Der alte Mann sitzt im hellen Gewand hinter der Balustrade, eine schneeweisse Kufiya bedeckt den Kopf, sein schütterer Bart ist ergraut, vor ihm sind vier grosse Mikrofone aufgebaut. Mit erhobenem Zeigefinger massregelt er sein Publikum, seine Worte scheppern schrill aus den Lautsprechern in den Saal, die Akustik schmerzt. «Es ist wahr», schreit Prediger Yusuf Al-Qaradawi, «wir können uns die herrlichsten Dinge der Welt kaufen. Unsere Leute können die luxuriösesten Autos kaufen.» Erregt steigert er sich: «Rolls-Royce, Mercedes 500 oder 700, S-Modelle, M oder L – mit allem Luxus!» Dann leise: «Wir besitzen sie, aber wir stellen sie nicht her», sagt er, «wir produzieren keine einzige Schraube dieser Autos.»

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«Wie kommt das?», fragt Al-Qaradawi in seiner Predigt vom April 2005 und erzählt von einer Studie aus einem arabischen Land, die berechnet hat, wie viel Zeit die Staatsangestellten bei der Arbeit verbringen. «Der Durchschnitt betrug 27 Minuten am Tag», ruft er. Und wieder schreit er: «27 Minuten!»

Qaradawi berichtet von einem Erweckungserlebnis aus den siebziger Jahren, als er zum ersten Mal in Deutschland eintraf und sich wunderte, dass er auf den Strassen kaum Menschen erblickte. «Die Leute arbeiten», habe ihn der Chauffeur aufgeklärt. Und schliesslich widmet er sich seinem Hauptgegner: «Wie hat es die zionistische Bande geschafft, uns überlegen zu sein, wo sie doch nur so wenige sind? Durch Wissen! Durch Technologie! Durch Stärke!»

Der 84-jährige Scharia-Gelehrte gilt in der islamischen Welt als Koryphäe. Mit einer Predigtsendung auf dem TV-Sender Al-Jazira erreichte er ein 40-Millionen-Auditorium. Seine Website IslamOnline liefert den Gläubigen die Richtschnur für das Leben. Als Präsident der Internationalen Union muslimischer Gelehrter kommentierte er die Schweizer Abstimmung über das Minarettverbot als sündige Praxis: Die Muslime in der Schweiz sollten ruhig bleiben, aber die Befürworter müssten die «volle Verantwortung» für die Konsequenzen tragen. Al-Qaradawi, promoviert an der Al-Azhar-Universität in Kairo, hat in Katar einen Lehrstuhl für Scharia-Recht aufgebaut, er soll 80 Bücher geschrieben haben. Al-Qaradawi wird in der muslimischen Gelehrtenwelt als Superintellekt gefeiert.

Aber seine Antworten zur Frage der wirtschaftlichen Entwicklung in den islamisch geprägten Ländern sind so einfach wie seine Rhetorik. Mehr als einen Appell an die Faulenzer hat die mächtige Stimme dazu nicht zu verkünden.

Warum verharren die Ökonomien der islamischen Welt in Erstarrung und ertrinken in Korruption? Warum legen sie den Rückwärtsgang ein?

Fortschrittsbremse Koran. Die Religionsgelehrten, allmächtige Agenda-Setter und Lehrmeister, liefern keinen werthaltigen Beitrag zur Ursachenforschung. Die Antwort würde von ihnen eine schmerzvolle Selbstkritik fordern, sie berührt ein grosses Tabu: Es ist vor allem die Religion der schriftgläubigen Koran-Anhänger, die den technologischen Fortschritt bremst. Es ist das archaische, sich seit einigen Jahrzehnten wieder rasant ausbreitende Scharia-Recht, das ein nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum im Orient hemmt. Und es ist das «islamische Banking», das sinnreiche Investitionen blockiert.

Erklärungsversuche für die desaströse Lage der Region gibt es zahlreiche. Der Kolonialismus habe die freie Entfaltung unterdrückt, sagten die Dritt-Welt-Ideologen. Die Juden seien an allem Elend schuld, meinten die Proaraber – als Eindringlinge wie als Herrscher über die Wall Street. Die Geografie benachteilige die Völker, erklärten andere und konnten den Widerspruch nicht auflösen, dass die Holländer ihr Land erfolgreich dem Meer abtrotzten und die Schweiz trotz widriger Lage und ohne Rohstoffe prosperierte. Der teuflische Kapitalismus habe die Menschen fehlgeleitet, sagen die iranischen Gelehrten. Die despotischen Herrscher seien schuld, meinten die Orientalisten. Und neuerdings wird durch den Autor Thilo Sarrazin eine ethnisch-erbbiologische Vulgärdeutung wieder aktuell, die eigentlich schon vor 65 Jahren als erledigt galt. All diesen Erklärungsversuchen ist gemeinsam, dass sie das entscheidende, lebensprägende Element der islamischen Welt ignorieren – den Koran.

«Dieses Buch – es ist vollkommen, nichts ist zu bezweifeln – ist eine Richtschnur für die Frommen», steht sogleich am Anfang der Schrift, die als wörtliche Offenbarung Allahs betrachtet und als unfehlbares Zeugnis Gottes verherrlicht wird. Wer dürfte Gottes Wort verändern oder anzweifeln?

Im Koran ist alles gesagt. «Es steht geschrieben», antworten Gläubige gerne auf ein alltägliches Missgeschick – ein Fatalismus, der jedes Streben nach wirtschaftlichem Erfolg ausbremst.

«Dem Islam fehlt die Fähigkeit, sich zu verändern», sagt der französische Theologe Jean-Claude Barreau. Der Koran sei «ein archaisches Buch, das sich mit den archaischsten und langweiligsten Texten der Bibel auf eine Stufe stellen lässt», schrieb Barreau. «Die kulturelle Rückständigkeit des Islam, seine Primitivität», sagt der französische Philosoph, «wird durch die Unbeweglichkeit der muslimischen Theologie noch unterstrichen.»

Unfehlbar, universal und weltgültig erscheint der Islam. Seine Anhänger glauben nicht nur an ihren Gott, wie die Gläubigen anderer Weltreligionen im Sinn eines freien Glaubensaktes. Die Muslime bekennen sich zu der Vorschrift, dass «Gott ist». Ihr Glaube ist eine Handlung der Unterwerfung unter die Offenbarung.Islam heisst in der wörtlichen Übersetzung: Unterwerfung unter Gott.

Der Koran galt als so vollkommen, dass jede weitere Literatur mit Verachtung betrachtet wurde: Ein zweites Buch könnte Gottes Offenbarung in Zweifel ziehen. So wurde die mündliche Überlieferung der Rechtsgrundsätze verherrlicht, die Gedächtnisleistung eines Gelehrten bewundert, aber jede Niederschrift verachtet.

Die Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg löste in der Welt der Christenheit eine geistige Revolution aus, die Erhebung des Wissens. Der Buchdruck verbreitete sich rasant. Bereits im Jahr 1453, 50 Jahre nach dem Fall Konstantinopels, existierten acht Millionen gedruckte Bücher. Die Wissensgesellschaft war geboren. Die industrielle Druckkunst beflügelte Luthers Aufbegehren gegen die reaktionäre Papstkirche, seine Reformationsidee wiederum bescherte der westlichen Welt eine gewaltige Druckkonjunktur. Das Wissen der Antike wurde gespeichert, die öffentliche Meinung hatte einen industriellen Treiber, Rede und Gegenrede wurden zum etablierten Diskurs, die Aufklärung hatte eine starke Waffe. Wissen wurde öffentlich.

Teufelswerk Druck. Wie reagierte die islamische Welt auf diese Revolution? Die Rechtsgelehrten stemmten sich gegen das Teufelswerk, das wohl – zu Recht – als potenzielles Werkzeug der Ketzerei betrachtet wurde. Nach der Einführung der Druckerpresse in Europa dauerte es volle 300 Jahre, bis sie auch im Orient ankam. Diesem Umstand schrieb der atheistische türkische Staatsgründer Kemal Atatürk 1925 das grosse Scheitern zu. Seine Botschaft: Seit dem 15.  Jahrhundert läuft die Entwicklung von Okzident und Orient auseinander. Für David Landes, den grossen Historiker der Weltwirtschaftsgeschichte, war die Ablehnung der Druckerpresse «der grösste Fehler des Islam». Landes erkannte in seinem Standardwerk über «Wohlstand und Armut der Nationen» diese Wegscheide der Entwicklung: «Das Übel war im religiösen Dogma begründet», schrieb der Harvard-Professor, «nichts hat mehr dazu beigetragen, die Muslime vom Hauptstrom des Wissens abzuschneiden.»

«Versiegelte Zeit», so nennt der Religionswissenschaftler Dan Diner sein tiefgründiges Werk über dieses Versagen der Entwicklung. Die Folge: Die Säkularisierung blieb aus – bis heute. Das Sakrale bleibt allgegenwärtig und blockiert jene Entwicklung, die den Westen in die Moderne geführt hat.

Was übrig blieb und fortlebte, war eine infantile Weltsicht. So beschreibt der tunesisch-französische Schriftsteller Abdelwahab Meddeb das religiöse Schrifttum, das unter der selbst gewählten intellektuellen Beschränktheit entstand. Zum Beispiel die Werke von Mohammed Ibn Abd Al-Wahhab aus dem 18.  Jahrhundert, dem Begründer des Wahhabismus, der saudischen Staatsideologie. «Ein Schreiber, der nicht einen Funken Originalität besitzt», urteilt Meddeb, «man wagt ihm nicht einmal den Status eines Denkers zuzusprechen», er sei mittelmässig und unredlich. Und über Scheich Tahtawi, einen wichtigen Islam-Gelehrten des 19.  Jahrhunderts, schreibt er: «Weder gelingt es ihm, Konfusion zu vermeiden, noch, die einzelnen Schriften in eine Rangfolge zu bringen, er unterscheidet nicht zwischen grundlegenden und verzichtbaren Werken. Er durchschaut nicht die Ordnung der Texte.» Tahtawi hatte gar keine Chance zu verstehen. Er bezog sein Wissen nur aus Enzyklopädien, und dies auch nur, weil er fünf Jahre lang in Paris lebte.

Getrübtes Selbstbild. 2002 veröffentlichte die Uno-Entwicklungsorganisation UNDP erstmalig ihren Arab Human Development Report. Um Ressentiments wegen westlicher Belehrungen zu begegnen, sassen im Autorenteam ausschliesslich Araber und Muslime. Ihr Bericht kam dennoch zu beklemmenden Ergebnissen, die das Selbstbild der Araber als Kinder einer Hochkultur trübte, die sich gerne als «Erfinder» der Algebra betrachten, obwohl diese tatsächlich Jahrhunderte vor ihrer Verfeinerung durch Araber in Indien entwickelt worden ist. Die Autoren beklagten nicht nur das Fehlen politischer Freiheiten, sondern auch das Versäumnis, die weibliche Hälfte der Gesellschaft ins Wirtschaftsleben zu integrieren. Sie entdeckten rundum eine «mangelnde Unterweisung in angemessene Fertigkeiten des Lesens und Schreibens, um dem modernen Umgang mit Wissen zu genügen».

Wissen wird in der Region immer noch in archaischer Form verbreitet. Wie im Koran, dessen Kapitel, Suren genannt, frei jeder Systematik, ohne Erzählstruktur und Dramaturgie verfasst sind und nicht einer logischen Gliederung folgen, sondern ganz simpel nach ihrer Textlänge sortiert sind. Wie in den Predigten und Schriften von Yusuf Al-Qaradawi, der jenseits einer erkennbaren dogmatischen Logik den Selbstmordterror der palästinensischen Hamas als heilige Märtyrertaten preist, während er den Al-Kaida-Terror gegen die Amerikaner ablehnt.

Die Wissensfeindlichkeit ist messbar: In den siebziger Jahren übersetzte die gesamte arabische Welt nur ein Fünftel so viele Bücher wie das kleine Griechenland. In den achtziger Jahren wurden, auf eine Million Menschen gerechnet, innerhalb von fünf Jahren nur 4,4 Bücher übersetzt. In Ungarn waren es 519, in Spanien 920. Derzeit fallen laut Buchmarktstatistiken der Frankfurter Buchmesse auf den arabischen Raum nur 0,4 Prozent der Lizenzvergaben deutschsprachiger Titel.

Auch die eigene Wissensproduktion ist gering. Während die USA im Jahr 1991 mehr als 100  000 Neuerscheinungen herausbrachten, kam der arabische Buchmarkt mit 6500 Editionen aus. Beispiel Tunesien: 10 Millionen Einwohner, 26,8 Prozent Analphabeten. 2003 wurden 1383 Bücher produziert, der Löwenanteil davon waren Kinder- und Schulbücher. Zwischen 2004 und 2008 wurde kein einziger deutschsprachiger Titel in Lizenz übersetzt. In der marokkanischen Nationalbibliografie wurden zwischen 2007 und 2009 nur 172 neue Titel angezeigt. In Jordanien existieren nur unzuverlässige Statistiken über die Buchwelt. In Ägypten wurden 2008 vier deutschsprachige Bücher in Lizenz übersetzt. Die Buchimporte sanken. Selbst religiöse Literatur, die den Löwenanteil der Produktion ausmacht, ist nicht systematisch verfügbar. In der Bibliothek der Universität von Katar, der Hochschule des Gelehrten Al-Qaradawi, kann nur ein einziges seiner Werke ausgeliehen werden.

«Es gibt keine Hoffnung», sagt der Entwicklungsexperte Abdul Aziz Al-Muqaleh, «wo der Analphabetismus nahezu jeden ernsthaften Versuch zerstört, aus dem Tunnel der Entfremdung von der modernen Epoche zu entkommen.»

2004 ging der Bericht zur Arabischen Entwicklung des UNDP der Frage nach, ob das Selbstbild der Araber als Kernland der Rechenkunst zutrifft. Ergebnis: Die mathematische Kompetenz der Studierenden in neun arabischen Ländern erreichte nur 392 Punkte gegenüber dem Durchschnitt von 467 im internationalen Vergleich.

2009 veröffentlichten Forscher, finanziert von einer Stiftung des Regenten von Dubai, den «Arabischen Wissensbericht» – wieder mit einem rein arabischen Autorenteam. Sie stellten fest, dass die «intellektuelle Trägheit» das kulturelle Leben dominiere. Die Gesellschaften seien von eindimensionalen Sichtweisen geprägt, sie würden sich dem Wandel, der Kreativität und der Innovation versagen. Unter den Gläubigen seien «bornierte Interpretationen weit verbreitet». Die Situation verschlimmere sich sogar. Nach wie vor könne ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung weder lesen noch schreiben: «60 Millionen Analphabeten in den arabischen Ländern.» Weniger als 55 Prozent besuchten Sekundarschulen, im Vergleich zu 84 Prozent in Zentralasien. Im Irak seien während des Bürgerkrieges zwischen Sunniten und Schiiten mehr als 3000 Akademiker emigriert. Mehr als 830 Akademiker seien getötet worden – ein Krieg gegen die Intelligenz.

Deindustrialisierung. Weitere Berichte beschäftigten sich mit den politischen Freiheiten («finster»), der Armut («extrem»), der Unfähigkeit, sauberes Wasser zu erzeugen («belastet»), der Wüstenbildung («fortschreitend»), der Bevölkerungsentwicklung («385 Millionen in 2015») oder der Einstellung der ägyptischen Jugend zur Religion («überwältigende religiöse Empfindungen»). Das Fazit: «Insgesamt waren die arabischen Länder 2007 weniger industrialisiert als 1970. Der Ölreichtum zeichnet ein irreführendes Bild der Lage.» Im März 2009 urteilte ein Forschungsbericht der Arabischen Liga: «Die Region hat weder die Chancen genutzt, die sich aus den Ölerträgen ergaben, noch hat sie es besser als andere Entwicklungsländer vermocht, zu den reichen Nationen aufzuschliessen.»

Auch Al-Qaradawis Wahrnehmung ist nun wissenschaftlich bestätigt. Der Zustand der arabischen Arbeitsethik sei «bedrückend», resümierte der libanesische Forscher Yusuf Sidani seine Analysen. Und sein Kollege Abbas J. Ali von der Universität in Pennsylvania entdeckte seit den achtziger Jahren trotz hohen Investitionen «keine Fortschritte» bei der Entwicklung des Talentmanagements.

Alle Studien stimmen überein: Im arabischen Kernland, der Wiege des Islam, sind die Entwicklungshemmnisse am deutlichsten erkennbar. Religionsforscher Diner macht dafür die «Versiegelung der arabischen Sprache» als sakrale Sprache des Korans mitverantwortlich. Denn die «erleuchtete Schrift» wurde nach islamischer Auffassung als göttliche Botschaft auf Arabisch empfangen. Die Verbindung des Islam zur Sprache der Offenbarung gilt daher als unzerstörbar.

Die missionierten Länder der islamischen Zone wiederum, lange Zeit von den Arabern verachtet, mussten die Schrift ebenfalls auf Arabisch studieren. Übersetzungen in ihre «gottlosen Sprachen» wurden unterbunden. Sie hatten somit das Hocharabische als sakrale und die eigene Sprache als säkulare Schrift. Das schaffte Freiräume für das Weltliche und somit eine gewisse Chance zur Entwicklung. So entfaltete sich die Türkei zunächst unter der laizistischen Modernisierungsdiktatur Atatürks, der die Religion aus dem politischen Leben verbannte und sogar lateinische Schriftzeichen für das Türkische einführte. Persien entfachte unter dem Schah ähnliche Kräfte. Viele Türken und Perser der älteren Generation haben in ihrer Jugendzeit den Koran gar nicht gelesen. Und dort, wo europäische Kolonialmächte nachhaltig prägend wirkten, wie in Indonesien und Malaysia, sind die Gesellschaften heute noch beweglicher.

Die Islamisierung in den ausserarabischen Missionsgebieten nahm erst wirklich Fahrt auf, nachdem Ayatollah Khomeiny, der sich nie für Ökonomisches interessierte, 1979 in Teheran eingezogen war. Parallel mit dem Koran verbreitete sich seitdem auch das archaische Konzept der Scharia, das aus dem 7.  Jahrhundert stammt. Diese zweite Säule des Islam verbreitet sich durch den missionarischen Feldzug von «Islamic Banking» oder «Islamic Finance» rasant im Wirtschaftsleben. Mit gewaltigen Summen der saudischen Entwicklungsbank IDB begannen in den siebziger Jahren die Scharia-Lobbyisten, das Bankwesen umzukrempeln.

Scharia-Recht ist heute gültiges Landesrecht in Saudi-Arabien, Iran, Sudan, und auch die afghanischen Taliban operieren unter diesem Recht. Ein Recht, das der Islam-Experte Bassam Tibi «in der Bedeutung von Recht» rundweg ablehnt. «Ich riskiere hierfür mein Leben», sagt der Muslim. Er ist damit nach den Rechtsgutachten führender Gelehrter, den sogenannten Fatwas, ein Apostat, für den die Todesstrafe gilt. Für ihn ist Scharia nichts weiter als ein System aus Täuschung und Selbsttäuschung: «eine islamische Eigenart, an Normen und Werte zu glauben, ohne sich daran zu halten».

Aber wie kommt es, dass Finanzkonzerne wie HSBC oder Credit Suisse und Traditionshäuser wie Sarasin einen Teil ihrer Produktpalette unter Scharia-Recht stellen, ihre Institute als trojanische Pferde zur Islamisierung missbrauchen lassen?

Sie glauben offenbar daran, dass es sich hier um eine moderne Prägung der Religionsausübung handelt, wie ihnen an den Konferenzen über Islamic Banking vorgegaukelt wird. Hier treten die Vorkämpfer der Idee nämlich sehr smart auf. Sie verkünden zur Not den Ungläubigen nicht immer die ganze Wahrheit, denn die Notlüge ist ihnen in Glaubensfragen nach islamischer Lehre ausdrücklich erlaubt. Unmissverständlich formulierte der frühere malaysische Premier, Mohamed Mahathir, das Ziel, als er islamisches Banking zum politischen Programm erhob: Es gehe um den Jihad – den heiligen Krieg.

Was das Kopftuch für die Strasse bedeutet, ist das Islamic Banking für die Finanzwelt. Richtschnur ist wieder der Koran in seiner Widersprüchlichkeit. Vers 275 in Sure 2 lautet: «Jene, die Wucherzins verschlingen, stehen nicht anders auf, als einer aufsteht, den der Satan mit Wahnsinn geschlagen hat.» Die gängige Interpretation: Wer Zins, «Riba» in der Sprache des Korans, gewährt oder Zins zahlt, kommt in die Hölle. Aber beschreibt «Riba» den Zins oder nur den Wucher? Vers 131 der dritten Sure befiehlt: «Oh Gläubige, greift nicht so gierig nach dem Wucher mit allen seinen Verdopplungen.»

Islam-Experte Tim Kuran von der Princeton University klärt auf: «Was der Koran verbietet, ist die vorislamische Institution der Riba, nach der ein Kreditgeber seinen Einsatz verdoppelte, wenn sein Schuldner in Verzug geriet, und nach jedem weiteren Verzug die Schuld verdoppelte.» Daher also das Wort von der Verdopplung im Koranvers. Kuran beschreibt das Konzept der Islamischen Ökonomie als «nostalgische Flucht», sie wende altertümliche Lösungen für gegenwärtige Probleme an. «Wir müssen verstehen, dass die Wirtschaft des 7.  Jahrhunderts auf der Arabischen Halbinsel äusserst primitiv war», sagt Kuran. Entsprechend wird das Konzept umgesetzt (siehe «Die mächtigen Männer des Islam-Banking»).

Einfache Lösungen sehen so aus, dass die Bank dem Kunden die zu finanzierende Ware für eine virtuelle Sekunde ankauft, ihm die Ware umgehend mit einer Rechnung zu einem überhöhten Preis überlässt, den der Kunde zu einem festgelegten Zeitpunkt zu bezahlen hat. Die virtuelle Sekunde legitimiert die Transaktion und manchmal ein anderes Wort für den Zins, zum Beispiel «Gebühr» oder «Aufschlag». In den Augen von Kuran geht es um «semantische Differenzen». Ökonomisch seien das herkömmliche Zinsgeschäfte. Die Verlierer des Systems sind die Kunden, denn sie zahlen in der Regel höhere «Gebühren». Von den Islam-Bankern werden immer komplexere Varianten ersonnen, um das angebliche Zinsverbot zu umgehen. Islamic Banking ist eine Marketingmaschine geworden, die den Geldhäusern höchste Profite abwirft – daher auch das Interesse der westlichen Banken. Auch Al-Qaradawi ist im Islamic-Banking-Geschäft dabei, als Berater von islamischen Instituten in Katar und Bahrain.

Doch die strenge Regel gilt nur, wenn es gefällt. Weder in Dubai, wo das System 1975 eingeführt wurde, noch in Iran betrieben die Banken tatsächlich nennenswerte Investments regelkonform, schreibt Kuran. Und in Pakistan hielten selbst die Staatsbanken laut offiziellen Berichten nur zu 14 Prozent Schariakonforme Vermögenswerte.

«Wir müssen studieren, wie die modernen Gesellschaften funktionieren, bevor wir versuchen, sie umzugestalten» schrieb Tim Kuran. «Die islamische Doktrin ist gescheitert.» Das war 1983. Er hat recht behalten. Scharia-konforme Investments reagierten genauso anfällig wie westliche Papiere. Der Dow Jones Islamic Market Index verlor 2009 gut die Hälfte seines Wertes. Die arabische Region hat in der Finanzkrise einen Gesamtschaden von 2,5 Billionen Dollar erlitten.

Glücksspiel als Business. Dubai, das Aushängeschild des neuen arabischen Booms, ist faktisch bankrott. Der Absturz war absehbar, frappierend war dessen Rasanz. Innert Wochen krachte das Geschäft zusammen, waren die Staatssäckel leer. «Die Planer müssen nun realisieren», sagt der Dubai-Kenner Christopher Davidson, «dass sie nie hätten erlauben dürfen, dass Immobilien, Luxustourismus und Bauindustrie zu den zentralen Säulen der Industrie wurden. Dubai hat keinen Plan B, es spielte nie mehr als ein gigantisches Glücksspiel», sagt Davidson, der Aufbau einer Wissensökonomie sei versäumt worden.

Wieder eine verpasste Chance. Für die reichen jungen Männer des Golfstaates hat sich dennoch nicht viel verändert. Sie schlendern tagsüber durch Shopping Malls, sitzen in Cafés und chauffieren ihre Luxuskarossen. Und schauen devot die Freitagspredigt von Yusuf Al-Qaradawi, dem grossen Prediger. Via Qatar TV auf einem 72-Zoll-3-D-Super-FullHD-Plasma-Screen.