgestochen wurden, hat uns in Mexiko alle sehr geprägt», resümiert Akermann, der als Bereichsleiter für Lateinamerika seinerzeit direkt in den Übernahmekampf involviert war.

Was blieb den Schweizern übrig, als nach anderen Mitteln und Wegen zu suchen, um Cemex auf deren angestammtem Terrain die Stirn bieten zu können? In rascher Kadenz fuhr Holcim/Apasco damals die Produktionskapazitäten hoch, übernahm ein Werk in Acapulco, baute ein weiteres an der Pazifikküste und erweiterte zielstrebig bereits bestehende Ofenlinien.

«Das waren gewaltige Kämpfe um die besten Tonnen», erinnert sich Markus Akermann, der seit zweieinhalb Jahren nicht nur den ganzen Konzern mit weltweit 48 000 Mitarbeitern führt, sondern gleichzeitig auch noch die Zeit findet, die mexikanische Tochtergesellschaft mit 2500 Angestellten persönlich zu betreuen. «Die strategisch geschickte Positionierung unserer Werke in den lukrativen Hauptmärkten der Cemex erlaubt es uns, von der guten Preislage zu profitieren», verrät der langjährige Holderbank-Delegierte Max Amstutz und charakterisiert damit trefflich die spezifische Wettbewerbslage im mexikanischen Hochland.

Max Amstutz ist nicht nur Mentor und Lehrmeister des heutigen Konzernchefs, sondern gilt auch als der eigentliche Architekt einer starken Holcim-Präsenz in ganz Lateinamerika. Im Auftrag von Thomas Schmidheiny baute Amstutz in den Sechziger- und Siebzigerjahren in der gesamten Region strategische Brückenköpfe auf – ein länderübergreifendes Beteiligungsnetzwerk an lokalen Zementfirmen, das sukzessive verstärkt und erweitert wurde und Holcim heute in der Region eine eigentliche Vormachtstellung garantiert. «Da wir praktisch ‹freie Jagd› hatten – Lafarge war mit sich selber, Europa und Nordamerika beschäftigt, und Cemex existierte als Konzern noch nicht –, konnten wir ein Netzwerk aufbauen, das Holcim zum wichtigsten Zementkonzern in Lateinamerika macht», erinnert sich der Holderbank-Veteran.

Über seinen ehemaligen Assistenten Markus Akermann sagt Amstutz: «Er ist kein sprühender Geist mit ‹brillanten› Ideen, die schon manchen Unternehmensführer mit seiner Gesellschaft ins Elend geführt haben. Seine Stärke ist solide durchdachte, pragmatisch abgestützte Überzeugungskraft. Er ist ein eher nüchterner Mensch, der nicht viele Worte braucht, ja manchmal sogar schroff wirkt, aber immer überzeugt.» Max Amstutz muss es wissen, bereisten die beiden doch gemeinsam nicht nur die halbe Welt, sondern arbeiteten in der welschen Holderbank-Zentrale in Céli-gny während Jahrzehnten aufs Engste zusammen. «Er ist ein harter Schaffer», attestiert Amstutz dem neuen CEO: «Regelmässig haben wir beide am Samstag gearbeitet, manchmal auch am Sonntag, die einzigen Tage, an denen wir einigermassen Ruhe hatten und Ideen entwickeln und durchdiskutieren konnten.»

Unter anderem wälzten die beiden Kämpen schon damals den Plan, die mexikanische Cash-Cow nach Möglichkeit noch stärker an den helvetischen Mutterkonzern zu binden – eine Idee, die keineswegs neu ist und sich nahtlos in die bewährte Holderbank-Strategie eines schrittweisen Beteiligungsausbaus im Ausland fügt. Als Markus Akermann 1993 in die Konzernleitung aufstieg (zuständig für Lateinamerika und das weltweite Handelsgeschäft) und mithin auch die oberste Linienverantwortung für Apasco übernahm, betrug die Beteiligungsquote an der mexikanischen Tochtergesellschaft 53 Prozent. Zielstrebig kaufte er in der Folge Apasco-Aktien zurück und liess die übernommenen Titel vernichten, wodurch sich die Beteiligungsquote sukzessive auf gegen 70 Prozent erhöhte. «Niemand sagte mir, ich solle jetzt investieren oder jenes tun oder lassen. Ich hatte meine Ideen und trug diese der Konzernleitung und dem Verwaltungsrat vor», erklärt Akermann.

«Wie in einer Monarchie»
Mit Thomas Schmidheinys Rückzug ins Private schwindet auch dessen Einfluss auf den Konzern. Sechs Fragen an den neuen VR-Präsidenten, Rolf Soiron, der den abgetretenen Zementbaron seit über einem Jahrzehnt geschäftlich und persönlich begleitet.


BILANZ: Wie haben Sie Thomas Schmidheiny in all den Jahren erlebt?


Rolf Soiron: Thomas ist keine antagonisierende Persönlichkeit, im Gegenteil. Er provoziert keine Widersprüche. Im Fall der Swissair hat ihm dies vielleicht sogar geschadet.


Wie lässt sich seine Bedeutung für Holcim beschreiben?


Thomas war ein Firmenchef, der enorm viel auf menschliche Beziehungen gab. Er pflegte dieses Netz rund um die Welt durch alle Hierarchiestufen. Thomas ist einer, der versucht, Brücken zu bauen, Zusammenhalt zu schaffen. Das war natürlich hervorragend innerhalb eines solchen Konzerns.


Mit welchen Auswirkungen auf die Unternehmenskultur?


Es war fast wie in einer Monarchie, in welcher der Monarch das Land und seinen Zusammenhalt verkörpert. Dieser Zusammenhalt, der psychologisch auf einen Namen und einen Menschen konzentriert ist, wird bei Holcim wegfallen. Nicht über Nacht, aber allmählich.


Nimmt der frühere Mehrheitseigentümer weiterhin aktiven Einfluss?


Thomas und ich pflegen nach wie vor ein sehr enges, strukturiertes ommunikationsverhalten.


Wird man sich in ein paar Jahren noch an Schmidheiny erinnern?


Solange Thomas lebt, wird sein Name mit dieser Firma verbunden sein. Er hat heute doch die beste aller Welten und schätzt es, dass ihm jemand den Verwaltungsrat managt. Sei es aus Weisheit oder Instinkt, er hat die entscheidenden Weichenstellungen im Konzern selber eingeleitet, noch bevor äussere Zwänge – Swissair und die Sache in Spanien – hinzukamen.


Ganz freiwillig erfolgte sein Rücktritt doch wohl nicht?


Klar, der letzte Schritt, die Abgabe des VR-Präsidiums, war im Plan ursprünglich so nicht vorgesehen.

Dass die Aktienrückkäufe vorab betriebswirtschaftlicher Logik zu gehorchen hatten, versteht sich dabei quasi von selbst. Nach Abschluss der Expan-sionsphase gegen Mitte der Neunzigerjahre liessen sich die stolzen Gewinne vor Ort kaum mehr sinnvoll verwenden. Bei modernster Ofentechnologie und erheblichen Überkapazitäten in den sechs mexikanischen Werken musste ein neues Outlet für den freien Cashflow gefunden werden.

Einen Ausweg glaubte Akermann zunächst in den Anrainerstaaten im Süden gefunden zu haben. Von 1997 an akquirierte er Zementbeteiligungen in Ländern wie Honduras, El Salvador, Guatemala, Haiti sowie in der Dominikanischen Republik und brachte diese, zusammen mit bereits bestehenden Positionen in Costa Rica und Nicaragua, in eine neu formierte Zentralamerika-Holding ein. An dieser hält Apasco 46 Prozent, während die übrigen 54 Prozent direkt unter dem Holdingdach deponiert wurden.

Mit anderen Worten: Akermann kreierte einen Konzern im Konzern – ein finanztaktisch motiviertes Hilfskonstrukt, das mit der bevorstehenden Absorption des Apasco-Kapitals durch die Schweizer Mutter hinfällig werden dürfte.

Jetzt, da er selbst der oberste Boss ist, kann sich der ausgewiesene Dealmaker schon einmal die Freiheit herausnehmen, öffentlich und ohne imaginäre Zensurschere im Kopf über sein Verhältnis zum langjährigen Mehrheitseigner des Zementmultis, Familienunternehmer Thomas Schmidheiny, zu sprechen: «In Céligny waren wir immer etwas voneinander separiert. Ich habe deshalb eine grosse Unabhängigkeit genossen. Und dafür bin ich ihm dankbar.» Schmidheiny besitze «profundes Branchenwissen», lobt Akermann den nach einer Serie von Fehltritten im Januar 2002 von der Kommandobrücke abgetretenen Zementerben. «Man konnte sich bei ihm gut entwickeln», weiss sein Nachfolger an der operativen Konzernspitze.

In Apaxco, einem staubigen Flecken rund 80 Kilometer nordöstlich der mexikanischen Kapitale, hatte die berufliche Laufbahn von Thomas Schmidheiny, Nachkomme einer der einflussreichsten Industriedynastien der Schweiz, ihren Anfang genommen. Hier, wo die Kalksteinvorkommen reich und die Fabrikschlote hoch und zahlreich sind, verbrachte er während des Ingenieurstudiums an der ETH Zürich verschiedentlich die Semesterferien. Nach dem Diplom kehrte der älteste Sohn von Max Schmidheiny und designierte Lenker der familiären Zementinteressen erneut ins mexikanische Hochland zurück und lernte als technischer Leiter des Werks in Apaxco in den Jahren 1970/71 die Zementherstellung von der Pike auf kennen. Noch heute erinnert man sich im Umkreis der Fabrik – in unmittelbarer Nachbarschaft sind hier mittlerweile auch Cemex und der französische Lafarge-Konzern mit dem Kochen des «grauen Goldes» beschäftigt – an den nachhaltigen Eindruck, den der spätere Holderbank-Boss dort offenbar schon als Mittzwanziger hinterlassen hat. «Er war sehr fleissig, menschlich und bescheiden», gibt José Alvarado (59), ehemaliger Maschinist im Zementwerk, zu Protokoll.

Seit Einführung einer Holcim-Einheitsaktie im vergangenen Jahr, die Thomas Schmidheiny seiner angestammten Stimmrechtsprivilegien beraubte, hat der pannengeschädigte Dynast seine Beteiligung am Konzern von 27,1 Prozent auf 23,6 Prozent des Kapitals reduziert (siehe «Wie in einer Monarchie»).

Vom relativen Bedeutungsverlust des Hauptaktionärs, der allerdings nach wie vor im VR vertreten ist, dürften sich die übrigen Holcim-Aktionäre kaum beirren lassen. Im Gegenteil, denn die bevorstehende Kapitalerhöhung in Höhe von 1,5 Milliarden Franken, über welche die Generalversammlung vom kommenden 14. Mai zu befinden hat, ist mit einer hervorragenden Story unterlegt: Ohne den Konzerngewinn zu verwässern, schafft die Integration der margengewaltigen Zentralamerika-Tochter langfristigen Mehrwert, weil die Ertragskraft auf Konzernstufe dadurch zweifellos steigt.

Im Zuge der Transaktion werden beachtliche Barmittel freigesetzt. So betrug der auf die mexikanischen Drittaktionäre entfallende Cashflow-Anteil im vergangenen Jahr immerhin 85 Millionen Franken – ein jährlich wiederkehrender Budgetposten, den Holcim künftig für die Realisierung ihrer weltweiten Expansionsziele, etwa den Positionsaufbau in den asiatischen Zukunftsmärkten China und Indien, einsetzen kann. «Wenn Apasco einmal voll integriert ist», muss sich denn auch Finanzchef Guillermo Garcia Manrique am Firmensitz in Mexico City eingestehen, «hat Holcim mehr Freiheit, auch global mit den finanziellen Ressourcen zu spielen.»

Der Aktienrückkauf sei «mit zementtypischer Präzision» erfolgt, kommentiert der frühere Sandoz-Manager und professionelle Mehrfachverwaltungsrat Rolf Soiron (59). «So wie das Image von Apasco in Mexiko ist, will sich Holcim in Zukunft weltweit präsentieren: solid, intelligent und vertrauenswürdig», so der Doyen im Aufsichtsgremium des Zementriesen, der das VR-Präsidium im Mai letzten Jahres übernommen hat. Bei einem Material wie Zement von Produktdifferenzierung zu sprechen, klinge zwar etwas verwegen, sagt der promovierte Historiker. Gleichwohl sieht Rolf Soiron genau darin für den Konzern eine gewaltige, fast schon historische Chance. Nur wenn es gelinge, die Präferenzen unterschiedlicher Verbrauchersegmente rechtzeitig zu erkennen und mit differenzierten Angeboten darauf zu reagieren, diktiert er, könne verhindert werden, dass sich Holcim in Richtung eines Rohstofflieferanten mit sinkenden Gewinnmargen bewege. «Um dieser Drohung aktiv entgegenzuwirken, müssen wir lernen, den Weg bis zum Endkunden wie auch dessen Motive besser zu verstehen», sagt der brillante Rhetoriker. «Dies hilft uns, der Commodity-Falle zu entgehen – vielleicht die grösste Falle für einen Konzern wie Holcim.»

Gerade dem mexikanischen Markt mit seinem hohen Anteil an «Sackware», argumentiert Rolf Soiron, komme in dieser Beziehung Modellcharakter zu: «Es ist etwas völlig anderes, zu denen zu gelangen, die vorfabrizierte Teile für den Brückenbau herstellen, als in die Suburbs von Mexico City zu gehen, wo es diese Baumärkte gibt, in denen Private, die jetzt über etwas Kleingeld verfügen, ein paar Säcke kaufen, um ein Mäuerchen um ihr privates Häuschen zu ziehen.» Lässt sich das Tequila-Modell am Ende gar exportieren? Auf dass Holcim dereinst auch in anderen Märkten der so genannt Dritten Welt vergleichbare Traummargen winken?

Fakt ist, dass nicht nur in Mexiko, sondern auch in vielen aufstrebenden Entwicklungsländern Millionen von Familien den dringenden Wunsch verspüren, ihre Wellblech-, Eternit- oder Palmwedelbehausungen gegen ein stabiles Eigenheim mit einem soliden Fundament einzutauschen. Da sie sich aber in den seltensten Fällen gleich ein komplettes Haus leisten könnten, gehen sie schrittweise vor, erwerben – sobald wieder etwas Bargeld verfügbar wird – einen Sack Zement, um das nächste Zimmer anzubauen oder einen Vorplatz zu giessen. Genau dieses Phänomen, sagt der oberste Konzernaufseher und Strategiechef, erkläre, warum Holcim so gerne in den Emerging Markets tätig sei. «Das Entscheidende an der Produktdifferenzierung ist nicht, dass man im Schnitt vielleicht höhere Preise erzielt, sondern das Entscheidende ist, in bestimmten Nischen Reputationsführerschaft zu erwerben, die Kundentreue schafft, die nachher auch in andere Nischen exportiert werden kann.»

Müsste sich Holcim vor diesem Hintergrund nicht schleunigst an Baumärkten, Abholzentralen für den informellen Sektor und Do-it-yourself-Shops für Hobbyhandwerker beteiligen? Führt der von Soiron skizzierte Weg aus der Rohstofffalle konsequenterweise in die vertikale Integration? Es gehe nicht darum, Distributionskanäle und Absatzpunkte zu erwerben, sondern diese vermehrt zu beeinflussen, repliziert Rolf Soiron mit der für ihn typischen Schlagfertigkeit: «Nestlé muss auch nicht den ganzen Weg bis hinunter zum Regal im Warenhaus akquirieren.»

Als vor zweieinhalb Jahren anlässlich eines Kadermeetings in Bangkok erstmals das Konzept eines weltweiten Brands zur Debatte gestellt wurde, witzelt der VR-Präsident, hätten sich noch alle am Kopf gekratzt und gesagt, hört doch auf mit diesem Schwachsinn. Inzwischen sehen das bei Holcim offenbar nicht wenige anders, befassen sich eingehend mit Marketingfragen und überlegen sich, wie die Distributionskanäle bis hin zu den Endverbrauchern von Mörtel, Beton, Kies und Zement besser verstanden und letztlich auch beeinflusst werden könnten. «Das ist ein Riesenthema, eine Art Evangelium, das in den letzten Monaten gepredigt wurde und jetzt – vom CEO über die 950 Kadermitglieder bis hinunter an die Basis – seine Wirkung zu entfalten beginnt, sagt Soiron. «Holderbank war eine völlig dezentrale Organisation, und Holcim soll dies auch heute noch sein. Was wir hingegen vereinheitlichen müssen, ist die Interpretation des Geschäftsgeschehens.»

Dazu gehören eine Reihe von globalen Standards – etwa in Bezug auf IT, Rechnungswesen, Management-Informationssysteme und die Umwelt –, deren konzernweite Durchsetzung auf der Agenda von Markus Akermann derzeit ganz oben steht. Viel Energie verwendet der CEO auch auf Fragen so genannter Good Governance und Corporate Social Responsability, das heisst unter anderem der Implementierung einer einheitlichen Auffassung von fairem Wettbewerb und Geschäftsethik im weitesten Sinn. «Der Konzern präsentiert sich heute anders als vor zwei Jahren», sagt Akermann nicht ohne Stolz. «Bezüglich Corporate Governance haben wir einen gewaltigen Sprung gemacht. Jetzt geht es darum, die erzielten Fortschritte in unserer Organisation bis wirklich tief hinunter zu verankern.»

Mit dem per 1. April 2004 in der Schweiz in Kraft getretenen Antikorruptionsgesetz verfüge der Konzern jetzt auch auf diesem Gebiet über «eine klare Richtlinie», so Akermann. Im Übrigen stelle sich das Problem bei Holcim auch im Ausland bei weitem nicht in dem zuweilen vermuteten Ausmass: «Wir werden kaum je mit Korruption konfrontiert, weil wir ein Baumaterialzulieferer sind und deshalb nicht an öffentlichen Ausschreibungen teilnehmen.» Selbst im Rückblick auf die Phase forcierter Markteroberung in Lateinamerika gibt sein Lehrmeister Max Amstutz Entwarnung: «Ich erachte es als ein Meisterstück unseres lokalen Führungsteams, dass wir die zahlreichen notwendigen Bau- und anderen behördlichen Bewilligungen ohne jede dubiose Honorarzahlung an die Regierungsstellen, wie es damals üblich war, bekommen haben.»

«Es gibt andere Firmen, die glänzen mehr durch rasche und höchst umfangreiche Philosophieerklärungen. Da ist Holcim relativ zurückhaltend», resümiert VR-Obmann Rolf Soiron. «Wenn man aber einmal eine Philosophie als richtig erkannt hat – bei Zementern geht das im Allgemeinen relativ lang –, dann wird diese auch implementiert. Schliesslich handelt es sich um Ingenieure.» Dass man für Projekte in der Dritten Welt zuweilen lokale Berater benötigt, ist in den Augen seines CEO Markus Akermann sonnenklar. Ebenso klar ist für ihn allerdings auch, dass derartige Beratungsleistungen möglichst «eng definiert und schriftlich festgehalten» werden müssen. «Was dahinter passiert, weiss ich nicht und kann ich auch nicht wissen», deklariert der Konzernchef ohne falsche Sentimentalität. Das sei auch gar nicht seine Aufgabe.

Selbst bei einem der momentan grössten und wichtigsten Bauvorhaben in Mexico City, der Errichtung eines neuen Highway-Abschnitts im Süden der Stadt, sei es trotz notorischer Korruptionsanfälligkeit der Mexikaner bisher zu keinerlei Schmiergeldzahlungen gekommen, beteuern nicht zuletzt die Mitarbeiter vor Ort.

Auf einer Länge von zehn Kilometern werden gegenwärtig beidseits der zu errichtenden Schnellstrasse massive, eisenverstärkte Betonpfeiler in den Boden gerammt. Auf diese Stelzen kommen sodann riesige Fertigbetonelemente zu liegen. Für den Guss von Hunderten solcher Tragpfeiler sind gewaltige Mengen der Spezifikation CPO 40R von Apasco gefragt – ein Spezialbeton, der bereits nach 24 Stunden abbindet und einem Druck von bis zu 450 Kilogramm pro Quadratzentimenter standhält: 126 000 Kubikmeter der grauen, schnell zu verarbeitenden Masse, die auf dem mexikanischen Markt sonst keiner anbietet, kann Apasco allein für den aktuell in Bau befindlichen Highway-Abschnitt liefern. Macht 15 750 Lastwagenladungen oder 30 nigelnagelneue, mit dem Holcim-Logo bepinselte Transportbeton-Mischer, die, randvoll mit dem margenträchtigen Baustoff beladen, theoretisch ohne jeglichen Stau und ohne Verzögerung über einen Monat lang ununterbrochen zur Baustelle pendeln würden.

«Unsere Wettbewerbsvorteile sind Zuverlässigkeit und Qualität», äussert der Transportbeton-Chef von Apasco mit breitem Grinsen und schiebt sich den weissen Schutzhelm aus der schweissnassen Stirn. Von freien Verkehrswegen kann Rafael Alducin Peréz bisher nur träumen.